.Sv'
■-^:tm£^'
>^-
.'^j ^^.M^^f'^.
^i^Kv:-^ ^->:
-TV.
^'^^i
Ciirsiis der Philosophie
als streng wissenschaftlicher
Weltanschauung und Lebensgestaltung.
Von
Dr. E. Dühring,
Doc«nten der Philosophie und der Staatswissenschafteu an der Berliner Universität.
Leipzig.
Ericli Koschny
(L. Heimann's Verlag).
1875.
^b
^^
%
Vorrede
Uas vorliegende Werk ist eine Darstellung des Ganzen der Philo-
sophie in derjenigen Gestalt , welche dieselbe in meinem System
angenommen hat. In Verbindung mit meiner Geschichte der Philo-
sophie stellt es einen nicht blos systematisch, sondern auch historisch
und kritisch abgegrenzten Gedankenkreis der Weltauffassung und
Lebensgestaltung vor. Wie es sich zu meinen andern Arbeiten ver-
halte, und wie es zu studiren sei, ist am Schlüsse auseinandergesetzt
worden.
Die Logik und Wissenschaftstheorie in ausfuhr lieber Darstellung
zu geben, ist nicht die Sache eines Gesammtcursus der Philosophie.
Ja es lässt sich behaupten, dass die wissenschaftstheoretischen Lehren
ein Gebiet bilden, welches in seinen subtileren Theilen vornehmlich
für das Studium der Specialwissenschaften fruchtbar wird und in
diesen Richtungen für Niemand gehörig brauchbar ist, der den spe-
cialistisch verzweigten Lehren der logischen Theorien nicht in das
Detail der besondern Einzelwissenschaften zu folgen vermag. Ein
besonderes Werk über Logik und Wissenschaftstheorie hat daher die
Interessen der eigentlichen Wissenschaft und Forschung in eingehen-
der Weise zu berücksichtigen. Es hat bei einem Theil seiner Leser
Bedürfnisse zu befriedigen, die über den Kreis der allgemeinen
Theilnahme an der Philosophie hinausliegen, und wird demgemäss
in meiner Schriftengruppe eine völlig selbständige Veröffentlichung
ausmachen.
— IV —
Mein Cursus wendet sich an Leser und Studirende, welche einer
thatkräftigen Idealität fähig sind und die sich auf dem lauten Markt
breitmachende Frivolität von sich weisen. Er setzt im Wissen das
Bedürfniss nach Gründlichlceit und Tiefe, im Wollen aber die Be-
reitschaft voraus, jede Anwandlung von Blasirtheit energisch zu
bekämpfen. Mit dem Dienste der Fäulniss und mit dem sich in
ihrem Reich ergelienden Kleinmuth* der Weltverzweifelung und dazu
gepaarten Uebermuth der Brutalität hat er nichts gemein. Sein
Ausblick ist auf das frische Leben und auf die Mächte gerichtet,
welche jugendkräftig die ferneren Schicksale der Menschheit gestalten
und mit dem Absterben des alten geistigen Regime auch schon die
einstige Reife einer edleren Ordnung ankündigen.
Berlin, im Januar 1875.
Dühring.
Inhalt.
Einleitung.
I. Bedeutung der Philosophie.
Seite
Tieferer Sinn der Frage: Was ist Philosophie? Erläuterung der Ant-
wort: Philosophie ist die höchste Form des Bewusstseins Yon Welt und
Leben. Allgemeine Bedeutung des Bewusstseins trotz seiner mensch-
lichen Specification. Verhaltniss von Gesinnung und Wissenschaft als
von Elementen der Philosophie. Wirksamkeit der Gesinnung in der Her-
vorbringung von entsprechenden Formen der Lebensgemeinschaft. Wissen-
schaft und Verstand als das letzte weltgeschichtliche Mittel. Höchste
Form des Bewusstseins und entsprechende Autoritätsfreiheit 1
II. Bestandtheile und natürliolies System.
Besonderer Sinn, in welchem in der Philosophie .die Principien des
Wissens und Wollens verstanden werden. Verzweigung der Philosophie
in besondere Lehren. Die sich an das Herkommen anschliessenden Ab-
theilungen. Doppelte Rolle der logischen Elemente. Die Metaphysik als
Weltschematik. Auswahl des philosophischen Stoffs für einen einheitlich
zusammenhängenden Cürsus. Wirklichkeitsphilosophie Natürliche Grup-
pirung^ 8
Erster Abschnitt.
Grundgestalten des Seins.
Erstes Capitel. Elementarbegriffe der Weltauffassung.
1. Einzigkeit des Seins. • Ableitung dieser Einzigkeit aus dem Einheits-
punkt jeglichen Denkens. 2. Grundgestalt, in welcher eine Unendlich-
keit möglich ist. Ausschliessung falscher Unendlichkeitsideen. Andeu-
tung der Ungleichartigkeiten in dem universellen Seinsbegriff. 0. Beharrung
und Veränderung als zusammengehörige Elemente des Seins. Keine Ver-
änderung ohne ein zu Grunde liegendes Beharrliehe. 4. Neue Elemente
im Zusammenhang der Dinge. Schöpfung als Häufung von Veränderun-
gen. Volle Realität der Veränderungen. Das sich selbst Gleiche schliesst
die Veränderungen nicht aus sondern ein. 5. Allgemeines und Besonderes,
Gattungen und Arten. Wesen und Veränderlichkeit der Artgebilde.
Charakter der Entwicklung. Ursachen nur als Gründe der Veränderungen
denkbar. Ruhende Gattungen und Allgemeinheiten der Abfolge. 6. Grösse,
und Bedeutung des Grössenbegriffs für die Gattungen des Seins. Zeit-
grösse. 7. Art und Weise, den Verlauf der Weltentwicklung in der Rich-
tung auf die Zukunft exact vorzustellen 16
Zweites Capitel. Logische Eigenschaften des Seins. I.Sinn
einer Innern Logik der Dinge. Realer Ausschluss des Widerspruchs.
— VI —
Seite
2. Unterscneidung vom Antagonismus der Kräfte. Frage nach dem letz-
tern als einer Grundform des Verhaltens der Weltelemente 3. Durch-
gängige Begründung im Sein und verwandte Vorstellungen. Ausnahms-
lose Gesetzmässigkeit der Vorgänge. Absolute Nothweudigkeit. Vor-
urtheile der früheren Metaphysik. 4. Kennzeichnung der nicht abgeleiteten
Nothwendigkeit. Verhältniss zur Identität und Causalität. Natürliche
Grenzen der Fragen nach dem Warum. 5. Systemnatur des Seins . . 29
Drittes Capitel. Verhältnisse zum Denken. 1. Souveraine
Bedeutung des Verstandes in der Erfassung der Wirklichkeit. Mögliche
Absonderung des rein ideellen Denkens nach Art der Mathematik. Ein
einfaches Mittel, die autonome Geltung der formalen Logik sichtbar zu
machen. ?. Verständniss der normalen Functionen der Phantasie aus der
mathematischen Imagination. 3. Phantasie und Wirklichkeit in ihrer Ent-
fremdung und in ihrer Ueberein Stimmung. Wissenschaftliche rationelle
Phantasie. Rolle der idealen Anticipatiön. 4. Elemente des Denkens und
Elemente des Seins. Entsprechende Vollständigkeit der Composition in
den subjectiven Mitteln der Auffassung. Rückschluss von dem Verhalten
der Natur in der Hervorbringung des Denkens und namentlich der Phan-
tasie auf den objectiven CharaKter der Dinge. 5. Das ausschliesslich
Menschliche und das Allgemeingültige in den leitenden Begriffen. Kritik
der Finalität. Unentbehrlichkeit der subjectiven Analogien zum Verständ-
niss der Welt • 41
Zweiter Abschnitt.
Principien des Naturwissens.
Erstes Capitel. Ausgangspunkte. 1. Die gegenwärtige Situa-
tion der sogenannten Naturphilosophie, Augenblickliche Einmischung
der Specialisten. Unzulänglichkeiten des rein Positivistischen jeder Art.
Gefährdung der souverainen Wissenschaft durch den Mysticismus. 2. Be-
griff der Natur. x\bweg in der Fassung desselben. Leitfaden der Ma-
terialität. 3. Die mathematischen und die empirischen Kategorien der
Naturauffassung. Das Gesetz der bestimmten Anzahl und die aus* ihm
folgende Naturansicht. 4. Eigenschaften des Räumlichen. Geometrischer
My.sticismus bei Mathematikern. Falsche Seite der Idealitätslehre, n. Na-
turvorstellung mit Rücksicht auf die Eigenschaften der Zeit. Die Bewe-
gung als blosses Anschauungsbild. 6. Materie und mechanische Kraft . 56
Zweites Capitel. Grundgesetze des Universums. 1. Wesen
des Naturgesetzes. Zwei Classen: Beharrungsgesetze und Entwicklungs-
gesetze. Die wiederholten und die einmaligen Entwicklungen. Zu-
spitzung der Frage nach den Gesetzen des Uebergangs zum Nichtiden-
tischen. 2. Ursprungszustand des Universums als unabweisliche Frage.
Verhältniss dieser Fra-^e zu der Unveräjiderlichkeit der Grösse des Vor-
raths an Materie und mechanischer Kraft. Antagonismus als Grund-
schema der Mechanik des Universums. 3. Vergleichuug unseres Bildes
vom Universum mit demjenigen, welches nach den wüsten ünendlich-
keitsvorstellungen imaginirt wird. 4. Ursprünglicher Zerstreuungszustand
der Materie. Kritisch möglicher Sinn dieser Vorstellung 5. Bisherige
Unzulänglichkeit der Entwicklung der mechanischen Wärmetheorie und
hieraus folgende Minderung ihrer jetzigen Tragweite für die kosmogo-
nische Mechanik. Beispiel aer meclianisQhön Ersetzung der Sonnenwärme
als Ausgangspunkt, ß. UnvoUkomnienheit der kosmischen Entwicklungs-
vorstellungen. Entschädigung durch die Einsicht, welche das VorurtUeil
des Katastrophismus wegräumt. Charakter der Zukunftsvorstellungen.
7. Einheit der chemischen Woltconipo.sition. Ursprüuglichkeit der che-
mischen Elemente. Frage nach der Stufenleiter der physikalischen Kraft-
formen. Charakter und Tragweite der Gravitation. Aussichten bezüglich
der Erkenntniss der printipiellen Rolle der Wärme 76
VII
Seite
Drittes Capitel. Organische Entwicklungsgesetze. 1. Ent-
wicklungs- und Fortsclirittstheorie. 2. Begriff des Fortschritts. Voll-
kommenlieit und Zweck. Das Leben als Wirkung der kosmischen Cau-
salität. 3. Voraussetzung des Lebens auf andern Weltkörpern. Zeitliche
Bestimmtheit in der Entstehung der Empfindung. Bedeutung der abso-
luten Zeitgrössen für alle Entwicklungsgesetze. 4. Beschränktheiten der
Descenden^ztheorie. Falscher Schluss auf die Abstammung von einem
einzigen Individuum. 5. Unklarheit der Vorstellungen von Metamorphose.
Ersefzung derselben durch den Gedanken der Composition aus ursprüng-
lichen Elementen. 6. Lamarcks Princip der Abänderlichkeit der Arten.
Darwins einseitige Fixirung der Idee auf die geschlechtliche Combination.
Echte Brutalität der Kampftheorie. 7. Vermeintliche Vervollkommnung
durch den Kampf um das Dasein. Die wirklichen Chancen eines vor-
herrschenden Raubkampfes. Einüuss einer passiven Rolle der Weiber.
8. Häufung und Fixirung von Eigenschaften durch Vererbung. Frage
nach der Vernicbtung von Formeigenthümlichkeiten durch die geschlecht-
liche Combination und nach dem schöpferisch verändernden Element in
der Saamen- und Eibildung. Falsche Rolle der sogenannten Instincte
und Ausmerzung dieser nebelhaften Vorstellung. 9. Gefahr, mit der so-
genannten EntwTcklung^heorie in völlig unwissenschaftliche Vorstellungen
za gerathen. Exacter Sinn ihrer Zulässigkeit . 100
Dritter Abschnitt.
Elemente des Bewusstseins.
Erstes Capitel. Empfindung und Sinne. 1. Vereinzelung
des Bewusstseins. Chimäre eines Universalbewusstseins. 2. Doppelte
Causalität, nämlich in den Productionsfactoren der verschiedenen Bewusst-
sein, und Verkehr der letzteren durch Sinne am Leitfaden der Materialität.
Spiritistische Verzerrung einer sogenannten Psychologie. 3. Nothwendig-
keit einer echten Bewusstseinslehre im Gegensatz zu einer blossen Phy-
siologie der Organe. Thatsächliche Bornirtheit der eigentlichen Psycho-
logen. Die Bewusstseinslehre als Hülfswissenschaft für reale und prak-
tische Probleme, nicht aber als beschränkte und eitle Spielerei der Selbst-
bespiegelung. 4. Objective Bedeutung aller Empfindung und kosmische
Uebereinstimmung der einfachen Empfindungselemente. Antagonismus
und Widerstandsempfindung. 5. Empfindung im Unterschiede vom
empfindungslosen Leben Nächster Gegenstand des Empfindens. Wen-
dung nach Aussen auch schon in den chemischen Sinnen vorhanden.
6. Empfindung und Vorstellung. Das Verstandesmässige ist in dem un-
willkürlichen Vorstellungsact in keinem andern Sinne vorhanden, als in
der Empfindung. Fälschuno- der Theorie der Sinneswahrnehmung durch
den Idolismus. 7. Einheitliches Grundgerüst im System der Sinne. Wahr-
nehmung des mechanischen Widerstandes als durchgängiges Schema nach
Analogie des Tastens und einer Art von Kraftsinn. 8. Nothwendigkeit
und Emzigkeit in der Art, die realen Vorgänge durch subjective Elemente
auszudrücken. Uebereinstimmung in den Bestandtheilen aller wirklichen
oder möglichen Innerlichkeit subjectiver Existenzen 128
Zweites Capitel. Triebe und Leidenschaften. 1. Trieb-
förmige Nothwendigkeiten. Der bewusstlose Mechanismus als Grundlage.
Vermittlung von Thätigkeiten durch die Triebempfindung. 2. Aufklärung
des nebelhaften Instinctbegriffs in seiner Anwendung auf den Menschen.
3. Die Triebempfindung als Selbstzweck und erst in zweiter Linie als
Mittel. 4. Indirecte Beschaffenheit des Merkmals natürlicher Functionen,
an welchen die Normahtät der Triebe und speciell der Geschlechts -
erre^ungen gemessen wird. Höherer Standpunkt. 5. Tragweite der durch
die fundamentalsten Triebe gegebenen Anzeigen. 6. Veredlung der Trieb-
empfindungen und Ursprung der maassgebenden Ideale dieses Gebiets.
- Vlll -
Seite
Systematik der Natur in den Triebanlagen und Fortführung ihrer Ten-
denzen durch die Cultur. 7. Gruppirung der Leidenschaften. Auferlegte
Gesetzmässigkeit. Fälschlich gebrandmarkte Erregungen. 8. Functionen
der Natur in Affecten wie Kache, Eifersucht- und Neid 9. Wichtige
Beispiele zur Kennzeichnung einzelner Affectformen Universelle Gestal-
tung der Gemüthsbewegungen 151
Drittes Capitel. Verstand und Vernunft. 1. Allgemeine
Kennzeichnung. 2. Verstand und Ideenassociation. 3. Verstandesstörun^en
und Vorbedingungen der Normalität. Stellung der Phantasie. 4. Wille
und sogenannte psychologische Freiheit. 5. Die Sprache ein Mitthei-
lungswerkzeug, nicht aber eine Vorbedingung des Denkens 178
/ Vierter Abschnitt.
\ ^ l/t^^^ Sitte, Gerechtigkeit und edlere Menschlichkeit.
Erstes Capitel. Grundgesetze der Moral. 1. Weitester Sinn
der Moral. 2. Tragweite ihrer Principien. 3. Ableitbarkeit der lÖtoral
aus dem Wollen. Bedeutung des natürlichen Charakters. 4. Das Sollen
als ein Verhältniss zweier Willen und zwar als Rückwirkung einer Ver-
letzung. 5. Verhalten gegen die Bestie im Menschen. 6. Gegenseitigkeit
als Voraussetzung der positiven Moral und in der Rückwirkung des
Schlimmen. Degradation des moralischen Niveau. 7. Das feindliche Ele-
ment der menschlichen Natur im Rahmen positiv verbindender Eigen-
schaften. Moralisch verleumdete Affecte. Verbindende Naturrogungen.
'Mitleid. 8. Ursprünglich Böses. Einfache Grundsätze über die natur-
gesetzlichen Rück Wirkungen des feindlichen Verhaltens. Lüge. 9. Indi-
recte Pflichten. Moralische Kunst des Einzellebens. Aufsteigen zu den
höheren Stufen der Lebensenergien. Normale Rolle der Arbeit. 10. Ent-
scheidung zwischen zwei Willen durch Berufung auf den Verstand. Rein
individuelle Verantwortlichkeit auf Grundlage der normalen Empfänglich-
keit für bewusste Beweggründe . , • 192
Zweites Capitel. Natürliche Auffassung des Rechts. 1. Der
gegen die Gerechtigkeit gleichgültige RechtsbegriflF. Sinn der Einheit und
der Unterscheidbarkeit von natürlichem und positivem Recht. Zwangs-
recht und Gewissensmoral. 2. Hauptgegenstand der Rechtsgelehrsamkeit.
Herabgekommenheit auf ein unpolitisches isolirtes Privatrecht. 3. Fun-
damentales Recht. Rache als Naturgrund und Ausgano;spunkt. 4. Kluft
zwischen Abschreckung und Gerechtigkeit. 5. Oeffentliche Rache mit poli-
tischen Organen. 6. Das über der geschichtlichen und thatsächlichen
Zufälligkeit waltende Princip Ergänzung einer mangelnden Rechtshülfe
durch die Selbstverfolgung aer Unbilden. 7. Das Maass in der Wirkungs-
art der Rache. Grossmuth und Gnade. 8. Verhältniss des Vergeltungs-
princips zu den schöpferischen Rechtsverbindungen. Geschlechtszwang
und Zwangsehe. 9. Gewalteigenthum im Gegensatz zu positiv mensch-
lichen Vereinigungsgebilden • 219
Drittes Capitel. Bessere Menschheitsausprägung. 1. Natür-
liche mit der Geburt gegebene Beschaffenheit des Menschen. Förderung
und Ausmerzun^ der Eigenschaften. Moralische und physische Verwesung
in der Ungerechtigkeit eines egoistischen Kampfes um das Dasein. 2. Die
doppelseitige Liebe als Kennzeichen heilsamer Geschlechtsverbindungen
und als Ausgangspunkt humaner Affecte 3. Die Philanthropie in ihren
schwächlichen Ausdrucksformen. 4. Beseitigung der Todesstrafo als eines
Gerechtigkeitsactes. 5. Humanisirung des Strafprincips. Vorbeugende
Mittel. Ablenkung von gegenseitigen Störungen durch Richtung der
Kräfte auf unmittelbare Arbeit an der Natur. 6. Ueberwiegen der direct
schaffenden Kräfte. Gestaltung dos Idealmenschen in Fleisch und Blut,
statt blos in Marmor. Der Leichnam des Philologenhumanismus. 7, Ge-
reifte, von '1'^" Ali^ntvlit-it.Mi /n bcfn'iond.^ Pn.-^io und ]>hysiologische
- IX -
Steif^erung der Lebensgefühle. 8. Sprache als Ausdruck und Hülfsmittel
edlel-er Menschlichkeit. Gesellige Benehmungsart und materiell smnhche
Ausschweifungen
p ,.^^^ Fünfter Abschnitt.
^,tL \\V^ Gemeinwesen und Geschichte.
Erstes Capitel. Freie Gesellschaft. 1. Rückständigkeit der
Politik als Wissenschaft. Schema zur Ableitung der _ Fundamentalprin-
cipien. 2. Unterdrückungs- und Gewaltstaat der Geschichte im Gegensatz
zur freien Gesellschaft der Zukunft. 3. Macht der Vielheit noch kein
Recht gegen den Einzelnen. Verhinderung der freien politischen Vereini-
gungen das Grundprincip des Gewaltstaats 4. Einmischungsfunction
der Vielheit. Chancen einsichtsvollerer Gerechtigkeit. Richterliclie Func-
tion aus einem auf Schutz gerichteten Bündniss im Gegensatz zu dem
aufgezwungenen Richterthum des Unterdrückungsstaats. 5. Keine Theilung
der wesentlichen politischen Functionen und namentlich nicht der Waffen-
führung. 6. Wesentliche Unübertragbarkeit der Rechtswahrnehmung in
Gesetzgebung und Gerichtswesen. Einschränkung des Erfordernisses
specialistischer Sachverständigkeit. 7, Gelehrtes Recht^ mit der Richter-
souverainetät des Volksindividuums unverträglich. Specialistische Wissen-
schaft als blosses Hülfsorgan, ohne autoritäre Verkörperung in privilegir-
ten Richterpersonen. 8. Zurückführung aller politischen Functionen auf
hinreichend kleine Grundvereinigungen. Regelung des materiellen Existenz-
rechts und des positiven wirthschaftlichen Zusammenwirkens. 0. Func-
tionäre des Wirthschaftsrechts. Bestimmung der technischen Leiter.
Ausgangspunkt von der allgemeinen Schule, Gleichheit der allgemeinen
Bildung. 10. Wegfall alles Cultus und der zugehörigen sonstigen Ein-
richtungen. Kein Eid und auch kein Surrogat desselben. An Stelle
vereinzelter milder Stiftungen eine vollständige, nicht auf den Bettel ge-
gründete Organisation. 11. Kleinere politische Einheiten im Rahmen des
Gewaltstaats. J^ifijjjniliß-als ein ursprünglich politisches Gebilde. Zu-
sammengehörigkeit der Zwangsehe und des Gewaltstaats. 12. Einseitig-
keit und Ungleichheit des Eherechts. Natürlich geschichtliche Bedeutung
des Ehebruchs in der Zwangsehe. 13. Wegfall der wirthschaftlichen In-
teressen und besondere Schutzrücksichten, durch welche die Zwangsehe
auch für den gezwungenen Theil in der Unterdrückungsgesellschaft als
eine Nothwendigkeit erscheint. 14. Vollberechtigung der Frauen im Ge-
meinwesen
Zweites Capitel. Geschichtsauffassung und Civilisation,
1. Bisheriger Mangel einer rationellen Geschichtsauffassung. Der schöpfe-
rische Fortschritt als Wesen der Geschichte. 2. Geistige Regsamkeit als
entscheidendste Bewegungskraft der Geschichte. Ein Gesichtspunkt zur
Ausgleichung mit den missliebigen Thatsachen. 3. Das Bisherige als eine
besondere Aera Einleitende und prophetische Stellung der Französischen
Revolution für eine zweite Grundgestalt des Menschenschicksals. Zusam-
mengehörigkeit von Gewaltstaat und Revolution in der Uebergangs Wen-
dung. 4. Gesetz der Umwandlung und des Todes politischer Gebilde.
Staaten- und Völkertod. 5. Verfassungswandlungen. Entkleidung des
Gewaltstaats von allem sittlichen Schein. Der ihm dienstbare Historismus
und die echte Geschichtswissenschaft, 6. Untergeordnete Verfassungs-
gestaltungen gemischter und haltloser Art. Charakter .des Cäsarismus
und seiner Spielarten. 7. Bedeutung und Bedeutungslosigkeit derlhei-vor-
ragenden Individualitäten je nach der Artung ihrer Kräfte. 8. Geschichts-
romantik im weiteren und engeren Sinne, sowie in der Richtung auf das
Schlechte oder Gute 9. Unstetigkeit in der durch den Völkertod
unterbrochenen Abfolge der Volksexistenzen. Realer oder blos ideeller
Zusammenhang. 10. Aufsammlung der Bildungstrü ramer todter Völker.
Seit«
243
263
- X -
Falsche Aufpfropfungen. 11. Der moderne Staat mit seiner absorbirenden
Centralisation als blosse Vorläufigkeit der Geschichte. 1-^ Zukunftsschick -
saie der Oentralisationen aller Art. 13. Schwächung der Brittischen Han-
dels- und Industriecentralisation als Beispiel. Die politischen Oentralisa-
tionen der heutigen Culturvölker. Auswärtige Chancen. Antretung
der Centralisationserbschaft durch die ' innerlich befreienden Volkskräfte.
14. DieVerzweigungen der innern Centralisation Angesichts der geschicht-
lichen IJebergangsaufgaben. Centralistisches Polizeiwesen und zugehöriges
Schulmonopol. 15. Justiz- und Militaircentralisation. 16. Das Maass der
Vereinigungsfähigkeit als Maass der Cultur. Wirthschaftliche Seite dieses
Maassstabes. 17. Politische Seite. 18. Unterschied von Civilisation und
Cultur. Gewaltcivilisation. Heutige Lage Angesichts der Vergangenheit
und Function der kommenden Geschichte 297
-•
Sechster Abschnitt.
Individnalisirung und Wertlisteigerung des Lebens.
Erstes Capitel. Ursachen des Pessimismus. 1, Markirtes
Wiederhervortreten pessimistischer Neigungen im 19. Jahrhundert. Erin-
nerung an Byron, Schopenhauer und Heine. 2. Gescllscliaftszustände
Brittischer Art als Ausgangspunkte für pessimistische Auslegungen.
Malthusisch - Darwinistischer Kampf um das Dasein. 3. Falscher und
wahrer Optimismus. Der mit idealem Entrüstungspessimismus verbundene .
Optimismus von Bruno, Rousseau und Shelley. 4, Politischer und socialer
Pessimismus. 5. Universeller Weltpessimismus mit einer Flucht ins Jen-
seits oder Nichts. 6. Gesellschaftlicher Fauliingspessimismus von frivolem
Charakter. Geschichtlicher Hintergrund 341
Zweites Capitel. . Schätzung der Lebenselemente. 1. Aus-
gangspunkte der Würdigung alles empfindenden Daseins. Steigerung des
positiven Lebensgehalts auf den höheren Stufen. 2. Die Wurzeln des
IJrtheils über Werth und Unwerth des Lebens sind im Wollen selbst zu
suchen. Vernachlässigung der moralischen Leiden durch den gemeinen
Corruptionspessimismus. 3. Rolle der natürlichen Widerstände in der
Entfaltung der Lebensbethätigungen. Gesetz der Differenz. Erheblich-
keit des Uebergangs zu neuen Lagen. 4. Negative und positive Wirkung
des Ideals. Berücksichtigung des Maasses subjectiver Ansprüche, das den
unentwickelten oder verdorbenen Zuständen entspricht. 5. Reiz des Ein-
maligen und Befriedigung des Lebens durch dessen Erprobung selbst.
Vergieichung alier Arten von Störungen mit denen der Gesundheit . . 355
Drittes Capitel. Entwicklung und Erhöhung der Daseins-
reize. 1. Zusammenhang des Privaten und des Politischen in den Chancen
des Einzelglücks. 2. Princip der Individualisirung und Variation der
Reize. 3. Grundregel, nichts ohne wahrhaftes Interesse zu thun. 4. Reize
der beiden äussersten Lebensalter. Gestaltung des Lernens. 5. Die Auf-
faben des vollen Lebens, Beziehungen der Geschlechter. Materielle Pro-
uction. 6. Einwirkung der universellen Lebensansichten. Aesthetische
Reize. Geistige Diät 368
Siebenter Abschnitt.
Sooialisimng aller Qesammttliätigkeiten.
Erstes Capitel. Physiologische und materielle Existenz.
1. Allgemeine Aufgabe. 2. Bedeutung der Raoen- und Stammesverschie-
denheiten für die Gruppirungen. 3.^ntormischung mit dem jüdifidlgn
filem(^nt 4. S'' ' ' • ' '' ^ci^ 5. Nalurlu^hö Grul^ptfung und bewusstes
in wirken auf isch gute Beschaffenheit des werdenden Ge-
schlcciits. 6. S i .wailic. 7. Sicherung der materiollen Unter-
— XI —
Seite
lagen für alle gesellschaftliclien Bedürfnisse unter Beseitigung des Nah-
rungskrieges und der egoistischen Interessengestaltung 386
Zweites Capitel. Geistige Institutionen. 1. Möglichkeit
einer tieferen Moral Angesichts eines besseren Rechts. Individuelle Ver-
antwortlichkeit. 2. Befreiung der Moral von der Einmischung religiöser
Voraussetzungen. 3.' Wegfall jedes religiösen Cultus. 4. Mitbeseitigung
der secundären Cultuseinmischungen in die einzelnen Lebensacte, Ver-
urtheilung aller Surrogate und positive Ausbildung rein menschlicher
Formen für die Hauptereignisse des Lebens. 5. Mittheilungsart der Welt-
und Lebensanschauung. Literatur und Presse. 6. Lehrstoff der einheit-
lichen und gleichen Schule, Sinn des Sprachunterrichts. 7. Hinweisung
auf die systematische Gestaltung der realistischen Lehrstoffe. Mathematik
und Naturwissenschaft. 8, Physiologie und Gesundheitslehre. Rechts-
kenntniss. Stellung der eigentlichen Erziehung. 9. Functionen der Kunst
und Poesie. Uebereinstimmung mit der neuen Welt- und Lebens-
anschauung. 10. Günstigere Verliältnisse für die Kunst und für die uni-
verseUe Veredlung der Sprache. 11. Ersatz der vielerlei Grammatik durch
die logischen Elemente des eig-nen Sprachbaues. Philosophische Vertie-
fung und Schürfung aller Bildung. 12. Elemente der Philosophie und
Affect der Lebensauffassung 401
Achter Abschnitt.
Wissenschaft und Philosophie in der alten und in der neuen
Gesellschaft.
Erstes Capitel. Erfahrungen der Geschichte. 1. Wechsel-
verhältniss von Freiheit und Wissen. Geschichtlicher Hintergrund im
Druck des Asiatismus. Jugendlicher Aufschwung des Griechenthums.
2. Schicksale der Griechischen Philosophie und der Ansätze zur strengen
Wissenschaft. Eminent classische Jahrhunderte und erstickende Alexan-
drisirung. 3. Geseilschaftlicli günstige Umstände sogar inmitten der älte-
ren Griechischen Corruption. Freie Gründungen der Lehrstätten. Con-
trast mit der weltgeschichtlichen Geistesrohheit des Römerthums. 4. Er-
gänzung des Despotismus durch eine Knechtsreligion. Nacht des Mittel-
alters. Auferweckung der Wissenschaft und Philosophie in Italien.
5. Kirchliche, ökonomische und politische Unterbindungen der Wissen-
schaft und Philosophie' In den neuern Jahrhunderten. tJ. Die Englische
Revolutionszeit in ihrem Zusammenhang mit der eignen und der später
nach Frankreich übertragenen Bildung. 7. Die Lage auf dem Festmnde
zur Zeit der Encyklopädisten und die gleichzeitige politische Anomalie
bei Hume. 8. Die Humeschen Schicksale in Beziehung auf die äussern
Vorbedingungen der Philosophie. Rückständigkeit Deutschlands als Er-
klärungsgrund für die gleichzeitige Professor- und Philosophenrolle Kants.
9. Ablenkender und zweideutiger Charakter jeder sich blos mit Verstandes-
kritik befassenden Art des Philosophirens. 10. Einmischung der super-«
stitiosen_ Denkweise sogar in die strengsten Theile des Naturwissens.'
Hindernisse emancipirender Consequenzenziehung 431
Zweites Capitel. Verhältnisse der Gegenwart. 1. Poli-
tischer Rahmen. Technisches Schaffen. 2. Romantisch restaurative Verun-
staltung der Halbwissenschaften und der Philosophie. 3. Hemmende Rolle
der wissenschaftlichen Körperschaften. Akademien,' 4. Zustände der
Universitäten. 5. Philosophische Facultäten insbesondere. 6. Die ihnen
angehörigen Priester zweiter Classe. 7. Treiben derselb*fen. 8. Unzuläng-
lichkeit im eignen Handwerk. 9. Schlechte Rückwirkung auf Mathematik
und Naturwissenschaft. 10. Allgemeine Rolle der universitären Zustände
1^ den strengeren Wissenschaften. 11. Allgemeinere Einflüsse des Ge-
sellschaftszustandes auf Wissenschaft und Philosophie. Corruptive und
pessimistische Ablenkungen. 12. Emancipatorische Denkercharaktere in
- xn —
Seite
hervorragender Ausnahmsstellung. 13. Uebergang der entscheidenden
Wissenschaftscultur an diejenigen, welche dem körperschaftlichen und
materiellen Bann Trotz bieten 456
Drittes Capitel. Umschaffende Grundlegung. 1. Vorläufige
Erl;. Uterungen durch Vergleichung mit den alten Verhältnissen. Völlige
ümkehrung in der Werthschätzung der Universitätsfacultäten. 2. Ord-
nung der philosophischen Fächer im weiteren Sinne des Worts. Vereini-
gung der strengen Wissenschaften mit den Antrieben der Wirklichkeits-
philosophie. ;l Uebrige Gelehrsamkeitszweige. Negativer Charakter ihrer
Functionen. Schicksal der Studienmonopole. 4. Vortheile eines Zwischen-
reichs von Reformen, welches zunächst die üblen Rückwirkungen der
universitären Missstände auf die Functionäre des Staats und der Gesell-
schaft mindert. 5. Züge derartiger schlimmer Rückwirkungen im höhe-
ren Schulunterricht, b. Ausgangspunkte eines natürlichen Entwurfs uni-
verseller Bildung, erläutert an der Aufgabe der Einführung des weiblichen
Geschlechts in die Wissenschaften. 7. Universalbildung in der neuen
Gesellschaft. 8. Abschliessende Vollständigkeit des in diese Bildung ein-
tretenden Wissens strenger Art. 9. Doppelseitiger Ausgangspunkt der
für die Bildungswissenschaft maassgebenaen Methode. Einschränkung
des blossen Beschreibungsstoffs. 10. Besonderer Inhalt des Systems der
universellen Bildungswissenschaft im Hinblick auf deren philosophische
Vollendung. 11. Wissenschaftliche Voraussetzungen der Philosophie der
menschlichen Verhältnisse. 12. Bedeutung und Function der letzten, die
Welt- und Lebensvorstellung abschliessenden Einsichten 490
Schluss.
Studium und Entwicklung der Wirkliohkeitsphilosoplile.
1. Nothwendigkeit besonderer Orientirung über die individuelle Ge-
stalt der Wirklichkeitsphilosophie. 2. -Ergänzung des rein theoretischen
Theils durch mathematisch mechanische Grundlagen und Ausführungen.
Function und Stellung einer eigentlichen Wissenschaftstheorie. 3. Studium
des zur Wirklichkeitsphilosophie gehörigen Systems der Volkswirthschafts-
lehre. 4. Eigne socialtheoretische Grundlagen in besondern Werken.
üT Bedeutung des juristischen Fachstudiums für die naturrechtlichen, po-
litischen una ökonomischen Theile des Systems. 6. Das Urtheil über den
Werth -des Lebens in der Stellung zum Ganzen. Verhältniss des Systems
zur Kritischen Geschichte der Philosophie. Ergänzung der letzteren durch
die eignen Geschichtswerke über Specialwissenschaften. 7. Entlastung
des Studiums von überflüssigen Stoffen. Selbstbeschaffung der realen
Hülfskenntnisse. 8. Aufmerksamkeit auf die unterscheidenden Eigen-
thümlichkeiten der neuen Philosophie. Thatsächliche Bekundung der von
ihr vertretenen Gesinnung in dem Leben ihres Urhebers. 9. Aeussere
Stellung des wirklichen Philosophen zur universitären Philosophie. 10. Ent-
wicklung der äussern Wirkungen des Systems. 11. Zusammenhang der
Auffindung eijTeuthümiicher Lehren und Lösungen mit Gesinnungsantrier
ben. 12. Beispiele von besonders zu markirenden eignen Ideen und
Sätzen 525
Schriften desselben Verfassers ." 500
Einleitung.
I. Bedeutung der Philosophie.
Als erste und natürlichste Angelegenheit muss dem Lernenden im
Eingang die Frage erscheinen, was der Gegenstand, dem er sich
hingeben will, eigentlich sei und bedeute. Eine kurze Beantwortung
der Frage, was Philosophie sei, entspricht jedoch nicht blos dem
Bedürfniss, das genauere Bekanntwerden mit einer neuen Sache regel-
recht vermittelt zu sehen, sondern hat auch ausserdem einen weiter-
greifenden Sinn. Solange über das Wesen einer geistigen Bestre-
bung in erhebHcher Weise gestritten werden kann, und solange die
weltgeschichtliche Entwicklung einer ideellen Macht noch nicht die
entscheidende Seite der letzteren vor Aller Augen gebracht hat, wird
die Bestimmung, was diese Macht in ihrer tieferen Anlage sei und
wohin sie führe, zu denjenigen Rechenschaften gehören, mit denen
derjenige, der die Vertretung dieser Macht in seiner Zeit und für
die zunächst absehbare Entfaltung derselben in Anspruch nimmt,
von vornherein über seinen Beruf entscheidet.
Es ist daher etwas mehr als die Rücksicht auf eine ordnungs-
mässige Begriffsbestimmung, was uns , die Erledigung jener ersten
Grundfrage werthvoll macht. So kurz auch die Formulirung aus-
fallen möge, in welcher wir die eigenste Natur der Philosophie aus-
zudrücken unternehmen, so wird sie doch Entscheidungen und Auf-
schlüsse enthaltien, die über mehr als einen Hauptpunkt zuverlässige
Angaben darbieten und über die maassgebende Richtung keinen
Zweifel lassen. Für uns und die uns bevorstehenden Epochen ist
die Philosophie nicht mehr vorwiegend eine ruhende Weltanschauung,
sondern wesentlich ein rastlos thätiges Princip allseitiger Gestaltung
Du bring, Cursus der Philosophie. 1
des Lebeus. Hiemit ist der reformatorische Beruf, den die höchste
der ideellen Mächte zu üben hat, als unablegbares Kennzeichen ihres
titiferen Wesens hingestellt. Auch lässt es sich in der That nicht
denken, wie auf die Dauer dieser charaktervollste Grundzug, der den
besten Erscheinungen des Gebiets nie ganz gemangelt hat, in einer
Epoche verborgen oder auch nur im Hintergrunde bleiben sollte, in
v^^elcher sich eine Weltwendung aller Zustände immer mächtiger
anbahnt.
Philosophie ist die Entwicklung der höchsten Form des Bewusst^
seins von Welt und Leben. Dieser einfache Satz sagt sehr viel,
wenn wir den Einzelheiten seiner Gedanken auftnerksam folgen. Er
spricht überdies nicht nur durch das, was er ausdrücklich enthält,
sondern auch durch das, was er grundsätzlich weggelassen hat. So
ist in ihm absichtlich nur einfach vom Bewusstsein und nicht etwa
vom menschlichen Bewusstsein die Rede. Es würde nämlich in der
That eine ungerechtfertigte Einschränkung, um nicht zu sagen eine
Herabwürdigung der Grundgestalten des Bewusstseins und Wissens
sein, wenn man ihre souveraine Geltung und ihren unbedingten An-
spruch auf Wahrheit durch das Epitheton menschlich ausschliesseu
oder auch nur verdächtigen wollte. Eine endgültige Wahrheit letzter
Instanz kann nicht gedacht werden, sobald die letzten und allge-
meinsten Formen des Erkennens, wie wir sie in der uns bekannten
Art des Denkens finden, nicht auch zugleich die Constitution und
die Elemente alles sonstigen Wissens ausmachen, welches wir neben
dem unsrigen in andern Wesen voraussetzen mögen. Ohrie also
darüber absprechen zu wollen, in welcher Art und wie hoch das
Bewusstsein irgendwo entwickelt sein oder irgendwann erweitert und
gesteigert werden möge, müssen wir doch darauf bestehen, dass jeg-
liche Form des Denkens und Erkennens nm* ein schlechter Spass
und eine offenbare Thorheit sein würde, wenn sie nicht aus ein-
fachen Elementen bestände, die in allem nur irgend annehmbaren
Wissen eine und dieselbe Rolle spielen und in vei*schiedenen Mischun-
gen die Factoren einer und derselben Wahrheit bilden. Sogar die
Abstufungen, die wir uns bei der Betrachtung der thierischen Be-
wusstseinsreihe auch m anderer Richtung mit einigem Schein ent-
werfen mögen, verlieren ihre einschränkende Kraft, sobald wir
bedenken, dass alle Erdichtungen höherer Intelligenzen nur Combina-
tionen aus den allgemeinsten Bestandtheilen unserer eignen Einsichts-
art sein können. Wir mögen in unserm eignen Be^vusstsein Unter-
— 3 —
Scheidungen treffen und eine Aussonderung der höheren Denkmittel
vornehmen; — wir werden aber doch niemals dazu gelangen, die
Reibe der Voraussetzungen abzukürzen und jene schattenhafte Er-
dichtung einer Intelligenz festzuhalten, in welcher die höheren
Functionen unmittelbar und ohne die Hülfe der gewöhnKchen uns
bekannten Vorbedingungen das Wesen der Dinge zu erfassen ver-
möchten.
An das einfache Wort Bewusstsein hat sich in unserer Defini-
tion der Philosophie noch eine weitere Bemerkung anzuschliessen.
Es bedeutet der diesem Wort entsprechende Begriff, wenn er in
seiner ganzen Weite gefasst wird, nicht blos das theoretische und
gleichsam ruhende Wissen, sondern auch die Empfindungen der
Triebkräfte, in denen das Wollen seinen bewussten Ausdruck erhält.
Das Bewusstsein umfasst hienach die Verzweigungen des Wissens
und die Richtungen des Strebens. Die Philosophie hat demgemäss
nicht nur, wie schon vorher angedeutet, eine doppelte Aufgabe, son-
dern es entsteht für sie auch die Frage, in welcher Richtung die
vollständige Vereinigung dieser Doppelrolle zu suchen sei. Als Wissen-
schaft und als Gesinnung, als Weltanschauung und als Lebensge-
staltung, als zurückgezogene Speculation und als praktisch eingrei-
fende^acht kann die Philosophie doch immer nur von einheitlichem
Wesen sein, wie es die Welt und das Denken, das Leben und der
Mensch, die Thatsachen und die Ideen selber sind. Die Philosophie
als Besinnung/ ist eine Fortpflanzung der Motive edlerer Menschlich-
keit; sie schafft an den Idealen der Humanität und hegt die grossen
Conceptionen, in denen das höchste Wollen der Menschheit gipfelt.
Die Philosophie als yWissenschaft/ ist theils Hervorbringung, theils
Aufnahme derjenigen Einsichten, durch welche die Welt und das
Leben klar übersichtlich, die Principien der Vorgänge verständlich
und die Abfolgen der unserer Kraft erreichbaren Zustände für die
verstandesmässige Leitung zugänglich werden. Die Gesinnung veredelt
sich, indem die natürlichen Triebkräfte des Wollens ihr Maass, ihre
gegenseitige Begrenzung und ihren sich selbst am meisten befriedi-
genden Gehalt finden lernen. Die Wissenschaft wächst, indem die
Functionen des Verstandes zur Bethätigung gelangen und diejenigen
Vorstellungen ins Dasein rufen, vermöge deren die Welt der Dinge
und die Welt der Gedanken die ebenmässigste Einheit ergeben. Das
Bewusstsein vom Leben, im Sinne eines durch höchste Einsicht und
grösste Wirkungsfähigkeit gesteigerten Lebensgefühls, ist nun aber
1*
— 4 —
stets auf die universellen Aussichten alles Strebens gerichtet, und so
erklärt es sich, dass in der Philosophie die herrschende und ursprüng-
lichste Macht das Interesse an einer mit dem höchsten Maass von
Wissen beleuchteten Lebensenergie sein muss. Diese letztere Energie
selbst ist nun aber in ihren höheren Combinationen von dem Schick-
sal abhängig, dem die Thätigkeiten des Denkens anheimfallen, und
die Functionen der Intelligenz sind, soweit sie sich auf Triebe und
Leidenschaften beziehen, unverkennbar selbst die Formen, in denen
das bewusstere Leben seiner selbst und der universellen Tragweite
des Empfindens inne wird. Hiemit ist aber schon ausgesprochen,
dass es im letzten Grunde nur eine einheitliche Form des Bewusst-
seins gebe, und dass mithin die philosophische Gesinnung der voll-
ständige Ausdruck von dem sei, wodurch Welt und Leben im Inner-
sten bewegt werden. Handeln und Denken, Wollen und Wissen,
active Regung und passive Spiegelung sind hier nur zwei Theile
eines und desselben Hergangs. Wohl aber kann man auf den nie-
deren Stufen der Entwicklung ein einseitiges Vorherrschen des un-
au%eklärten WoUens und daher eine durch den Contrast gesteigerte
Bedeutung der Gesinnung einzelner Vertreter des Denkens und edler
Lebenshaltung wahrnehmen. Die Gesinnung aber, die wir heute als
den Hauptfactor lebendiger Philosophie fordern, ist nicht mehr blos
privater Natur, sondern betrifft die coUective Erleuchtung und Rich-
tung des menschhchen Wollens. Diese Gesinnung kann ohne die
Wissenschaft gar nicht gedacht werden; denn es sind die ursprüng-
lichen, der befriedigenden Gestalt noch ermangelnden Antriebe gleich-
sam erst das Rohmaterial, an und mit dem die sich allmälig ent-
wickelnde, schliesslich durch strenge Wissenschaft geleitete Intelh-
genz arbeitet.
So wichtig es ist, einer in Scholastik vertrocknenden und in
Unselbständigkeit sich corrumpirenden Scheinphilosophie gegenüber
die Gesinnung und Lebenshaltung einzelner grosser Denkercharaktere
hervorzuheben, so würde es doch den natürlichen Gang der Dinge
verleugnen heissen, wenn man im Ganzen und namentUch für die
jetzt anbrechende Aera der Weltgeschichte den Errungenschaften des
Wissens die zweite Rolle anweisen wollte. Die Wissenschaft und
der Verstand in seiner praktischen Bethätigung sind diejenigen
Machte, auf welche die freiere Gestaltung des Menschheitsschicksals
an erster Stelle zu rechnen hat. Aus den Völkerphg,ntasien , die
unter den Antrieben der von mange\nder oder falscher Einsicht irre-
geleiteten Gemüthsmächte arbeiteten, sind Weltansichten und Lebens-
formen hervorgegangen, deren fernere Unhaltbarkeit gegenwärtig
klar eingesehen werden kann. Das fehlgreifende Gemüth des noch
kindisch vorstellenden Menschen hat seine Rolle so ziemlich aus-
gespielt, und es lässt sich wenigstens eine Zeit absehen, in welcher
die höchst entwickelten Theile der Menschheit jene üeberheferungen
vollständig abgestreift und mit einem wahreren Zustande vertauscht
haben werden. Für diesen neuen Zustand müssen nun Verstand und
Wissenschaft die früheren Einbildungen ersetzen und ausserdem das
leisten, was dem verstandlosen Gemüth trotz seiner gewaltigen An-
sprüche und angeblichen Hülfen niemals gelungen ist. Die Ohn-
macht aller Systeme, welche einzelne Yölkergruppen und zuletzt den
höher civilisirten Theil der Menschheit geistig und indirect auch po-
litisch und social zu binden gesucht halDcn, ist heute eine bis zur
Handgreiflichkeit ausgemachte Sache. Die Religionsschöpfungen
haben eher alles Andere als eine moraHsche Einigung der Menschen
bewerkstelligt. Sie haben weder den innern Frieden des Gemüths
noch die äussere Vereinbarkeit des Verhaltens sonderhch gefördert.
Sie haben im Gegentheil künstliche Beunruhigungen erfunden und
durch Fixirung mannichfaltiger Superstitionen in dauernden Einrich-
tungen neue Arten von Feindschaft und Ungerechtigkeit ins Leben
gerufen. Ihr Anspruch, für die Menschen ein befriedigendes Band
und eine Quelle des Heils zu sein, ist heute in seiner ausnahmslosen
Nichtigkeit allen denen erkennbar, die von der Wissenschaft und
dem Verstände her zu einer natürlichen Welt- und Lebensauffassung
gelangt sind. Von diesem letzteren höheren Standpunkt aus lässt
sich aber auch schon bemessen, wie der Verstand mit seinen wissen-
schaftlichen Errungenschaften die letzte Instanz bilden und das zu
leisten im Stande sein werde, was dem A^erworrenen Gemüth und
den trüben Superstitionen nie gelingen konnte.
Bei dieser grossen Aufgabe handelt es sich nicht darum, das
natürliche Gemüth oder, mit andern Worten, die Antriebe und Ge-
fühle der menschlichen Natur zu Gunsten einer einseitigen Ver-
standescultur herabzusetzen, sondern im Gegentheil darum, diese
naturwüchsigen Ausstattungen unseres Wesens durch den Verstand
völlig freizumachen und in solchen Richtungen wirken zu lassen,
wo sie sich mit der geringsten gegenseitigen Störung auszuleben
vermögen. Hieraus folgt, dass die wahre Gesinnung, auf welche die
Philosophie für die Menschheit zielt, erst dann in grösserer Aus-
— 6 —
breitung und nachhaltigerer Wirksamkeit bestehen Icann, wenn sie
in der Gemeinschaft Vieler und in der Sicherheit der gegenseitigen
Bethätigung über die zerstreute und unverbundene, rein individuelle
Privatexistenz hinausgelangt sein wird.
Die Lebensgestaltung, fiir die sie neben der blos theoretischen
Vertretung der Weltanschauung eintritt, bezieht sich daher weit
weniger auf die isolirte Privatmoral individualistischer Art, als viel-
mehr auf den socialitären und politischen Zusammenhang des all-
seitigen und insbesondere des geistigen Verkehrs. Keine einzige
Form oder Einrichtung des Gemeinlebens kann von ihr unberührt
bleiben; aber vor Allem bedarf sie sogar schon zu ihrer blos ideellen
Fortpflanzung und Sicherung eines gesellschaftlichen Zusammen-
wirkens aller derjenigen, die von ihr durchdrungen sind. Es ver-
steht sich von selbst, dass dieses Zusammenwirken schliesslich die
Form des Staats selbst annehmen muss; aber die Mittelstufen bis
zu diesem Ziele mögen eine Mannichfaltigkeit durchmessen, die mit
der lockersten Verbindung, ja mit den Zufälligkeiten der unorgani-
sirten literarischen Mittheilung beginnen kann und sich erst später
zu geordneten Vereinigungen und zwar zunächst im Rahmen der ge-
wöhnlichen Formen der Collectivaction steigert. Auch sei schon
liier bemerkt, dass nicht blos die Gegenseitigkeit und das Zusammen-
wirken unter den Erwachsenen in allen Hauptangelegenheiten des
privaten, gesellschaftlichen und öffentlichen Lebens die allgemeine
Grundlage zu bilden habe, sondern dass speciell die Erziehung im
Sinne der Philosophie und zunächst die Lähmung der auf diesem
Gebiet herrschenden Superstition die positive Collectivthätigkeit in
Anspruch nehmen müsse.
Wir haben Inhalt und Richtung des philosophischen Bewusst-
seins kurz bezeichnet. Es bleibt noch übrig zu erklären, was wir
mit der höchsten Form meinen, in der wir erst die der Philosophie
entsprechende Steigerung des Welt- und Lebensbewusstseins finden.
Diese höchste Form besagt zunächst, dass in Vergleichung mit ihr
keine höhere Instanz anzutreffen sei, von welcher über die Würdi-
gung und Behandlung des Daseins entschieden werden könnte Die
Philosophie kennt keine andere Autorität als etwa die ihres eignen
Gebiets, und auch hier ist sie in einem solchen Sinne souveraiu,
dass man jenes Wort in seiner äusserlichen Bedeutung gar nicht
brauchen darf. Naturthatsachen und selbstgewonnene Einsichten
sind die einzigen Nöthigungen, denen die Philosophie folgt. Neben
__ 7 -
ihr giebt es keine zweite Fundstätte der Wahrheit und keine zweite
Quelle der Gerechtigkeit. Alles was unter der Form irgend einer
Art von Wahrheit Ansprüche auf Geltung macht, muss sich auf
Verstand und Wissenschaft als letztes Entscheidungsmittel auch dann
berufen, wenn üeberzeugungen im Sinne eines vom Gefühl geleiteten
Annehmens oder Glaubens in Frage sind. Grade über die Möglich-
keit derartigen Fürwahrhaltens und über die Zulässigkeit der ent-
sprechenden Vorstellungen entscheidet die Philosophie, da sie das
Maass für alle Gattungen von Ideen in Händen hat. Woher sollte
auch dem philosophisch selbstbewussten Menschen eine ideelle Macht
entgegentreten, die nicht von dem eignen Wesen menschlicher Vor-
stellungen abstammte? Auf dem Planeten giebt es keine Kraft, die
der philosophischen autoritätsfreien Selbstgenügsamkeit eine moralisch
verbindliche oder überhaupt innere Einschränkung aufzuzwängen ver-
möchte. Der Mensch hat vielmehr, sobald er zur Würde der auf
sich selbst ruhenden Einsicht und des innerlich verstandenen, auf
dem Naturgrunde ruhenden, sich selbst klaren Wollen s gelangt ist,
mit nichts als dem Boden unter sich, der Luft über sich und Seines-
gleichen neben sich zu schaffen. Die ihn umgebende Natur, sei sie
irdisch oder kosmisch, erregt ihn nach allen Richtungen, aber ver-
bindet ihn nicht und legt ihm keine, moralische oder autoritäre Ge-
setze auf. Von Seinesgleichen hat er keinen Willen anzunehmen,
den er nicht selbst üben könnte, und wo sie ihn verbindlich machen
wollen, müssen sie sich auf etwas berufen, was ihnen mit ihm ge-
meinschaftlich ist. Er wird daher in Andern nicht etwas Anderes
anerkennen, als was er in sich selbst gelten lässt, und so wird wie-
derum die höchste Form des Bewusstseins von Leben und Welt als
die normgebende Macht angerufen werden. Diese letzte Entschei-
dungskraft wird aber nur aus der streng wissenschaftlichen Steige-
rung aller Bewusstseinselemente gewonnen, und so zeigt es sich auch
von dieser Seite, dass die Bereicherung mit den Errungenschaften
des genaueren und sicheren Wissens von Welt und Menschennatur
die Vorbedingung aller philosophischen Selbständigkeit ist. Auch
gilt diese Selbständigkeit und Autoritätsfreiheit nicht blos für das
Denken, sondern auch für das Handeln und zwar gleicherweise für
die collective Action wie für das Thun des Einzelnen.
— 8 —
n. Bestandtheile und natürliches System.
Die Philosophie, wie wir sie eben kurz gekennzeichnet haben,
umfasst in einem weiteren Sinne die Principien alles Wissens und
Wollens. Diese universelle Bedeutung ist keineswegs zu kühn an-
gelegt; denn um eine auch nur formal vollständige Natur- und
Lebensansicht zu gewähren, müssen die ersten Anknüpfungspunkte
aller Gattungen von Thatsachen, Existenzen und Vorgängen dargelegt
werden. Der Rahmen der Welt und des Lebens mit seinen mannich-
faltigen Entwicklungen muss eine wenigstens schematisch vollständige
Ausfüllung erhalten, und wo irgend eine Reihe von Erkenntnissen
oder Antrieben oder eine Gruppe von Existenzformen für das mensch-
liche Bewusstsein in Frage kommt, müssen die Principien dieser Ge-
stalten ein Gegenstand der Philosophie werden. Nur auf diese Weise
wird jener universellen Vollständigkeit entsprochen, welche die ideale
Forderung zulänglicher Systeme ist. Wenn das System der Dinge
in einem Gedankenbilde erfasst und das Dasein in seinen Grund-
zügen entworfen werden soll, so darf keine Linie fehlen, die zum
Verständniss der Verfassung des Ganzen einen Beitrag liefert. Die
Beschränkung auf die Principien ist hinreichend, um die Philosophie
vor unerheblichem Material zu bewahren und die Ausführung ihrer
Aufgabe nach dem jeweiligen Stande des positiven Wissens mögUch
zu machen. Hiebei ist zu beachten, dass Punkte zweiten Ranges,
die in einer individuellen Unternehmung etwa unberührt bleiben oder
nicht zulänglich erledigt werden, für die Wirkung des Gesammt-
entwurfs zwar immerhin eine Bedeutung haben mögen , dass aber
die Existenz der Philosophie in ihrem vollständigen Wesen nicht
ausschliesslich von dem Grade des Gelingens und von den Schranken
einer privaten Bestrebung abhängig zu denken sei.
Die Principien, für welche sich die Philosophie interessirt, sind
nicht beliebige relative Anfänge von Erkeuntnissreihen und That-
sachengruppen, sondern die einfachen oder bis jetzt als einfach voraus-
zusetzenden Bestandtheile, aus denen sich das mannichfaltige Wissen
und Wollen zusammensetzen lässt. Wäre die Verfassung der Welt
und des Lebens nicht so beschaffen, dass sie sich in eine Summe
von Bestandstücken auflösen Hesse, so würde der Ausdruck Princi-
pien einen völlig relativen und schwankenden Sinn haben. Man
würde nicht wissen, wie weit man die Gliederung der Dinge zu ver-
— 9 —
folgen und weitere Ansätze zu secundären Gebilden aufzusuchen
hätte, um den Welt- und Lebensschematismus verständlich zu machen.
So aber ist eine feste Norm gegeben, und ähnlich, wie die chemische
Constitution der Körper, kann auch die allgemeine "Verfassung des
Daseins auf Grundelemente und Grundformen zurückgeführt werden.
Diese letzten Bestandtheile oder Principien gelten, sobald sie einmal
gewonnen sind, nicht blos für das unmittelbar Bekannte und Zu-
gängliche, sondern auch für Alles, was jenseit der Tragweite unserer
speciellen und ausreichenden Wahrnehmung liegt, oder was die ra-
tionelle Phantasie unter veränderten räumlichen und zeitlichen Ver-
hältnissen voraussetzen mag. In den Principien solcher Art haben
wir mithin das Baumaterial und die elementaren Fügungsformen für
die Construction der gesammten Existenz vor uns. Die principiellen
Schemata und Elemente, zu denen die philosophische Zergliederung
gelangt, müssen in einer noch höheren Weise selbstgenugsam und
zum unbeschränkten Verständniss der Dinge ausreichend sein, als
dies in irgend einer besondern Wissenschaft der Fall sein kann. Die
philosophischen Principien bilden mithin die letzte Ergänzung, deren
die Wissenschaften bedürfen, um zu einem einheitlichen System der
Erklärung von Natur und Menschenleben zu werden.
Nach der bisherigen üeberlieferung setzt sich die Philosophie
aus einer Reihe besonderer Lehren zusammen, aus deren Eigenthüm-
lichkeiten nicht immer sofort der Zusammenhang mit den Principien
der vorher erläuterten Art oder gar die Beschränkung auf diese
Principien zu entnehmen ist. Im Gegentheil schliesst die Philosophie
in ihrer engeren Bedeutung eine Gruppe von Specialwissenschaften
eia, die ihr mit Recht ausschliesslich angehören, und in denen sie
weit über die Principien hinaus zu mannichfaltig zusammengesetzten
Ergebnissen fortschreitet. Die Noth wendigkeit eines Theils dieser
Verzweigungen und Ausfuhrungen erklärt sich aus der besondern
Aufgabe der Philosophie, die allgemeine Wissenschaft vom Menschen-
leben und von den Mitteln der Erkenntniss zu sein. Ein anderer
Theil dieser Sonderdisciplinen könnte aus dem Bereich der engeren
Philosophie ausgeschieden gedacht werden, sobald die Arbeits theilung
und Verselbständigung der Functionen diesen Schritt möglich machte.
Dennoch werden aber vorläufig mehrere Zweige auch mit ihrer Aus-
führung in das Einzelne bei der Gesammtphilosophie verbleiben
müssen, weil sich noch nicht absehen lässt, wie sie zur Selbständig-
keit positiver Wissenschaften gelangen sollten, oder wie die rein
— 10 —
philosophische Behandlung die Principien derselben sichern könnte,
ohne in den weiteren Stoff selbst untersuchend und darstellend ein-
7Aigehen. Letzteres gilt namentlich von der Moral, die bis jetzt
vollständig und ausschliesshch der engeren Philosophie angehören
musste.
Werfen wir einen Blick auf die herkömmUche Zusammensetzung
der Philosophie aus einzelneu Disciplinen. Wir treffen hier an der
Spitze auf die Logik und Metaphysik oder überhaupt auf die Dia-
lektik, woran sich in neuerer Zeit Erkenntniss- und Forschungs-
theorie angereiht haben. Am natürlichsten schliesst sich an diese
vorherrschend logische Gruppe die Psychologie, indem es sich hier
ebenfalls um zunächst subjective Elemente handelt. Eine zweite Ab-
theilung ergiebt sich mit der Naturphilosophie. Das dritte Bereich
ist das umfassendste, indem es das eigenthümlich menschHche Ver-
halten und dessen geschichtliche Schöpfungen zum Gegenstande hat.
Hieher gehören Moral und Naturrecht nebst den Grundlagen der
Pohtik, alsdann die Philosophie der Geschichte, die Religionskritik
und die Ausgangspunkte des Aesthetischen. Endlich ist die Ge-
schichte der Philosophie eine Ergänzung der Gesammtauf fassung und
aller besondern Theile, indem sie zu dem gegenwärtigen Bestände
des philosophischen Wissens und Wollens gleichsam die zweite zeit-
liche Dimension hinzufügt und uns zeigt, wie im Strome der Ge-
danken die einzelnen Gebilde nach und nach hervorgetreten sind.
Ein natürliches System der Philosophie kann sich bei dieser,
zum Theil sehr äusserlichen Gruppiruug nicht beruhigen. Es muss
zunächst an der gewohnheitsmässigen Verbindung von Logik und
Metaphysik, sowie überhaupt an einem Theil der an das Wort Meta-
physik geknüpften Ideen Anstoss nehmen. Die Logik im engeren
Sinne oder, wie man auch sagen kann, die formale Logik, also die
Lehre von den Definitionen, den Urtheilen und den syllogistischen
Schlüssen, kann an sich selbst als eine Wissenschaft angesehen wer-
den, die wie die Elementarmathematik keinen besondem Zusammen-
hang mit der eigentlichen Philosophie habe. Sie kann, so dürftig
ihr wirklich fruchtbarer Inhalt auch ist, dennoch für sich selbst eine
völlig selbständige Doctrin bilden und zu den ersten Elementen des
positiven Wissens zählen. Man kann noch heute über ihre Consti-
tution und Behandlung erheblich streiten; aber etwas Aehnliches
kann auch bei der Elementarmathematik geschehen. Uebrigens ist
aber ein Theil der logischen Grundlehren grade eben so sicher, wie
— 11 —
die allgemein anerkannten Einzelwahrheiten aus dem Bereich der
mathematischen Elemente. Derselbe Grund, welcher für die Auf-
nahme der logischen Elemente in die Philosophie sprechen sollte,
würde annähernd auch zum Eingehen auf die mathematischen Sätze
berechtigen, ohne welche z. B. das von der Naturphilosophie voraus-
gesetzte Wissen nicht zu Stande kommt. Wollte aber die Philosophie
alle Voraussetzungen des besonde'rn Wissens, von dem sie Gebrauch
macht, in ihren eignen Rahmen aufnehmen, so würde sie ihren Beruf
und ihre Grenzen völlig verkennen.
Es giebt jedoch eine Beziehung der Philosophie zu den logischen
Wahrheiten, in welcher die letzteren in einer eigenthümlichen An-
wendung und Bedeutung auftreten. Das Ganze der Dinge hat eine
systematische Gliederung und innere logische Consequenz. Natur und
Geschichte haben eine Verfassung und Entwicklung, deren Wesen
zu einem grossen Theil den allgemeinen logischen Beziehungen aller
Begriffe entspricht. Die allgemeinen Eigenschaften und Verhältnisse
der Denkbegriffe, mit denen sich die Logik beschäftigt, müssen auch
für den besonders auszuzeichnenden Fall gelten, dass ihr Gegenstand
die Gesammtheit des Seins nebst dessen Hauptgestalten ist. Da das
allgemeinste Denken in einem weiten Umfange über das entscheidet,
was sein und wie es sein kann, so müssen die obersten Grundsätze
und Hauptformen der Logik auch für alle Wirklichkeit und deren
Formen eine maassgebende Bedeutung erhalten. Hiemit gelangen
wir zu einer logischen Weltschematik, in der die Wahrheiten der
formalen Logik einen neuen speciellen Sinn annehmen und eine
Tragweite von der höchsten Bedeutung aufzuweisen haben.
Der Ausdruck Metaphysik ist mit Recht der Zwitterhaftigkeit
verdächtig; denn er hat bisher zwei Dinge benannt, von denen das
eine, nämlich die Empfänglichkeit für unwirkliche und phantastische
Begriffsgebilde, im natürlichen System völlig entfernt sein muss.
Ausser mit den willkürlich erdichteten Wesenheiten hat sich aber
die Metaphysik jederzeit auch mit wirklichen Elementen des Daseins
befasst, und in dieser Hinsicht sind es besonders die Grundbegriffe,
darch welche die Welt mit ihrer Verfassung zu denken sei, was den
Gegenstand dieser Lehre gebildet hat. Diese metaphysischen Kate-
gorien fallen nun keineswegs mit den metaphysischen Anwendungen
der logischen Gesichtspunkte zusammen, sondern gesellen sich den
letzteren als eine unterschiedene Art zu, so dass die Frage nach dem
Rangverhältniss beider Bestandtheile der Weltschematik keineswegs
— 12 —
überflüssig ist. Um Schemata des Denkens oder Vorstellens und um
formal einfache Voraussetzungen wird es sich in dem einen wie in
dem andern Theil des Gebiets handeln, und die Constituirung einer
wohlgeordneten Lehre vom Weltschematismus wird davon abhängen,
wie es gelingt, Sein und Denken als eine Einheit zu fassen, in
welcher die realen Vorgänge eine logische Seite und die logischen
Vorgänge eine reale Bedeutung haben. Die Metaphysik überhaupt
aber, deren Namen man sehr wohl mit der rationelleren Bezeichnung
als Weltschematik vertauschen könnte, wird unbekümmert um be-
griffliche Erdichtungen alle allgemeinen Züge des wirklichen Daseins
zu entwerfen haben, ohne jedoch in die Hauptverzweigungen selbst,
nänüich in Natur und Geschichte überzugreifen. Sie wird sich also
auf die Grundgestalten alles Seins überhaupt beschränken und sich
nicht auf solche Eigenschaften ausdehnen, die nur einer Art desselben
ausschliesslich eigen sind. In diesem engeren Sinne wird sie in der
That den allgemeinsten Schematismus aller Wirklichkeit vertreten.
Bei der Behandlung des Gesammtstoffs der Philosophie in einem
einheitlichen Cursus werden wir unserer leitenden Definition einge-
denk bleiben und alles das ausschliessen müssen, was nicht zur Ent-
wicklung der Principien der Weltanschauung und Lebensgestaltung
unmittelbar erforderlich ist. Blosse Hülfsiehren, die ähnlich dem
Lihalt der positiven Wissenschaften eine fertige Voraussetzung bilden
können, werden daher nur in Bezug zu nehmen sein. Aus diesem
Grunde werden auch die rein logischen Wahrheiten nur insoweit
dargestellt werden, als es der Zweck der Anknüpfung höherer Ein-
sichten unumgänglich macht. Ueberdies versteht es sich eigentlich
von selbst, dass eine Philosophie nicht etwa blos Mehr, sondern
etwas ganz Anderes zu sein hat, als eine Vereinigung des princi-
piellen Gehalts der positiven Wissenschaften. Die Weitläufigkeit,
die durch blosse Verarbeitung der wichtigsten positiven Wissen-
schaften entstehen müsste, fallt grundsätzlich fort, und selbst inner-
halb der eigentUchen Philosophie gestattet die naturgemässe Be-
schaffenheit imseres vom Leben selbst vorgezeichneten Zweckes einen
Grad der Sichtung des gewöhnlichen Materials, der bei äusserlicher
Kürze doch zu Deutlichkeit und Fülle des Gedankengehalts fähren
mag. Die Rücksicht auf das Originale in jeder Gattuug, sei es über-
liefert oder neu gewonnen, wird ebenfalls den Werth des Ausgewähl-
ten steigern. Die bedeutende Einschränkung, die wir uns in den
ersten abstractereu Abschnitten sowie auch in der Naturphilosophie
— 13 —
mit Rücksicht auf andere Arbeiten, in denen wir die hier concen-
trirten Lehren ansfuhrhcher entwickelt haben, ohne Bedenken auf-
erl^en konnten, hat es ermöglicht, die entscheidenden Probleme des
Menschenlebens ausgiebig zu erörtern. Aber auch in diesem letzteren
Bereich konnte noch dadurch für das Beste Raum gewonnen werden,
dass eine Frage, die sich in den letzten Jahrzehnten mit unverhält-
nissmässiger Breite in den Vordergrund gedrängt hatte, als ander-
wärts abgethan einer sehr kurzen und entschiedenen Beantwortung
fähig wurde. Es ist dies die Erörterung des auf ein Jenseits aus-
schauenden oder mystisch nihihstischen Pessimismus, der mit seiner
trägen Ruhesucht schon in meiner Betrachtung über den Werth des
Lebens zergliedert worden ist.
Das System, welches in dem vorliegenden Cursus zu einer nach
allen wesentlichen Richtungen verzweigten Darstellung gelangt, unter-
scheidet sich sehr erheblich von allen früheren Gestalten der Philo-
sophie. Man könnte es das natürhche System oder die Wirklichkeits-
philosophie nennen, da es die künstlichen und naturwidrigen Er-
dichtungen beseitigt und zum ersten Mal den Begriff der Wirklichkeit
zum Maass aller ideellen Conceptionen macht. Die Wirklichkeit wird
von ihm in einer Weise gedacht, die jede Anwandlung zu einer
traumhaften und subjectivistisch beschränkten Weltvorstellung aus-
schhesst. Der Inbegriff aller Möglichkeiten, der für die Weltschematik
durchaus keine gleichgültige Conception ist, wird auf das combina-
torische Denken bezogen, welches mit den bekannten Bestandtheilen
operirt. Die Phantasie, deren erste kindische Ansprüche überall aus-
geschlossen werden, zeigt sich in Vereinigung mit dem sichtenden
Verstände als diejenige schöpferische Macht, die allein im Stande ist,
die Thatsachen aus ihrer äusserlichen Trägheit zu befreien und die
Ergebnisse der Erfahrung zu einem lebensvollen Ganzen zu verbinden.
Die wissenschaftliche Phantasie erdichtet nicht, sondern bildet nur
und entspricht so einem wirklichen Zusammenhange der Dinge, wie
er durch die weltgestaltenden Kräfte vollzogen worden ist oder zur
Vollziehung gelangt. Um vorausbestimmend spätere Nothwendig-
keiten zu bemessen, ist die Beweglichkeit der rationellen Phantasie
unentbehrhch. Andernfalls würde der Gedanke nur an dem Gege-
benen und unmittelbar Thatsächlichen haften bleiben und jener all-
seitigen Freiheit ermangeln, durch welche er die Möglichkeiten der
Weltentwicklung umfasst. Für das Menschenschicksal hat überhaupt
das gestaltende Denken noch den besondem Sinn, die unwillkürhchen
— 14 —
Gebilde blosser Naturtriebe und beschränkter Ueberlegung durch eine
bewusste Gesammtaction zu veredeln und Wirkungen sichtbar zu
machen, die in der bisher abgelaufenen Geschichte nicht vertreten
sind. Es würde ein sehr beengter Begriff von der Wirklichkeit sein,
wenn man die Anlagen zu neuen Gebilden übersehen oder die Wissen-
schaft dazu herabwürdigen wollte, sich nur mit fertigen Thatsachen
zu befassen. Der höhere Aufschwung des Denkens hat stets den
schaffenden Trieben zu entsprechen gesucht und hat hiemit jene
natürliche und darum einzig wahre Prophetie geübt, die nichts weiter
als ein tieferer Bhck in die Entwicklung der Zustände ist. Das
Merkmal aber, durch welches alle jenseitig oder, wie man auch
sagen könnte, doppelweltlich gearteten Erdichtungen von dem Reich
der Wirkhchkeit unterschieden werden, ist der nachweisbare Zu-
sammenhang mit irgend welchen Elementen cheser Wirklichkeit.
Die transcendente Dichtung beginnt, wo dieser Leitfaden, der nur
zwischen lauter Wirklichkeitselementen hinlaufen darf, entweder ab-
reisst oder in das Nichts absolut leerer Möglichkeit fuhren würde.
Das Nichts des Denkens entspricht genau dem Nichts der Welt und
der Wirklichkeit. Aus diesem Grunde beruht alles unberechtigte
metaphysische Phantasiespiel auf einem Mangel oder einer völligen
Abwesenheit des eigenthchen Denkens. Die Einzigkeit des universell
Wirklichen, die mehr ist, als die blosse Einheitlichkeit, schhesst zu-
gleich den Gedanken ein, dass Alles, was Gegenstand des Denkens
wird, einem untheilbaren System des Seins angehört.
Für das natürliche System giebt es ausser den allgemeinen
Grundformen aller Existenz nur zwei eigentliche Gegenstände der
Untersuchung, nämlich die Natur und die Menschenwelt. Obwohl
die letztere nur ein besonders geartetes Bestandstück der ersteren
ist, so kann man doch das aussermenschliche Dasein und nament-
lich die kosmischen Formen desselben von dem Gebiet des eigen-
thümüch Menschhchen unterscheiden. Der Mensch kennt sich direct
von Innen, während er andere Wesen oder Dinge entweder nur von
Aussen oder innerlich nur indirect versteht. Der Mensch nimmt
ausserdem mit Ueberlegung an den Organisationen Theil, in denen
sich die Lebensformen und die Wandlungen der Geschichte bethäti-
gen. Die sociale Welt kann also als ein besonderes Bereich aus dem
Gesammtsystem der Natur ausgeschieden werden und muss bei dem
Interesse, welches sie für uns in eminenter Weise hat, au die Er-
kenntuiss die höchsten Ansprüche stellen. Trotzdem ist grade dieses
— 15 —
Erkenntnissgebiet weniger streng und mit weniger Erfolg behandelt
worden, als die kosmische Welt. Die natürliche Auffassungsart wird
hier zunächst das bisher äusserst hinderlich gewesene Vorurtheil zu
entfernen haben, als wenn die durchgängige Gesetzmässigkeit der
Natur in den Handlungen der Menschen sich verleugnen und in der
Geschichte auch nur den geringsten Abbruch erleiden könnte.
Hienach ergeben sich für die Anordnung unseres Stoffs völlig
ungezwungen drei Gruppen, nämlich die allgemeine Weltschematik,
die Lehre von den Naturprincipien und schliesshch diejenige vom
Reich des Menschen. In dieser Abfolge ist zugleich eine innerlich
logische Ordnung enthalten; denn die formalen Grundsätze, welche
für alles Sein gelten, gehen voran, und die gegenständlichen Gebiete,
auf die sie anzuwenden sind, folgen in der Abstufung ihrer Unter-
ordnung nach. Die Naturprincipien sind nämlich wiederum maass-
gebend für den Menschen als Theil der Natur, und in der uns be-
kannten höchsten Organisation des Lebens und seiner Formen müs-
sen wir alle Gesetze der vorangehenden Stufen des Seins und alle
Schemata der allgemeineren Existenz wiederfinden.
Erster Abschnitt.
Crrundgestalten des Seins.
Erstes Oapitel.
Elementarbegriffe der Weltauffassung.
JJas allumfassende Sein ist einzig. In seiner Selbstgenügsamkeit hat
es nichts über oder neben sich. Ihm ein zweites Sein zugesellen,
hiesse es zu dem machen, was es nicht ist, nämlich zu dem Theil
odet Bestandstück eines umfangreicheren Ganzen. Indem wir unsem
einheithchen Gedanken gleichsam als Rahmen ausspannen, kann
nichts, was in diese Gedankeneinheit eingehen muss, eine Doppelheit
an sich behalten. Es kann sich aber dieser Gedankeneinheit auch
nichts entziehen; denn wohin sollte ein Element verlegt werden,
welches überhaupt noch Gegenstand des Denkens bleiben soll? Was
aber nie Gegenstand des Denkens sein könnte , würde aufliören , zu
unserm Seins- und Weltbegriff zu gehören und daher für uns zu
einem völligen Nichts werden.
Es ist jedoch nicht genug, auf die angegebene Weise aus der
Einheit unseres eignen Denkens die Einzigkeit des Seins zu erkennen.
Auch jedes andere Denken würde dieselbe Idee mit sich bringen.
'i^x'^^'.Das Wesen alles Denkens besteht in der Vereinigung von Bewusst-
seinselementen zu einer Einheit. Wie wir daher auch ein Denken
ausser dem unsrigen concipiren mögen, — wir werden es in jener
letzten Wurzel auf gleiche Weise mit der Zusammenfassungskraft
und mit der Anlage ausstatten müssen, die Welt und alle Welten,
die exiötiren mögen, in seinen Rahmen aufzunehmen. Ja selbst wenn
ihm die Aussenwerkzeuge fehlten, sich im Besondem aller Wirklich-
keit zu versichern, so würde dennoch der Ausgangspunkt in ihm
selbst eine untheilbare Einheit bleiben, die der Einzigkeit alles Seins
— 17 —
entspräche und die Vereinigung aller Theile in einem Gesammt-
gedanken verbürgte. Jene vielen Welten, die wir hypothetisch und
eigentlich nur dem Worte nach genannt haben, würden sich vor
jeghchem Denken in eine einzige verwandeln.
Femer ist es wichtig, sich deutlich zu machen, dass der Grad
der Universalität des Denkens zu der eben erläuterten Einheit nichts
hinzufugt. Ob ein Denken hoch oder niedrig stehe, ob es viel oder
wenig umspanne, hängt von seiner besondern Ausrüstung ab. Es
ist aber bereits seine ganz allgemeine Natur, welche ohne Rücksicht
auf specielle Anlage und Ausstattung die durchgängige Einheit der
Auffassung und hiemit die Einzigkeit des zugehörigen Weltbegriffs
mit sich bringt. Auch die Wiederholung des Denkens in mannich-
faltigen Trägem desselben ändert an jenem Grund verhältniss nichts ;
denn es ist nicht eine Einzigkeit der Denkfun ction, sondern der
Einheitspunkt der Zusammenfassung, wodurch der untheilbare Welt-
begriff entsteht und das Universum, wie es schon das Wort besagt,
als etwas erkannt wird, worin Alles zu einer Einheit vereinigt ist.
Es wäre thöricht, diese letztere Vereinigung, vermöge deren alle
Wirklichkeit einheitüch verbunden und gleichsam zu einem einzigen
Wesen gemacht ist, als ein inneres Denken in den Dingen vorstellen
zu wollen. Dies hiesse in der That, ein Bewusstsein da erdichten,
wo keines vorhanden ist. Ein Denken ohne Bewusstsein ist aber
entweder eine nichtssagende Wortcombination oder aber ein schiefer
Ausdruck für einen Act, der gar kein Denken, sondern nur über-
haupt eine verbindende Thätigkeit enthält. Ueberdies sind die Ver-
kettungen und die Einheit, die sich am Wirklichen in verschiedenen
Schematen und Beziehungen ausdrücken, nur secundäre Folgen der
Einzigkeit, so dass in der Parallele, die wir zwischen Denken und
Sein vor Augen haben, nur zwei einfache Punkte einander ent-
sprechen. Von den mehrfachen Uebereinstimmuugen ist hier noch
gar nicht die Rede, und so kann man weder von besondern Denk-
fonctionen noch von speciellen Seinsverkettungen in dieser Grund-
frage reden. Das Denken hat seine Einheit, ehe es zu einer beson-
dem Auffassung und zu besondem Thätigkeiten der Vereinigung
übergeht. Das Sein aber ist ein einziges, ganz unabhängig davon,
wie und durch welche Kräfte es in sich verbunden werde.
Das Sein würde dieselbe Eigenschaft, die wir an ihm erläutert
haben, auch dann behalten, wenn es gar nicht gedacht würde. In-
dem wir dieses Gedankens fähig sind, beweisen wir, dass wir von
Dil bring, Cursus der Philosophie. 2
— 18 —
demjenigen Denken abzusehen vermögen, in welchem die Welt als
Gegenstand erscheint. Mit dieser Abstraction betreten wir aber
bereits jene Grenze, an welcher das Denken im Nichtdenken oder,
um es recht deutlich zu sagen, der Gedanke in Gedankenlosigkeit
erlischt. Es könnte scheinen, als wenn wir uns mit jener Idee von
der ungedachten Einzigkeit und Einheit des Seins in das Innere der
Dinge selbst versetzten und einen wesentlichen Zug erfassten, der
vor allem Denken oder, genauer gesagt, an der Grenze alles Denkens
etwas ausdrückte, was ausser dem subjectiven Bewusstsein die An-
knüpfung für eine neue Art von Logik und Consequenz lieferte. In-
dessen schwindet dieser Anschein, sobald wir erwägen, dass jede
Eigenschaft des Wirklichen von uns stets durch ein deutliches Ge-
dankenelement gedeckt wird, und dass wir nicht das Wissen von
dieser Eigenschaft mit ihrer Existenz an sich selbst verwechseln
dürfen. Unser Wissen ist nie von unserm Denken, wohl aber die
dem Begriff entsprechende Wirklichkeit von dem Acte des Begreifens
unabhängig. Der Begriff der Einzigkeit und Einheit existirt nie
ausser irgend einem Bewusstsein ; jene Einzigkeit selbst hat aber mit
Dasein oder Abwesenheit dieses oder jenes oder alles Denkens nichts
zu schaffen.
2. Von der erläuterten Einzigkeit, durch welche der selbstgenug-
sarae Weltbegriff erst gesichert wird, ist die innere Einheit zu unter-
scheiden. Wäre etwas ausser der Welt, so wäre sie nicht einzig;
fehlte es aber innerhalb ihres Bereichs an Grundgestalten, in denen
ihre Mannichfaltigkeiten umspannbar werden, so würde die durch-
gehende und abschliessende Einheitsform und gleichsam die Durch-
sichtigkeit ihres Charakters mangeln. Für unsere Begriffe stellt sich
als erst« und wichtigste Aufgabe die zutreffende Auffassung des
Sinnes, in welchem das Sein eine Unendlichkeit darzustellen vermag.
Die deutlichste Gestalt einer widerspruchslos zu denkenden Un-
endlichkeit ist die unbeschränkte Häufung der Zahlen in der Zahlen-
reihe. Wollte man aber aus dieser schrankenlosen Abfolge einen
Inbegriff und ein Nebeneinander machen, worin sich alle Zahlen im
Voraus vereinigt gedacht fanden, so würde man sich einer Chimäre
ergeben. Wie es keine letzte Zahl giebt, so kann es auch kenie
vollendete Ausführung einer Unendlichkeit geben. Das Wesen des
Unendlichen besteht eben darin, nie zu enden und nie abzuschliessen.
Seine Unvollendetheit ist die Bürgschaft der unbeschränkten Fülle
von Möglichkeiten, die sich entwickeln. Eine vollendete Unendlich-
— 19 -
keit wäre uicht nur keine, sondern auch der unvereinbarste Wider-
spruch, der sich nur erdenken lässt. Trotzdem leiden die gewöhn-
Hchen Weltvorstellungen der Philosophie hauptsächlich an diesem
Punkte.
Was in einer einfachen Einheit gegeben ist, kann an sich selbst
nicht unendlich sein, wenn es auch immerhin als der Träger eines
Ausflusses von Unendlichkeit erscheinen mag. Die Aneinanderreihung
bleibt also die einzig möghche Form, in welcher die Unendlichkeit
sich vollzieht. Wie wir zu jeder Zahl noch eine weitere Einheit
hinzufügen können, ohne jemals die Möglichkeit des Weiterzählens
zu erschöpfen, so reiht sich auch an jeglichen Zustand des Seins
ein fernerer an, und in der unbeschränkten Erzeugung dieser Zu-
stände besteht die Unendlichkeit. Diese genau gedachte Unendlich-
keit hat daher auch nur eine einzige Grundform mit einer einzigen
Richtung. Wenn es nämlich auch für unser Denken gleichgültig ist,
eine entgegengesetzte Richtung der Häufungen der Zustände zu ent-
werfen, so ist doch die rückwärts fortschreitende Unendlichkeit eben
nur ein voreiliges Vorstellungsgebilde. Da sie nämlich in der Wirk-
lichkeit in umgekehrter Richtung durchlaufen sein müsste, so würde
sie bei jedem ihrer Zustände eine unendliche Zahlenreihe hinter sich
haben. Hiemit wäre aber der unzulässige Widerspruch einer ab-
gezählten unendlichen Zahlenreihe begangen, und so erweist es sich
als widersinnig, noch eine zweite Richtung der Unendlichkeit voraus-
zusetzen.
Soweit das Sein oder die Welt in einer Production von Zu-
ständen besteht, die wie die Zahlen sich aneinanderreihen, muss
irgend ein Zustand dieser Art als der erste gesetzt werden, weil
sonst eine falsche unzulässige UnendHchkeit angenommen werden
müsste. Hiemit ist aber durchaus nicht ausgesprochen, es müsste
das Sein selbst einen Anfang haben. Im Gegentheil wird durch
jenen Gedanken erst deutlich gemacht, wie die unbeschränkte Ab-
folge von Zuständen nicht mit dem Sein selbst vollständig zusammen-
falle, sondern eben nur die Grundform sei, in der sich die in ihm
angelegte Unendlichkeit bethätigt. Unentstandenheit und ünver-
gänglichkeit kommen der Existenz nichtsdestoweniger zu, sobald
man nur von ihren differenten Zuständen absieht, die sich nur in
einer Reihe mit einer einzigen Richtung entwickeln.
Wie thöricht es wäre, ein unendliches Nebeneinander als etwas
fertig an sich Vorhandenes annehmen zu wollen, muss aus unsern
— 20 —
strengen Gedankenbestimmungen klar sein. Eine unendliche Anzahl
von Weltkörpem, die im Räume zugleich gedacht würde, wäre jene
absurde Unzahl selbst, die wir durch reine Denknothwendigkeit als
den klaffendst^n aller Widersprüche ausgeschlossen haben. Jede
Gruppe von Existenzen, innerhalb deren man irgendwo zählbare
Einzelheiten als gegebene Bestandtheile eines vorhandenen Ganzen
unterscheiden kann, muss endlich sein. Dem Räume aber, von dem
wir hier noch nicht eingehender zu reden haben, kommt nur Un-
beschränktheit , aber keine Unendlichkeit zu, indem seine Grenzen-
losigkeit nichts weiter als der Mangel eines Hindernisses für den
realen Act der Ausdehnung der Dinge ist.
Wir haben die Zahlenreihe zum Typus der wahren Unendlich-
keit gemacht und grundsätzlich die besondere Betrachtung der Zeit
ausser dem Spiel gelassen. Nun ist aber hier wenigstens soviel zu
bemerken, dass der Abfluss der Zeitreihe und die unbeschränkte zeit-
liche Entwicklung der Zustände die bestimmtere Gestalt bilden, unter
welcher wir die widerspruchslose Unendlichkeit des Weltdaseins vor-
zustellen haben. Durch die Anschaulichkeit dieser speciel leren Vor-
stellungsart wird es nun aber auch um so klarer, wie das Sein und
die Elemente desselben in sich eine Mannichfaltigkeit hegen, inner-
halb deren ein durchgreifender Unterschied einige Schwierigkeit zu
bereiten scheint. Es ist nämlich das allumfassende Sein von uns
bisher als etwas Homogenes angesehen worden, während in der That
diese einheitliche Artung durch den Gegensatz der zeitlich hinschwin-
denden Vorgänge und der bleibenden Productionskraft eingeschränkt
wird. Was sollen wir nun als eigentliches Sein oder als Kern der
Welt betrachten? Ist es der flüchtige Vorgang, der, gleichviel ob
in irgend einem Bewusstsein aufgefasst oder nicht, einem andern
Vorgange weicht? Ist es die niemals als solche zur Darstellung ge-
langende Disposition, jene Vorgänge zu häufen und zu wechseln?
Wenn wir die Gesammtheit der Entwicklungen als erschöpfendes
Gegenbild des Seins oder vielmehr als den vollständigeo Inbegriff
desselben anerkennen, so meldet sich sofort die Frage an, was die
Einfuhrung neuer Gestalten und die Vernichtung alter zu bedeuten
habe. Wenn wir aber nur in den sich selbst gleichen und beharr-
lichen Elementen das Wesen der Dinge suchen, so geben wir grade
das an der Weltproduction als nichtig Preis, was für das bewusste
Leben ausschliesslich Reiz hat.
3. Was uns an der Welt kümmert, ist nicht die Unterschieds-
— 21 -
lose, unwandelbare, sich selbst gleicbe Beharrlichkeit eines ewig re-
gungslosen Etwas, sondern die mannichfaltige, immer neue, von sich
selbst abweichende Veränderlichkeit spielender Gestalten, die sich
hinzeichnen und wieder auslöschen, ohne sich jemals in der unab-
lässigen Production zu erschöpfen. Der Rhythmus von Gestaltung
und Vernichtung, die Perioden und Phasen der sich ablösenden Er-
scheinungen, die Differenzen innerhalb der wiederkehrenden Kreis-
laufsgebilde imd noch mehr die Variationen der letzteren selbst
machen die Bühne des Daseins interessant. Ein in jedem Augen-
blick sich selbst gleiches Gesammtwesen würde die Erstarrung und
das Nichts des Lebens bedeuten. Wenn man also die Erhabenheit
des Seins in einer völligen Unveränderlichkeit gesucht und die Ver-
änderungen zu einem bedeutungslosen Schein herabzusetzen unter-
nommen hat, so ist diese Vorstellungsart aus einer Verkennung der
Idee des Lebens und aus einer Hinwegsetzung über die Grundformen
des Bewusstseins entsprungen. Zum Theil hat hiezu auch eine Ver-
wechselung des Beharrlichen, welches die Grundlage und das Gegen-
bild aller Veränderungen liefert, mit der vollständigen Veränderungs-
losigkeit geführt. Man fand sich durch den Hinblick auf das
Bleibende im Wechsel gehoben; man glaubte durch die Versenkung
des Gedankens in dieses Bleibende wenigstens ideell an der unver-
wüstlichen Dauerbarkeit theilzunehmen, und man vermeinte schliess-
lich das Beste zu thun, indem man das Unveränderliche in das
Monströse steigerte und zum einzigen und ausschhesslichen Sein
stempelte. So sind die Begriffe jenes sich selbst gleichen, verände-
rungslosen Seins entstanden, die ihren classischen Ausdruck schon
im fünften Jahrhundert vor dem Anfang unserer Zeitrechnung bei
den Eleaten gefunden haben. Die Femhaltung des Begriffs der Ver-
nichtung aus dem vermeintlich in ausschhesslicher Positivität zu
denkenden Sein möchte hiebei noch der am meisten logische Beweg-
grund gewesen sein.
In der That müsste es uns schwer ankommen, wenn wir das
der Vernichtung Anheimfallende als dem universellen Sein gleich-
artig denken sollten. Entstehung und Vergänglichkeit oder Schöpfung
und Vernichtung sind Begriffe, die sich auf das Hervortreten der
Gestalten, aber nicht auf die letzten producirenden Kjräffce beziehen,
vermöge deren die flüchtigen Gebilde kommen und gehen. Wenn
wir also auch in das Sein die Anlage zu allen Differenzen und
Veränderungen verlegen müssen, die sich in seinem Rahmen voll-
— 22 —
liehen, so haben wir uns doch zu hüten, den Act der Erscheinung
des VeränderHchen mit dem hervorbringenden Element für einerlei
zu halten. Wir können nicht umhin, den Inbegriff der Bedingungen
irgend welcher Formen von der jedesmaligen Erscheinung dieser
Formen zu unterscheiden. Jedoch kommt die entscheidende Klarheit
in diese unvermeidHchen Doppelvorstellungen erst durch die Unter-
scheidung von Beharrung und Veränderung innerhalb desselben Seins.
Im universellen Sein oder, was dasselbe bedeutet, im einheit-
lichen Weltdasein ist keine Veränderung denkbar, die nicht auf der
Grundlage einer Beharrung vor sich ginge. Beharrung und Ver-
änderung gehören als zwei Bestandtheile eines und desselben Begriffs
zusammen. Eine reine, völlig ungemischte Beharrung, in der auch
nicht das geringste Element von Veränderung wäre, schliesst zwar
keinen Widerspruch ein, wäre aber, wie schon früher gesagt, das
Nichts des Lebens. Mit ihr würde eine Welt in dem bestimmten
Sinne, wie wir sie aJs thatsächhch kennen, nicht gegeben sein kön-
nen. Dagegen zeigt schon der Begriff einer reinen Veränderung, in
der nichts Beharrliches sein soll, an sich selbst seine ünhaltbarkeit.
Ein Anderes werden, heisst nicht völlig neu entstehen, sondern als
das, was fi*üher war, zum Theil fortbestehen, indem Etwas wegfallt
und Etwas hinzutritt. Zwischen zwei verschiedenen Zuständen, von
denen der eine zu seiner Abweichung durch einen verändernden
Uebergang gelangt ist, muss irgend ein Einerlei als gemeinsames
Band aufzufinden sein, und dieses beiden Gemeinschaftliche ist das
beharrliche Element, von dem die Veränderung gleichsam getragen
worden ist. Absolute Veränderhchkeit ist daher ein unvollziehbarer
Begriff, weil das Anderswerden in ihr gar keinen Gegensatz haben
würde, an dem es sich abheben und in seiner wesentlichen Natur
zeigen könnte.
4. Das Sein, als welches wir die Welt concipiren, ist nicht jenes
sogenannte reine Sein, welches, sich selbst gleich, aller besondem
Bestimmungen ermangeln soll und in der That nur ein Gegenbild
des Gedankennichts oder der Gedankenabwesenheit vertritt. Auch
ist es, wie schon dargelegt, nicht jenes absolut Veränderungslose,
dessen Form man so oft gebraucht hat, um das Wechselspiel der
Erscheinungen als ein Nichts ausgeben zu können. Weil wir nun
aber in unserm universellen Sein Alles und jeglichen Unterschied, ja
selbst die flüchtigste Erscheinung mitbegreifen, so müssen wir diesem
Begriff gemäss auch anerkennen, dass in dem Zusammenhang der
— 23 —
Welt im Laufe der Entwicklung neue Bestandtheile, neue Gestalten
und neue Arten von Vorgängen eintreten. Blosse Kjeislaufsgebilde
genügen durchaus nicht, um die Beschaffenheit der Veränderungen
zu erklären. Die Reihe der Organisationen und die Abfolge der
Arten im Bereich der pflanzhchen und thierischen Gestaltungen ist
ein Beispiel von der Einwirkung schaffender Principien, die sich
nicht mit der Wiederhervorbringung der bereits vorhanden gewese-
nen Gebilde begnügen, sondern den Daseins- und Lebensformen neue
Elemente hinzufügen. Diese schöpferische Production inmitten der
Daseinsreihe zeigt, dass wir in dem strengen Begriff der Veränderung
ein theilweises Schaffen und Vernichten anerkennen müssen. Auch
geht es nicht an, diese erhebliche Seite der Veränderungen als ein
oberflächliches Spiel zu betrachten, bei welchem der eigentliche Kern
der Dinge nicht betheiligt wäre. Ueberhaupt wird sich jede Schöpfung
als eine Häufung von Veränderunge n ansehen lassen, und wir werden
sogar kein anderes Mittel haben, in die Gesetze der Entstehung eiu-
zudringen, als von den unserer Wahrnehmung zugänglichen Ver-
änderungen auszugehen. Schaffen und Verändern sind wesentlich
von einundderselben Natur, und das eine genau soweit begreiflich
als das andere. Absolute Schöpfung wäre eine Veränderung, die
dem Nichts folgte, und muss daher als unmöglicher Begriff zurück-
gewiesen werden.
Der angegebenen Vorstellungsart widerspricht nun keineswegs
die Forderung, den Begriff des universellen Seins sich selbst gleich
festzuhalten. Die Idee der Welt wird immer dieselbe und sich
gleiche sein, wie viele Veränderungen in ihrem Rahmen auch ge-
dacht werden mögen. Auf den Standpunkt, von welchem aus die
Weltconception vollzogen werde, kommt es nicht an; denn es ist
immer das universelle Denken, in welchem sie ihren Ausgangspunkt
hat. Alle Weltbegriffe müssen sich decken, gleichviel von welchem
Punkte der Zeit oder des Raumes sie entspringen. Für den Gedanken
hat die zukünftige Reihe denselben Inhalt, als wenn sie abgelaufen
wäre, und umgekehrt. Nur das Verhältniss des Auffassungsortes
zum Ganzen ist in diesen Fällen ein verschiedenes; aber dieses Ver-
hältniss ändert an dem eignen Inhalt des universellen Gegenstandes
gar nichts. Es wäre mithin ein Abweg, zu meinen, die sich selbst
gleiche Natur des Weltbegriffs würde durch die Anerkennung der
vollen Realität der Veränderungen beeinträchtigt. Nur dann, wenn
man das sich selbst Gleiche nicht auf den Begriff des universellen,
~ 24 —
alle Veränderungen einschliessenden Seins, sondern auf die einzelnen
mit einander verglichenen Theilzustände desselben in der Zeit be-
zieht, ergiebt sich wirklich die Veränderungslosigkeit. Diese Vor-
stellung würde aber eben nur das ewig Beharrliche und nicht alle
seine Bestimmungen umfassen. Der Satz, es bleibe das Sein in
jedem Augenblick, was es im vorangehenden gewesen, ist in dieser
Allgemeinheit falsch und muss auf die Beharrungselemente beschränkt
werden. Im Grunde der Dinge sind die Veränderungen angelegt,
ehe sie hervortreten ; aber die Art, wie diese Dispositionen sich inner-
halb des Seins gruppiren, ergiebt Verschiedenheiten, die, abgesehen
von aller Zeitausdehnung, vereinigt gedacht werden müssen und
innere, völHg reale Veränderungsprincipien vertreten. Das schwie-
rigste aller Probleme, nämlich die Bestimmung der Art, wie die
Veränderung vor ihrer Erscheinung in der Eiuheit eines zeitlich
punktuellen imd eine ausdehnungslose Gegenwart vertretenden Seins
enthalten sein könne, wird also nur dadurch lösbar, dass man ra-
dicale Veränderungen anninunt, die dem Sein selbst und nicht etwa
erst einer herabzusetzenden Erscheinungssphäre angehören.
5. Mit den Veränderungen, die als innere Wirklichkeiten und
nicht blos als Erscheinungen gedacht werden, ergiebt sich auch der
wahre Begriff der Differenzen, die den Charakter der Weltelemente
näher bestimmen. Gattung und Art oder überhaupt Allgemeines und
Besonderes sind die einfachsten Unterscheidungsmittel, ohne welche
die Verfassung der Dinge nicht begriffen werden kann. Nun würde
es aber wiederum eine Einseitigkeit sein, wenn wir nur ruhende All-
gemeinheiten oder, mit andern Worten, absolut beharrliche Gattungen
annehmen wollten. Es hiesse dies offenbar, über dem Beharrlichen
der Welt die doch als völlig real gesetzte Veränderlichkeit vergessen.
Das Allgemeine kann äusserlich als ein Gemeinschaftliches vorgestellt
werden, welches sich in einer Mannichfaltigkeit von Besonderheiten
wiederholt. Innerlicher und tiefer wird es aber gedacht, wenn man
es als ein schaffendes Element begreift, welches den verschiedenen
Gestaltungen bildend zu Grunde liegt. Die diesem Bilduugshergang
entsprechenden Gebilde enthalten das Allgemeine oder die Gattung
in Verbindung mit eigenthümlichen Bestandtheilen oder speciellen
Eigenschaften, auf deren Hinzufügung der verändernde Fortschritt
beruht. Die Hervorbringung der besondern Eigenschaften und Com-
binatiouen ist daher die entscheidende Function in der Bestimmung
der maiinichfaltigen Gestalten der Daseinselemente. Wir müssen uns
— 25 —
die verschiedenen Stufen des Generellen und Speciellen im wirklichen
Hervortreten der Erscheinungen als Entwicklungen denken, die mit-
hin wesentlich auf Veränderungen und zwar auf einer Häufung der-
selben gegründet sind. Die Arten sind hienach als Differenzen an-
zusehen, die an dem Fluss der Veränderungen theilhaben. Nur die
einfachen und letzten Unterschiede, bei denen fär uns keine Zerlegung
mehr vollziehbar ist und deren es auch an sich selbst geben muss,
sind den absolut beharrlichen Elementen der Welt zuzuzählen. Die
sonstige Variabilität wird theils auf Zusammensetzung, theils auf
Grössenveränderung zurückzuführen sein, und die verschiedenen For-
men, welche geometrische Gebilde durchlaufen, sind echte Beispiele
von rationellen Metamorphosen, zu denen eine Allgemeinheit in ihrer
besondem Bethätigung gelangt.
x4.11e Entwicklung des Besondem kennzeichnet sich dadurch,
dass zu irgend einem Etwas noch ein Anderes hinzugefügt wird.
Das Hinwegnehmen gehört zwar auch zu dem vollständigen Her-
gang, wie er sich in dem Weltschematismus vollzieht, ist aber nicht
wesentlich an erster Stelle und jedenfalls immer nur im Zusammen-
hang mit Hinzufügungen zu betrachten. Jenes Eintreten des Andern
oder, weniger abstract zu reden, des Verschiedenen ist das eigent-
liche Element der Veränderung, und grade ihm hat man den wahren
Begriff von einer Ursache entsprechen zu lassen. Ursache ist der
Grund der realen Veränderung. Alles was im Sein eine Veränderung
hervorbringt oder auf eine solche Hervorbringung angelegt ist, wird
fiir einen strengen Begriffsgebrauch den Inbegriff der Ursachen oder
Kräfte erschöpfen. Hieraus folgt aber sofort, dass auch von keiner
Ursache mehr geredet werden kann, wo keine Veränderung oder
Entwicklung in Frage ist. Nicht blos das universelle Sein in seiner
Totalität ist demgemäss ursachlos, sondern auch für die absolut be-
harrlichen Elemente desselben, also namenthch für die Materie, würde
die Frage nach einer Ursache widersinnig sein. Wer dennoch so
fragen will, muss erst die Unentstandenheit der absolut beharrlichen
Elemente leugnen oder, mit andern Worten, der wüsten Erdichtung
anhängen, dass im Sein gar nichts absolut Beharrliches vorgestellt
werde.
Irgend ein Allgemeines, welches die Abfolge der Zustände in
der Zeit bestimmt, wird die Ursächlichkeit in Form einer Regel des
Geschehens ausdrücken und so ein Gesetz der Verknüpfung ergeben.
Diese eigentlichen Gesetze, die sich stets auf Veränderungen beziehen.
— 26 —
in denen es zu keiner ruhenden Zusammenfassung kommt, sind von
den zusammenbestehenden Gattungseinheiten zu unterscheiden. Die
letzteren lassen sich bildlich durch das Beharrliche des Raumes vor-
stellen; aber auch sie schliessen ein Element der verändernden Dif-
ferenz ein, indem sie eine Mannichfaltigkeit von Bestimmungen in
einer einfachen Einheit zusammenhalten und das Heraustreten ihrer
Anlagen in der Zeit regeln. Auf diese Weise ist klar, wie sowohl
in den ruhenden Gattungen als in den unmittelbaren Entwicklungs-
formen der Zustände eine regulirende Action vorhanden sein könne.
6. Den Gattungen gegenüber steht der Begriff der Grösse, als
desjenigen Gleichartigen, in welchem keine Artdifferenzen mehr statt-
haben. Die Grösse ist gleichsam der letzte Ausläufer aller Unter-
scheidungen und die Grenze, wo die Stufen der Gattungsleiter auf-
hören. Aber grade deswegen prägen sich in der Abtheilung und
Gruppirung des Quantitativen die Gattungen eigenthümlich aus, und
die Üebergänge von einer Artgestalt zu einer andern sind an das
Durchmessen eines Grössenspielraums gebunden.
Die Grössen müssen immer als messbar gedacht werden können
und sind stets nur als begrenzt gegeben. Sie gehören dem Sein als
innere und zwar völlig specielle Bestimmungen an, so dass sie den
besondern Typen, Schematen, Gattungen und Arten beizulegen, aber
nicht unmittelbar vom Sein selbst auszusagen sind. Wie sie aber
auch den am weitesten von einander abstehenden Verschiedenheiten
des Seins zukommen, zeigt ihre Anwendbarkeit auf rein subjective
wie auf objective Zustände. Es giebt innerhalb des Seins keine er-
heblichere Ungleichartigkeit, als die der empfindimgslosen und der
empfindenden Existenzen. Nun lässt sich von einem Mehr und
Minder auch bei den eignen Empfindungs- und überhaupt Bewusat-
seinszuständen reden. Der subjective psychische Vorgang ist nicht
nur nach Gattung und Art, sondern auch der Grösse nach aufzu-
fassen; denn wo eine Häufung desselben Gleichartigen statthat, da
haben wir Grössen vor uns, auch wenn uns die Mittel fehlen mögen,
sie zu messen.
Wo die Grösse einem beharrlichen Element des Seins zukommt,
wird sie in ihrer Bestimmtheit unverändert bleiben. Dies gilt, wie
wir später sehen werden, von der Materie und der mechanischen
Kraft. Der Vorrath an Grösse bleibt sich hier gleich, und in der
That lässt sich das Unveränderliche auch, insofern es Grösse hat,
nur durch Theilung oder Zusammensetzung betroffen denken. Jeder
— 27 —
Himrafugung zu einem Theil des unveränderlichen Bestandes muss
die Hinwegnahme von einem andern Theil her entsprechen.
Die Grössen der Veränderungen produciren sich anscheinend
unerschöpflich. Innerhalb einer Gattung vervielfältigen sich die
Einzelgebilde und häufen sich der Zahl nach derartig, dass man
hier keinen Vorrath annehmen kann , aus dem die Elemente gleich-
sam geschöpft würden. Die allgemeinste Form einer solchen als
schrankenlos erscheinenden Häufung ist die Zeitdauer oder Zeitent-
wicklung selbst. Indem wir genöthigt werden, die Zeit als Grösse
zu denken, gelangen wir zu einer neuen Gestalt derjenigen Frage,
von der wir ursprünglich ausgegangen sind. Wir befinden uns näm-
lich vor einer neuen Wendung, vermöge deren sich die Unendlichkeit
im Sein in einer etwas veränderten Weise aufdrängt. Wir stellen
die Zeitdauer als eine Ausdehnuugsgrösse unter dem Bilde einer
graden Linie vor, die in einer einzigen Richtung durchmessen wird.
Ist nun die Welt der Zeitinhalt, so kann hienach" von einer Grösse
derselben und von einem unablässigen Entstehen dieser Grösse die
Rede sein. Eine rückwärts liegende Unendlichkeit haben wir bereits
oben als innem Widerspruch abgewiesen. Eine nach vorwärts ge-
richtete Schrankenlosigkeit können und müssen wir annehmen; aber
es versteht sich trotz dieser Schrankenlosigkeit keineswegs von selbst,
dass der reale Gehalt der Welt auch deswegen unablässig in Ver-
änderungen spielen werde. Die Grösse der Veränderungen könnte
also bemessen sein, während natürlich die absolut beharrlichen Ele-
mente von einer Zeitentwicklung unabhängig zu denken sind.
7. Die Ausdehnung der Welt im Räume oder, kürzer gesagt,
den Rauminhalt als eine messbare Grösse zu denken, hat keine
Schwierigkeit; denn die Unbeschränktheit des Räumlichen bezieht
sich nur auf das Leere, und wir sind keineswegs genöthigt, vorzu-
stellen, dass darin eine Erfüllung anzutreffen sei oder sein werde.
Wir können vielmehr die ganze Production dieser leeren Vorstellung
auf unsere eigne Gedankenthätigkeit nehmen. Anders verhält es sich
mit der leeren Zeit; denn sobald wir überhaupt ein beharrliches Sein
annehmen, so müssen wir es aucb als in jedem Zeitpunkt gegen-
wärtig denken. Es kann also keine Zeit gegeben haben oder geben,
die nicht als erfüllt vorzustellen wäre. Nur ist genau darauf zu
achten, dass diese noth wendige Erfüllung sich nicht auf Verände-
rungen, sondern nur auf das Beharrliche bezieht. Wir schliessen
also aus dem realen Sein auf eine ihm unter allen Umständen ent-
— 28 —
sprechende Gegenwart. Eine eigentliche Zeitausdehnung, durch welche
hin sich dauernde Vorgänge erstreckten, wird hiebei nicht gefolgert.
Für die Zukunftsvorstellungen gestaltet sich der eben dargelegte
Gedankengang zu einem wichtigen Ergebniss. Wir erkennen näm-
lich, dass zwar die Zeitentwicklung in ihrer eigenthümHchen Form
nicht hin weggedacht werden kann, dass aber die Veränderungen,
die ihr entsprechen sollen, an sich selbst einen realen Grund haben
müssen. Wenn also in der Wirklichkeit der weitere Ablauf von
Veränderungen nicht angelegt ist, so kann die blosse Nothwendig-
keit unseres Vorstellens, die Zeitausdehnung fortzusetzen, die An-
nahme einer Fortsetzung des Spiels der Veränderungen noch keines-
wegs rechtfertigen. Während der universelle Seinsbegriff unter allen
Umständen bleibt und an ein absolutes Nichts weder vor noch nach
einer Reihe von Veränderungen gedacht werden kann, — während
im Gegentheil die beharrlichen Elemente des Seins selbstgenugsam
auch ohne das specielle Zeitschema zu begreifen sind, verhält sich
die Reihe der realen Veränderungen zu der Schöpfung und Vernich-
tung der Zeittheilchen in einer ähnlichen Weise, wie die materielle
Erfüllung zum leereu Räume. Die Zeitgrössen, die wir in Gedanken
häufen mögen, verbürgen uns daher auch in der Zukunft eine Un-
endlichkeit der veränderlichen Wirklichkeit ebensowenig, als etwa
der in Gedanken erweiterte leere Raum die Fortsetzung der Materie.
Was wir aber jedenfalls voraussetzen müssen, ist eine beharrliche
Wirklichkeit, die, sich selbst gleich, auch nicht die geringste Aus-
dehnung in der Zeit zum Wesen ihres Bestandes hat.
Die wirkliche Welt hat einen Inhalt, der dem ausdehnungslosen
Augenblick entspricht, also keines Ablaufs auch nur der geringsten
Zeitgrösse bedarf, um als seiend gedacht zu werden. Zwischen zwei
Zeitpunkten ist das Ganze der Welt offenbar vorhanden, gleichviel
wie nahe wir dieselben einander rücken. Auch wenn wir sie zu-
sammenfallen lassen, hören nur die Vorgänge, Actionen und Em-
pfindungen gänzlich auf, aber die reale Grundlage der Welt bleibt
unberührt bestehen. Die strenge Gegenwart eines ausdehnungslosen
Zeitpunkts ist also die Form, in welcher wir die Wirklichkeit un-
abhängig von der wahrnehmbaren Entwicklung zu denken haben.
Die unbeschränkte Häufung der zukünftigen Zeitgrössen producirt
in strenger Beziehung auf jene scharf gedachte Gegenwart gar nichts;
denn vom Standpunkt dieser Gegenwart giebt es kein Zeittheilchen,
welches nicht entweder Zukunft oder Vergangenheit, also etwas wäre,
— 29 —
was entweder noch nicht ist, oder schon gewesen ist. Der Schema-
tismus der Zeitentwicklung ist hienach innerhalb des universellen
Seins eine eigenthümliche Gattung, in welcher die unbeschränkte
Vorstellung der Grössenhäufiing weder für noch gegen einen Ab-
schluss der realen Veränderungsreihe sprechen kann. Dasselbe lo-
gische Mittel, welches die Reihe der Veränderungen nach der einen
Seite hin einer widersprechenden Unendlichkeit entzog, ist für die
andere Seite nicht vorhanden, und hierin liegt die Gewähr, dass der
Fortschritt der Veränderungen ins Schrankenlose wenigstens möglich
ist, wenn er auch immerhin erst durch die besondere Natur der in
der Wirklichkeit gegebenen Entwicklungsanlage gerechtfertigt wer-
den muss.
!Z-^?ü^eites Oapitel-
Logische Eigenschaften des Seins.
Zu den Elementarbegriffen der Weltauffassung treten als weniger
einfache Gesichtspunkte diejenigen auf den Zusammenhang des Seins
bezüglichen Charaktere hinzu, die sich nur im Hinblick auf die lo-
gischen Gestalten der Gedankenverknüpfung näher bezeichnen lassen.
Man würde diese Grundeigenschaften des Seins gar nicht aufgefun-
den oder wenigstens nicht in ihrer eigenthümlichen Natur erkannt
haben, wenn man nicht von den Principien der logischen Verknüpfung
und des logisch Möglichen ausgegangen wäre. Ja es hat sogar über-
haupt der rein ideelle Zusammenhang des logischen und des mathe-
matischen Gebiets den besten Denkern die Anknüpfungspunkte liefern
müssen, um indirect eine Vorstellung von der verstandesmässigen
Systematik der Welt zu gewinnen. Dessenungeachtet würde es aber
ein Fehlgriff sein, den Weg und das Mittel der Erkenntniss mit
den zu erkennenden Verhältnissen für einerlei zu halten. Die Welt-
verhältnisse sind keine Verkörperung unserer logischen Merkmale
der Wahrheit; sie sind weit mehr als dies; denn die Nothwendig-
keit unserer subjectiven Logik wird von ihnen getragen. Weit ent-
fernt also, dass die Grundbeziehungen im Sein in irgend einer sub-
jectiven Instanz, also in irgend einem Denken ihren Halt hätten,
sind sie vielmehr umgekehrt diejenigen Mächte, vermöge deren alle
Denkgesetze producirt werden. Wenn wir metaphorisch von einer
— 30 -
innem Logik der Dinge oder von einer objectiven Logik der Natur
reden, so bedienen wir uns eben einer Vergleichung, in welcher die
Aehnlichkeit in einer einzigen Beziehung über die fundamentale Un-
gleichheit hinwegsehen lässt. Es hiesse, auf das Niveau der kindi-
schen Phantasien der Völker hinabsteigen, wenn man das Verfahren
eines, seiner Natur nach immer subjectiven Denkens mit seinen Ge-
sichtspimkten für die Hervor-bringung der Wahrheit in das Sein
hinein dichten wollte, in. welchem alle Gedanken erst als secundäre
Erzeugnisse auftreten. Verstehen wir aber jene bildhche üebertragung
nach Maassgabe ihrer eignen Grenzen, so brauchen wir allerdings
an den fraglichen Redeweisen keinen Anstoss zu nehmen, sondern
können uns derselben sogar bedienen, um in Kürze den rationellen
Zusammenhang der Dinge anzudeuten. Die gegenseitige Verbürgung
des Denkens und des Seins beruht auf ihrer realen Eioheit. Das
feubjective ist als solches zwar niemals in dem nichtdenkenden Gan-
zen der Natur vorauszusetzen; wohl aber weist es uns auf rein ob-
jective Verhältnisse hin, deren Siun, obwohl sie keine Denkthätig-
keiten sind, dennoch aus den correspondirenden Gestalten unserer
Vorstellungen entnommen werden kann.
Der erste und wichtigste Satz über die logischen Grundeigen-
schaften des Seins bezieht sich auf den Ausschluss des Widerspruchs.
Das Widersprechende ist eine Kategorie, die nur der Gedanken-
combination, aber keiner Wirklichkeit angehören kann. In den
Dingen sind keine Widersprüche oder, mit andern Worten, der real
gesetzte Widerspruch ist selbst der Gipfelpunkt des Widersinns. Man
verstösst gegen das logische Fundamentalprincip der Contradiction
stets nur dadurch, dass man das Unvereinbare als vereinbar setzt
und überhaupt etwas als das einführt, was es nicht ist. Nun schliesst
die Natur eine Menge von Veranstaltungen der Unvereinbarkeit ein,
die als solche im Denken anerkannt sein wollen, und auf deren Vor-
handensein die Verfassimg der Dinge mit ihren Schranken und be-
messenen Möghchkeiteu beruht. Setzte man nun diese Unvereiubar-
keiten als das, was sie nicht sind, nämlich als Vereinbarkeiten, so
würde man hiemit die Realität des Widerspruchs in die Welt hinein-
dichten. Am leichtesten triumphiren wir über derartige, aus der
Verworrenheit des Denkens stammende Zumuthungen, wenn wir
unsern Standpunkt da wählen, wo man zwischen subjectiver Vor-
stellung und objectiver Wahrheit keine besondere Brücke zu schlagen
hat. Der Satz, dass zwei mal zwei gleich vier ist und nicht gleich
— ai —
fünf sein könne, ist von einer Beschaffenheit, dass es eine meta-
physische Albernheit sein würde, auch nur fragen zu wollen, ob
dieser subjectiven Denkbestimmung ein objectiver Sachverhalt ent-
sprechen müsse. Es lässt sich nämhch in Fällen dieser Art gar
nicht angeben, wie eine subjective von einer objectiven Seite getrennt
werden solle. Die Einheit und Ungetheiltheit der realen und ideellen
Nothwendigkeit ist hier so vollkommen, dass man sie als Typus für
alle Nothwendigkeit brauchen kann, bei welcher die Spaltung in
Subjectives und Objectives auf eine trügerische, die absolute Geltung
des Verstandes gefährdende Weise unternommen wird.
2. Das Absurde als absurd setzen, heisst zunächst im Gedanken
die Ausschhessung der unvereinbaren Ideen anerkennen. Einen ent-
sprechenden Sinn hat dieser Act dann aber auch weiter in der Natur
der Dinge, indem er dort die absoluten realen Hindemisse der
Existenz zum Ausdruck bringt. Der Hebel kann nicht im Gleich-
gewichte sein, wenn real die Bedingungen seiner Bewegung gegeben
sind. Ihn im Gleichgewicht denken und zugleich eine Anordnung
der Gewichte vorstellen, die zur Bewegung führt, heisst in Gedanken
das Widersprechende als zusammenstimmend annehmen. In der
Wirklichkeit heisst es aber, die logische Schranke der Natur ver-
kennen und das nach ihrer nothwendigen Verfassung Unvereinbare
als vereinbar setzen. Ich rede hier absichtlich von einer nothwen-
digen Verfassung, weil eine Natureinrichtung, neben der noch an-
dere, das Widersprechende verwirklichende Veranstaltungen möglich
wären, grade das Widerspiel unserer Wahrheit vertreten würde.
Doch ist hier noch nicht der Ort, die völhge üebereinstimmung der
Charaktere der Nothwendigkeiten im Denken und in der ungedachten
Wirklichkeit darzulegen.
Das eben gebrauchte Beispiel des Hebels kann nebenbei auch
noch lehren, dass der logische Widerspruch und die zugehörige reale
Unvereinbarkeit mit dem natürlichen Widerstreit in den Dingen un-
mittelbar gar nichts gemein haben. Der Antagonismus von Kräften,
die sich in entgegengesetzter Richtung aneinander messen, ist sogar
die Grundform aller Actionen im Dasein der Welt und ihrer Wesen.
Dieser Widerstreit der Kräffcerichtungen der Elemente und der In-
dividuen fallt aber nicht im Entferntesten mit dem Gedanken einer
Verwirlvlichung von Widerspruchsabsurditäten zusammen. Die realen
Gegensätze oder Gegentheile bewegen sich vielmehr innerhalb des-
jenigen Spielraums, an dessen äussersten Enden die Grenzüberschrei-
— 32 —
tung wirklich eine Absurdit^ ergeben würde. Jedoch ist es fast zu
elementar, auch noch den Unterschied des logischen Widerspruchs
und des logischen Gegensatzes herbeiziehen zu wollen, zumal der
letztere nur die quantitativen Extreme bezeichnet und daher nicht
als Beispiel gebraucht werden darf, um das rein sachliche Verhältniss
des Widerstreits der Kräfte zu erläutern. Der Antagonismus ist ein
Grundschema der Weltverfassung ; aber die rein logischen Kategorien
sind in ihrer bisherigen traditionellen Gestaltung nicht geeignet, für
dieses Grundverhältniss der Dinge eine unmittelbare Deckung zu er-
geben. Nur diejenige Logik, welche sich zur Weltschematik erweitert,
ist auch im Stande, sich mit solchen Wirklichkeitsbegriffen zu be-
reichern, die über die Verknüpfangsformen des auf sich selbst be-
schränkten Denkens hinausreichen. Der abstracte Gedanke der logi-
schen Verneinung genügt durchaus nicht, um hier die Brücke zu
schlagen. Das Wirkliche will in seiner Unmittelbarkeit schematisirt
sein; es darf nicht derjenigen Eigenschaften entkleidet werden, die
ihm über die gewöhnHchen logischen Charaktere hinaus zukommen;
man darf sich also bei seiner Kennzeichnung nicht mit der Berufung
auf eine innere radicale Negation abfinden wollen; denn die gegen-
seitigen Beschränkungen der Existenzen sind weit mehr als einfache
Verneinungen. Ohne die Rücksicht auf die bestimmtere Natur-
beschaffenheit und namentlich auf das mathematische Element aller
Vorgänge ist es unmögHch, die Gesetze des Antagonismus anschau-
lich zu erkennen, und wir verweisen daher die speciellere Elrledigung
dieser Grundform des Weltdaseins in die unmittelbar auf die Natur
bezüglichen Erörterungen.
Hier können wir zufrieden sein, die Nebel, die aus vermeint-
hchen Mysterien der Logik aufzusteigen pflegen, durch einen klaren
Begriff von der wirklichen Absurdität des realen Widerspruchs auf-
gelöst und die Nutzlosigkeit des Weihrauchs dargethan zu haben,
welchen man für die der antagonistischen Weltschematik miter-
geschobene und recht plump geschnitzte Holzpuppe von Wider-
spruchsdialektik hier und da verschwendet hat.
3. Es ist nicht blos das oberste Princip der Logik in seiner
wesentlich negativen Gestalt, was auch im Sein maassgebend wird,
sondern es ist überhaupt und in positiver Weise die Eigenschaft
eine« logischen Zusammenhangs, die sich im universellen Sein in
jeder Richtung und aus jedem Gesichtspunkt antreffen lassen muss.
Die innere Consequenz und Systematik der Dinge verleugnet sich
- 33 —
nirgend nnd es kommt nur darauf an, für diese BeschaflPenheit der
Welt den richtigen Ausdruck zu finden. Hier wo wir unsere Aus-
gangspunkte von der Logik und den Eigenschaften eines ideellen
Zusammenhanges nehmen, werden wir als principielle Formel am
besten den Satz an die Spitze stellen, dass im realen Sein an sich
selbst ebenso wie im blossen Denken eine durchgängige Begründung
und demgemäss im Erkennen eine ausnahmslose Begrün dbarkeit aller
Theilbeziehungen statthabe. Man pflegt diese durchgängige Begrün-
dung als Gesetz der Causalität hinzustellen, oder in noch modernerer
Fassung von einer unverbrüchlichen Gesetzmässigkeit und Noth-
wendigkeit des Laufes der Dinge zu sprechen. Beide Bezeichnungs-
und Vorstellungsarten bedürfen aber einer erheblichen Berichtigung
und Erläuterung, wenn sie nicht die Träger einer als falsch nach-
weisbaren Metaphysik älterer Art bleiben sollen.
Am unschuldigsten ist der Gedanke einer durchgängigen Gesetz-
mässigkeit der Vorgänge. Hauptsächlich von der neuern Natur-
wissenschaft und der durch sie erzeugten Denkweise getragen, hat
er ursprünglich seine sichtbarsten Stützen in der unorganischen Welt
und in den mechanischen Noth wendigkeiten gefunden und ist von
Gebiet zu Gebiet ausgedehnt worden, bis endlich seine empirischen
Eroberungen durch Vermittlung der Statistik auch den Spielraum
menschlicher Handlungen zu betreten wagten. Die unaufhaltsame
Consequenz des philosophischen Denkens hat ihn abgeschlossen und
macht jetzt auch praktischen Ernst mit der Idee, dass keine sub-
jective Regung, keine Vorstellung, kein Willensact und kein Ein-
sichtselement in einem Wesen auftauche, ohne in dem universellen
gesetzmässigen Zusammenhang seine Begründung zu haben oder, mit
andern Worten, gesetzmässig aus den gegebenen Bedingungen und
Umständen erfolgt zu sein. Das Reich der Gedanken und Empfin-
dungen ist hienach um nichts weniger gesetzmässig, als das der
übrigen Natur. Was man sonst nur im engeren Sinne Naturgesetz
nannte, gilt in einer weiteren Bedeutung für alle Arten und Theile
des Seins. Die Doppelheit in der Vorstellungsart ist hiemit be-
seitigt. Es giebt keine Schranke, wo das sonst Alles beherrschende
Gesetz Halt zu machen und das Walten einer unmotivirten, aus dem
Nichts entscheidenden Willkür anzuerkennen hätte. Unter den spe-
cialistischen Schriftstellern wehrt sich namentlich ein Theil der Histo-
riker noch im Interesse des kurzsichtigen und inconsequenten Dua-
lismus, und er wird hierin von den Traditionen einer halben Philo-
Dühring, Cursus der Philosophie. 3
— 34 -
Sophie unterstützt, die noch immer die Reste der kindischen Welt-
ansichten mit ihren mährchenhaften Will kür Spielereien conserviren
möchte. Aber auch die Gebiete der Biographie und Geschichte
werden sich der ehernen Nothwendigkeit nicht entziehen, und es
wird nur eines etwas klareren Verständnisses der Grundgesetze alles
Denkens, Wollens und Handelns bedürfen, um auch hier wenigstens
die ehrlichen Pfleger der Wissenschaft für die Vorstellung der un-
verbrüchlichen Gesetzmässigkeit zu gewinnen.
Der Satz der Logik, dass sich aus und mit Nichts auch Nichts
begründen lasse, hat sein reales Gegenbild in der Wahrheit, dass
sich im Sein aus und mit Nichts auch Nichts ergeben könne. Ver-
gessen wir aber hiebei nicht, dass auch nach der rein logischen
Vorstellung die Axiome einer Begründung weder fähig noch bedürftig
sind. Diesen Axiomen entsprechen in der Wirklichkeit die elemen-
taren Thatsachen des Seins, die aber deswegen nicht aufhören, die
durchgängige Gesetzmässigkeit zu vertreten. Ja sogar sind sie es
grade, deren innere Nothwendigkeit und Selbstgewissheit sowohl im
Logischen wie im Realen die Entstehung falscher Unendlichkeiten
verhindert und an die Stelle der unendhchen logischen oder realen
Reihen, mit denen die bisherige Metaphysik nicht recht fertig zu
werden wusste, einen natürlichen Abschluss zu setzen erlaubt. Diese
vollkommene Uebereinstimmung der logischen Gesammtform des
Wissens mit der realen Verfassung des Seins wii*d im nächsten Ca-
pitel genauer ins Auge zu fassen sein ; hier aber kann sie uns als
Erinnerung an die richtige Fassung der Begriffe der Gesetzmässig-
keit und Nothwendigkeit dienen. Die durchgängige Begründung im
Sein, die man früher in das falsche metaphysische Dogma vom zu-
reichenden Grunde verwandelte, imd die man gegenwärtig weniger
anstöbsig, aber darum noch nicht sonderlich richtiger, als CausaUtäts-
gesetz zu formuliren pflegt, — diese ausnahmslose Begründung im
universellen Sein hat keinen andern Sinn als die vollständige Be-
gründbarkeit in einem logischen Zusammenhange. Diese letztere
Begründbarkeit hat nun aber ihre Schranke und zugleich ihre Vollen-
dung in den Axiomen, und sowenig durch die Selbstgewissheit. der
Einsichten die Wissenschaft, ebensowenig wird durch die Selbst-
genügsamkeit der Thatsachen die Natur beeinträchtigt. Im Gegen-
theil ist sogar die aus sich selbst stammende Thatsächlichkeit ein
treues Gegenbild der ursprünglichen, durch den blossen unmittel-
baren Einsichtsact verbürgten axiomatischen Nothwendigkeit. Aller-
— 35 —
dings giebt es keine Noth wendigkeit aus Nichts und in diesem Sinne
also auch keine voraussetzungslose Noth wendigkeit; aber wohl giebt
es eiue Nothwendigkeit, die nicht auf der Reihe der Begründungen
beruht, sondern selbst die Elemente zu diesen Begründungen liefert
und in diesem Sinne keine speciellen Voraussetzungen in Gründen
oder Ursachen haben kann. Worauf es also besonders ankommt,
ist die Ausmerzung des noch heute und zwar nicht blos in der Halb-
philosophie, sondern auch in den positiven Wissenschaften gepflegten
Yorurtheils der altem Metaphysik, dass die Kette der ursächlichen
Verknüpfung keine absoluten Elemente voraussetze, und dass alle
reale Nothwendigkeit in unendliche CausaUtätsreihen auslaufe.
4. Die Nothwendigkeit ist das Letzte und Höchste, wozu wir
in einer rationellen Weltvorstellung gelangen. Handelte es sich hier
schon um die Fragen nach der Befriedigung des Gemüths und nach
der Abfindung mit den schlimmen Seiten des Daseins, so würden
wir in letzter Instanz auch keine andere Beruhigung antreffen, als
die Ergebung in eine ursprüngliche, in der Natur des Seins ent-
haltene und daher unabweisliche Nothwendigkeit. Wenn es nicht
dieselbe Nöthigung ist, vermöge deren zwei mal zwei gleich vier
sein muss, wodurch alle andern Verhältnisse und Schicksale im Sein
bestimmt werden, so bleiben die üblen Thatsachen des Weltzusammen-
hangs für jedes weiter denkende Wesen unerträglich. Das Zurück-
greifen auf irgend einen Willen ist die empörendste Auskunft unter
allen; denn sie muss -bei näherer Betrachtung in der That zur In-
dignation gegen diesen Willen führen, der sich auf so Vieles ge-
richtet hat, was ohne Rücksicht auf die Nothwendigkeit nur einen
Fluch werth sein könnte. Es ist also nicht blos das Interesse der
letzten und endgültigen Erkenntniss, sondern auch dasjenige der
Leidenschaften, in einem Aeussersten, was nicht anders sein und
werden konnte, als es ist, die letzte Ruhe und das ideelle Gleich-
gewicht aufzufinden. Nun behaupte ich, dass nur diejenigen Systeme
der Weltauffassung, welche sich in der Richtung auf jene letzte
Nothwendigkeit bewegten, im Sinne wahrer Philosophie fortschritten.
Jede andere Lösung kann nur eine Scheinlösung sein, weil sie, welche
Gestalt sie auch annehmen möge , unwissenschaftlich geartet sein
muss. Die Erkenntniss in der rein ideellen Sphäre beruhigt sich
bei den Axiomen, die in dem blossen Denkact die Gewähr tragen,
dass etwas nicht anders gedacht werden könne, als es eben in dem
Axiom gedacht worden ist. Die Erforschung der realen Welt kann
— Be-
sieh auf eine andere Weise befriedigen; denn auch ihr sind letzte
Noth wendigkeiten in der Gestalt absoluter Thatsachen zugänglich.
Man würde von den Nothwendigkeiten im Sein eine falsche
Vorstellung hegen, wenn man sie nach dem gemeinen Schema der
abgeleiteten Nothweudigkeit denken wollte. Hiezu könnten die
schielenden Fassungen des Causalitätsgesetzes , die heute nicht blos
in der Metaphysik vorherrschen, allerdings Veranlassung geben.
Erinnern wir uns jedoch im Gegensatz zu diesen Fehlgriffen, dass
die Causalität nur auf Veränderungen und Differenzen bezogen wer-
den kann, und dass sie neben sich die Identität oder die sich selbst
gleiche Beharrung als gleich wesentliche Grundform zugesellt erhalten
muss. Identität und Causalität der Thatsachen zeigen erst in ihrer
Verbindung, wie man dem Schematismus des Daseins gerecht werden
könne. Die Frage nach dem Warum ist nicht überall angebracht,
und diejenige nach dem Warum des Warum kann unter Umständen
sogar eine Maske sein, mit der sich die kindische Leerheit des Ge-
dankens den Anschein des Geistreichen geben möchte. Die ganze
Dogmatik des Satzes vom zureichenden Grunde hat einen Theil dieser
Hohlheit bis auf den heutigen Tag nicht verleugnen können, wie
sich besonders zeigt, wenn sie für jedes fundamentale Etwas, welches
gar keine Veränderung und nicht einmal eine denkbare Differenz
gegen einen andern Zustand einschliesst, trotzdem eine Ursache ver-
langt. Hienach müsste z. B. die Materie eine Ursache haben, ver-
möge deren sie nach einer R^el das irgend einmal geworden wäre,
was sie ist. Ueberträgt man diese kurzsichtige und thörichte Art
eines halben Denkens auf das rein ideelle Gebiet logischer und ma-
thematischer B^riffe, so müssten für die axiomatischen Fundamental-
verhältnisse ebenfalls noch Principien, Regeln oder Gesetze gesucht
werden, aus denen sie so zu sagen erst geschaffen wären. Ihr So-
undnichtanderssein würde nicht durch sich selbst, sondern anders-
woher Geltung haben, und man sieht leicht ein, dass sich hier ein
Luxus von falschen Unendlichkeiten sehr billig anbietet. Die rück-
wärts führende R«ise in die Wüste jener auf Gedankenleerheit be-
ruhenden Unendlichkeiten ist freilich ein beliebtes Mittel, die Grund-
formen des Verstandes zu Schlingen zu machen, mit denen er sich
selbst das Athmen in der freien Weite für immer verschnüren oder
wenigstens verleiden soll. Die zurückschreitende unendliche Causa-
litätsreihe ist in doppelter Beziehung eine Täuschung. Erstens wird
sie durch die blosse Kritik des Begriffs einer vollendeten Unendlich-
— 37 —
keit hinfällig; denn eine unendliche Zahl von Ursachen, die sich
bereits aneinandergereiht haben soll, ist schon darum undenkbar,
weil sie die Unzahl als abgezählt voraussetzt. Hienach ist also noch
nicht einmal die besondere Eigenschaft des Begriffs Ursache in
Frage gekommen und dennoch schon diese Species der unendlichen
logischen Reihen als absurd abgewiesen. Zweitens ist der genaue
Begriff einer Ursache stets mit dem Hinblick auf eine Veränderung
oder Differenz verbunden. Nur insofern die Zustände sich unter-
scheiden, kann man nach Ursachen dieser Unterschiede fragen, und
überdies muss man auch die Möglichkeit der Hervorbringung eines
Unterschieds durch Differenzirung absehen. Wo eine solche Möglich-
keit nicht vorhanden ist, da wird die Anwendung des Begriffs der
Causalität widersinnig. Nun muss man bei aller intellectuellen Zer-
legung schliesslich auf Elemente stossen, bei denen die Gesichts-
punkte der Trennung und Unterscheidung aufhören, einen Sinn zu
behalten. Das Sichselbstgleiche und Beharrliche sowie überhaupt
das rein Dingliche und Substantielle, bei welchem von keinem Ge-
schehen und Anderssein die Rede sein kann, entzieht sich durch
seine eigne Natur den albernen Versuchen, es in ungeeignete Formen
pressen und das Causalität sgesetz darauf anwenden zu wollen. Wir
werden also in allen Richtungen wieder zu unsem primitiven Noth-
wendigkeiten zurückgeführt, und die Anwesenheit wie die Abwesen-
heit der Causalität bleibt nicht blos in den besondern Gattungen
ursächlicher Verknüpfung eine bestimmte, aus Thatsachen zu ent-
scheidende Frage, sondern wird auch ganz im Allgemeinen durch
bestimmte Beschaffenheiten der Realität angezeigt. Es ist nicht
Alles und Jedes mit Allem und Jedem in jeglicher Richtung nach
der Kategorie der Causalität in Verbindung zu setzen, und schon
hiemit werden die Voreiligkeiten hinfallig, deren sich namentlich
die dogmatische, wenn auch kiitisch genannte Seite der Causalitäts-
theorie in der Auffassung Kants und seiner Nachfolger, besonders
aber Schopenhauers, schuldig gemacht hat. Mit strenger Wissenschaft
sind diese letztem Rechenschaftsablegungen über die Causalität nicht
verträglich, indem sie die Functionen des Verstandes in ungeeigneter
Weise beschränken, nachdem sie dieselben zuerst durch ein falsches
System von Anwendungen compromittirt haben.
5. Es Hessen sich die logischen Eigenschaften des Seins in
mannichfaltigen Richtungen noch weiter verfolgen; aber wir müssen
uns daran genügen lassen, die obersten Begriffe dieses Gebiets fest-
— 38 —
gestellt zu haben, und jetzt diese principiellen Einleitungen durch
einen Gesammtbegriff, nämlich denjenigen der Systemnatur des Seins
abzuschliessen. Die Ausfüllung des zwischen den beiden äussersten
Conceptionen in der Mitte Liegenden ist für die allgemeine An-
schauung nm' von secundärer Bedeutung und daher für eine Arbeit,
die ihre Kraft in der con^ntrirteu Initiative suchen muss, in der
That überflüssig.
Das Kühnste, was sich im Hinblick auf das universelle Sein in
logischer Weise aussprechen lässt, ist die durchgängig systematische
^«atur desselben. Wie arm erscheinen nicht die einzelnen Katego-
rien und Gesetze der Dinge, wenn man ihre isolirte Geltung mit
der nach allen Richtungen verzweigten Systembeschaffenheit ver-
gleicht? Angesichts der letzteren kann sich der Streit der Welt-
anschauungen nicht mehr um einzelne Verstandesbegriffe und deren
Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit bewegen, sondern muss sich
auf alle wesentlichen Glieder und Begriffe des Denksystems und der
Totahtät der Wissensformen ausdehnen. Hier ist nicht mehr blos
die Herrschaft der Causalität im Gegensatz zu den falschen Voraus-
setzungen der Finalität in Frage, sondern es ist festzustellen, wie
die Systemform des Wissens überhaupt auch dem Grundgerüst des
Seins entspreche. Nicht Ursache und Zweck sind hier die einzigen
Denkformen, in deren richtigem und falschem Gebrauch der Verstand
zu seinem Rechte kommt oder gefährdet wird; alle Arten der Syn-
these oder, mit andern Worten, der rationellen Verknüpfung melden
sich in ihrer geordneten Gesammtheit an, um ihre Bedeutung für
den Weltzusammenhang geltend zu machen. Auch ist der vermeint-
lich und scheinbar kritische Weg, die bestimmteren Kategorien des
Verstandes für blos subjectiv zu erklären und von der universellen
Weltbetrachtung auszuschliessen, dem echten Wesen unseres Erken-
nens nicht sonderlich günstig gewesen. Die Betretung dieses Weges
hat zu einer überaus bescheidenen, ja aufopfernden Selbstverleugnung
des Verstandes geführt, mit welcher nur diejenigen zufrieden sein
können, denen die positive Energie des Denkens nicht behagt. Um
die Kräfte des Denkens zur positiven Thätigkeit zu emancipiren, hat
man sich vor nichts melir zu hüten, als vor den Voreiligkeiten, ver-
möge deren die wichtigsten Grundbegriffe des Verstandes ihre abso-
lute Beden tu üg für die Erkenntniss des Wesens und Zusammen-
hanges der Welt verlieren sollen. Eine der grössten VoreiHgkeiteu
dieser Art ist das Kantische System gewesen, und dessen skeptische,
— 39 —
gegen den Verstand gerichtete Natur ist heute vor aller Augen sicht-
bar gemacht. Im völligsten Gegensatze zu dieser und den vorbe-
reitenden oder verwandten Richtungen der neuern Philosophie muss
man nun die ganze Systemform aller Verstandeseinsicht zugleich als
Existenzform des Weltzusammenhangs zur Geltung bringen. Die
natürhche Tragweite unseres Denkens ist nicht so kurz bemessen,
um sofort an der absoluten Wirklichkeit der Dinge zu scheitern
oder auch nur irgendwo eine Realität zu finden, der sie nicht gewachsen
wäre. Die völlige Homogeneität ist hier eine berechtigte Voraus-
setzung, die sich weder im Besondern der einzelnen Wissenschaften
noch in dem Allgemeinen des universellen Schematismus widerlegen
lassen wird. Man mache Ernst mit der Bethätigung aller theore-
tischen Kräfte, mögen sie die Form des abstracten Begriffs oder der
concreten Empfindung haben, mögen sie im Bereich des kalten Er-
wägens oder der glühenden Leidenschaft entspringen, — und man
wird in der Welt nichts antreffen, was sich nicht mit den Elementen
unseres Wesens verwandt und durch sie erkennbar zeigen müsste.
unser Denken wird, wenn es zur wissenschaftlichen Universal-
form fortschreitet, ein sich in logischer Beziehung genügendes System.
Es hat in seinem selbstgenugsamen Zusammenhang seine Ausgangs-
und Schlusspunkte sowie seine vermittelnden Zwischenstationen. Von
den Axiomen zu den inhaltreichen Ergebnissen führt eine Stufen-
leiter, auf der man sich von der Festigkeit jeder Sprosse Rechen-
schaft zu geben vermag. Die mannichfaltigen Wendungen und
Gesichtspunkte, in denen sich die logischen Verknüpfungsformen des
Verstandes ergehen, haben sämmtlich auch eine absolute Bedeutung
für das Wirkhche, und man hat hier von mehr als blossen Gegen-
bildern der ideellen Synthese zu reden. Das ideelle System ist auch
die Schematik aller Realität, und es könnte überhaupt im Sein kein
Zusammenhang gedacht werden, wenn es nicht derjenige der ratio-
nellen Nothwendigkeit wäre. Das System ist in subjectiver Beziehung
die vollendetste Form des Wissens, in objectiver aber die einzig
mögliche Universalgestalt des mannichfaltig verzweigten Seins. Im
System ist jene letzte Einheit gegeben, ohne welche, die Vielheit
haltungslos bleiben würde; im System herrscht das Allgemeine der-
artig, dass sich ihm die Individualitäten nicht entziehen. Im System
ist der Zufall selbst eine Art der Nothwendigkeit und die Ausnahme
von der Regel durch ein besonderes, ihr eigenthümliches Princip
motivirt; im System wird die Willkür selbst zu einem Element im
— 40 —
Reiche der allbeherrschenden Nothwendigkeit ; — im System allein
wird endlich diejenige Zusammenstimmung aller Theile und Um-
stände sichtbar und wirklich, nach der nicht blos die Theorie als
nach einem Bilde, sondern auch die universelle Praxis des Daseins
als nach einer realen Ergänzung ihrer jeweiligen Unzulänglichkeiten
strebt. Im System des Erkennens befriedigt sich das Wissen; im
System des Seins genügt sich das Wollen und gleichen sich die
peinlichen Seiten der Leidenschaften des Lebens aus. Die universelle
Systematik ist mehr als die blosse Gesetzmässigkeit; der engere Be-
griff dieser letztem ist nur eine einzehie, wenn auch Alles gestal-
tende Form in ihrem Reich. Jene durchgängige Systematik ist der
letzte und höchste Gegenstand aller Vertiefung in das Wesen der
Welt, und ihre Pflege der einzige Cultus, der im Denken und Wollen
nach den abgestreiften Lrthümern der Völkerphantasien übrig bleibt.
Die Weltanschauung im Menschen vollendet sich, indem sie die Cha-
raktere des Systems der Wirklichkeit erfasst; die Weltgestaltung
vollzieht sich, indem die Natur ihr System ausfuhrt; die Leben s-
gestaltung führt sjch durch, indem der Mensch die Uebereinstimmuug
mit der individuellen und collectiven Systematik sucht, die in seinem
Wesen von der Natur und Geschichte angelegt ist. Das grosse
Princip aller Action, möge sie unmittelbar aus dem Schooss der
Natur oder vom menschlichen Bewusstsein stammen, besteht daher
darin, sich mit der allgemeinen Systematik ins Gleichgewicht zu
setzen. Keine einzige Erscheinung, möge sie eine rohe Massen-
bewegung oder die subtilste Gedankencombiuation sein, wird wahr-
haft begriffen, wenn sie blos ausserhalb jener universellen Verzweigung
zur Anschauung kommt. Aber auch die Rechtfertigung aller Thaten,
durch die der Mensch einem höheren Ziele zustrebt, ist nur denkbar,
insofern wirklich diese Thaten dem Ganzen und seinem systemati-
schen Zuge der Entwicklung entsprechen.
Wäre das Wesen der Dinge nicht in der letzten logischen Ge-
sammtform alles vollendeten Wissens ausdrückbar und trüge es nicht
in sich selbst eine Systematik und Logik, die in der Verfassung des
Verstandes gleichsam einen subjectiven Ausläufer hat, so würde alles
Erkennen ein nichtiger Schein bleiben und v/irklich das sein, wozu
es die zweifelnde, kleinmüthige und für eine unnatürliche Mystik
arbeitende Philosophie der neuem, iudirect noch immer von der
Religion 8 traditiou beherrschten Jahrhunderte fast ohne Ausnahme
hat machen wollen. Die redliche Untersuchung der logischen Eigen-
— 41 —
Schäften des Seins kann uns von diesem Alp, der auch, noch auf
dem heutigen Denken in gröberen oder feineren Gestalten fast überall
lastet, vollständig befreien und den zweiflerischen Kleinmuth be-
seitigen, der die grossen Probleme schon nicht mehr direct und po-
sitiv zu behandeln wagte.
IDrittes Oapitel-
Verhältnisse zum Denken.
Das System der Dinge auf der einen und das Denken auf der
andern Seite können und müssen in ihrer relativen Trennung be-
griffen und untersucht werden, ohne dass aber hieraus eine Ent-
fremdung des einen Elements vom andern hervorgehen darf. Es ist
das seltsame und nur aus der üeberlieferung christlicher Verstandes-
unterdrückung erklärliche Schicksal der neuem Philosophie gewesen,
den grössten Theil ihrer Kunst in der grundsätzhchen Entfremdung
jener Art entfalten zu müssen. Sie hat die Kluft zwischen dem
Denken und der letzten, absoluten Wirklichkeit scheinbar soweit
aufgerissen, dass eine üeberbrückung für diejenigen, die sich ihren
falschen Voraussetzungen unbefangen hingeben, gar nicht absehbar
ist. Für ein positives und ernsthaft dogmatisches System würde es
aber ein wunderlicher Ausweg sein, jene Fehlgriffe, die man theils
psychologische Methode, theils Vemunftkritik genannt hat, erst im
Einzelnen mitzumachen und sich hinterher mit der künstlichen Aus-
gleichung der falschen Conceptionen weitläufig abzumühen. Eine
solche Auskunft mag denen überlassen bleiben, die ihren Verstand
iu einzelnen neuern Systemen festgelegt haben und nun unter dem
Einfluss freierer Regungen ein wenig Trieb verspüren, die Festigkeit
der Stäbe und die Fügung des Gitterwerks zu studiren, die ihnen
den Zugang in die offene Natur versperren. Wir, die wir nicht- aus
dem Käfig philosophiren, können den kurzem Weg wählen und un-
mittelbar in der freien Natur die Beziehungen aufsuchen, deren wir
bedürfen. Bis jetzt hat die neuere und neuste Geschichte der Phi-
losophie noch keine Welt- und Lebensanschauung aufzuweisen ge-
habt, in welcher der menschliche Verstand zu seinem vollen Rechte
gelangt und seine Souverainetät in ihrer ganzen Wahrheit anerkannt
— 42 —
wäre. Wo seine Tragweite nicht grundsätzlich in psychologischer
oder sogenannter kritischer Weise ungehörig beschränkt wurde, da
sind wenigstens thatsächlich, wie z. B. im Comteschen Positivismus,
unleidlicjie Verzichte auf eine endgültige und das ganze Wesen der
Dinge umfassende Erkenntniss zu verzeichnen. Auch der am meisten
dogmatische unter allen neuern Systemurhebern, nämlich Spinoza,
war nur einzelnen Seiten des Verstandes gerecht geworden und hatte
den Antheil, den die Imagination in der vollendeten Weltauffassung
zu beanspruchen hat, völlig verkannt.
Die einzige Sondenmg, die wir nöthig haben, ist auch zugleich
diejenige, durch welche das Band zwischen der Wirklichkeit und
dem Denken erst recht sichtbar werden muss. Das rein ideelle Ge-
biet beschränkt sich auf logische Schemata und mathematische Ge-
bilde. Das Merkmal der hier möglichen Begriffe besteht darin, dass
in ihnen Gegenstand und Vorstellung derselbe Stoff sind und einander
völlig decken können. Das ideelle Gebilde ist hier selbst der zu-
reichende Gegenstand der Wissensbethätigung , und hierin liegt der
Grund, dass es eine von der Wirklichkeit abgesonderte, reine Ma-
thematik geben kann. U eberschreitet man dieses Gebiet und wendet
man sich z. B. auch nur zur rationellen Mechanik, so kann der sub-
jective Begriff nicht mehr das vollständige Object selbst sein, son-
dern das letztere wird stets mehr enthalten, als sich durch Häufung
subjectiver Begriffe jemals gewinnen lässt. Der Begriff von der Ma-
terie kann nie die Materie selbst sein, während der Begriff einer
Zahl oder einer Figur zwar auch nicht das Gezählte und Gestaltete
der Wirklichkeit, wohl aber alles das sein wird, woran selbstgenug-
sam die mathematische Denkthätigkeit als an ihrem zureichenden
und von ihr selbst erzeugbaren Object zunächst isolirt hafken mag.
Jede Einlassung mit der Wirklichkeit setzt aber eine thatsächliche
Zählung oder Messung voraus, und an der Noth wendigkeit dieser
empirischen Acte zeigt sich der fundamentale Unterschied, der zwi-
schen den ideellen Isolirungen der Begriffe und den realen Functionen
dieser Begriffe statthat. So ist denn mit der Trennung zugleich die
Verbindung intimer nachgewiesen, als es ohnedies hätte geschehen
können. Das Subjective ist als solches nie das Objective, aber es
ist eben das einzige Mittel, durch welches das System der Dinge
aus sich selbst seinVorstellungs- und Empfinduugsbild hervorzutreiben
vermag. Sein und Denken können und sollen nicht dasselbe sein;
aber wohl können und sollen sie einander verbürgen, und diese
— 43 —
Gegenseitigkeit vollzieht sich dadurch, dass die Denkformen als Pro-
ducte des nichtdenkenden Seins das Mittel werden, an jeglichem
Element der Wirklichkeit eine entsprechende ideelle Seite d. h. einen
subjectiven Begriff von dieser Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen.
Das Apriorische im Sinne der reinen Mathematik und das Empirische
im Sinne der rationellen Erfahrungswissenschaften bilden nur ein
einziges System, dessen Gleichartigkeit durch die ideelle Absonderung
der Selbstgenugsamen Yorstellungsgebilde nicht beeinträchtigt wird.
Der Verstand ist überall derselbe; nur dass er in dem einen Fall
sich zunächst mit seinen eignen freien Schöpfungen und Imagina-
tionen befassen kann, während er in dem andern Fall an ein ihm
äusserliches Medium wie an einen Stoff gebunden bleibt.
Die eben erwähnte Absonderung bietet auch ein Mittel dar, sich
von der rein ideellen Selbstgenügsamkeit der sogenannten formalen
Logik zu überzeugen. Die letztere braucht nämlich gar nicht auf
einen realen Stoff angewendet, sondern kann bereits vollständig in
allen ihren Schematen im Gebiet der reinen Mathematik bethätigt
und, wenn man es so nennen will, bewahrheitet werden. Dieser
Nachweis ihrer von der besondern Erfahrung und dem realen Welt-
inhalt unabhängigen Geltung kann freilich noch durch eine bessere
Wendung ersetzt werden, indem man von vornherein bei den Einzel-
heiten sichtbar macht, wie die Schemata der Logik völlig autonom
und innerhalb der rein ideellen Sphäre ihre Selbstgewissheit haben
oder ihre Beweismittel vorfinden. Die Einmischung empirischer Ele-
mente sollte fiir die Darlegung dieser allgemeinsten Verfassung des
logischen Gebiets ebensowenig gestattet sein, als für die reine Ma-
thematik, und in dieser Beziehung ist der Gebrauch realer Beispiele
in beiden Disciplinen nur mit der grössten Vorsicht ausführbar.
Andernfalls könnte leicht die Ansicht unterlaufen, als wenn die
Wahrheiten der Logik nur thatsächliche Abstractionen von Er-
fahrungsverhältnissen wären, womit dann der ärgsten Verworrenheit
und Unsicherheit des Denkens ein bequemes Mittel zur Selbstbeschö-
nigung geliefert wäre. Die absolute Nothwendigkeit der reinen Denk-
ergebnisse würde uns auf diese Weise entschwinden, und in der übrig-
bleibenden Verwimmg würden die Gelegenheiten zur Unterdrückung
der Erhebuugsversuche der Vernunft im Preise sinken müssen. Grade
aus jenem gesonderten Innewerden eines autonomen und selbstgenug-
samen Verstandes hat der Mensch thatsächlich die ersten Kräfte ge-
zogen, um sich stolz über die Zufälligkeiten der Gelegenheitsvor-
— u —
Stellungen zji erheben. Auf diesem Wege hat er gelernt, eine ab-
solute Nothwendigkeit auch da zu suchen, wo sie sich ihm nicht
unmittelbar kenntlich macht, sondern erst durch Forschung blos-
gelegt sein will.
2. Die Phantasie ist diejenige Function des Denkens, die in
ihrer Bedeutung für die Wissenschaft, für die Weltauffassung und
für die Daseinsgestaltung am meisten verkannt wird. Der Grund
hievon muss zum Theil in den frühem Ergebnissen ihrer wüsten
Thätigkeit und namentlich in jenen rohen Yölkerphantasien gesucht
werden, die auf kindische Weise jeden beliebigen Traum zur Wirk-
Hchkeit machten oder wohl gar, wie der Indische sogenannte Idea-
lismus, in der Wirklichkeit nur ein Traumgebilde sehen wollten.
Diese haltungslosen und delirirenden Verworrenheiten, die zum Theil
noch in jüngster Zeit als metaphysische Systeme reproducirt worden
sind, begreifen sich im Stadium der kindischen Unreife oder in fieber-
haften Anwandlimgen oder in den Rückbildungen der Greisenhaftig-
keit; sie mögen unter diesen Voraussetzungen ganze Epochen und
Theile der Menschheit oder gelegentlich einzelne Elemente oder ver-
kommene Schichten der Gesellschaft heimsuchen; aber sie gehören
stets in die Gebiete des Unreifen, des Pathologischen oder der bereits
von der Fäulniss zersetzten Ueberreife. Wir haben hier keine Theorie
des collectiven Wahnsinns oder gar der sich aus den Stauungen des
Lebens ergebenden Abstumpfungen imd Blödsinnigkeitsculten zu ent-
werfen ; wir haben hier nicht den Brutstätten der Superstitionen und
den durch die Aera der Religionen historisch beurkundeten Geistes-
störungen in ihre Asyle zu folgen, sondern wir haben uns einfach
an den normalen Beruf einer Function zu halten, welche durch die
Ausschweifungen, denen sie unter Umständen ausgesetzt sein musste,
auch einen Theil derjenigen Achtung eiugebüsst hat, der ihrer bes-
sern Bethätigung nicht streng genug vindicirt werden kann.
Um alle jene trüben und unheimlichen Gebilde, die sich an den
Namen der Phantasie oder Imagination in deren wüstem Treiben
anknüpften, von vornherein gründlich zu beseitigen und das wahre
Wesen jener hohen Kraft unmittelbar vor Augen zu stellen, wollen
wir sofort die am tiefsten wurzelnde und zugleich einfachste Form
ihres abstracten und apriorischen Daseins untersuchen. Anstatt uns
zur Kunst und den im engern Sinne ästhetischen Functionen der
Phantasie zu wenden, die sich noch vielfach mit ihrem ungeheuer-
lichen Missbrauch und den Gebilden der Superstition berühren, wollen
— 45 r-
wir ohne Weiteres den entferntesten, aber die meiste Klarheit ver-
sprechenden Ausgangspunkt wählen, indem wir den am wenigsten
gekannten Grundtypus aller Imagination, nämlich die mathematische
Phantasie an erster Stelle in Betrachtung ziehen. Die schöpferische
Kraft dieses Vorstellungsgebiets in der freien Hervorbringung von
Combinationen und Gebilden, in denen Zahl, Grösse, Zeit, Raum
und Bewegung die gleichsam stofflichen Mittel zur Bethätigung rein
begriffhcher Satzungen und Regelmässigkeiten abgeben, — diese
schöpferische Rolle ist zwar allgemein bekannt, alter in ihrer Be-
deutung für das System der vollen Wirklichkeit kaum in Frage ge-
kommen, geschweige hinreichend ergründet. Das Verfahren der rein
mathematischen Phantasie liefert nicht nur Ergebnisse, die den realen
Natumothwendigkeiten entsprechen, sondern ist in seiner Vollständig-
keit auch ein Erkenntnissbild jener Operationen, welche die mathe-
matische Gliederung der Naturwirklichkeit real vollziehen. Indem
die mathematische Phantasie unter der Herrschaft des Verstandes die
einzelnen Ordnungen der nach dem Grade der Einfachheit aufeinander
folgenden Gebilde entwirft, entspricht sie den aus einfachen Elemen-
ten möglichen Compositionen der Reihe nach und muss daher auch
das erfassen, was die Natur in ihrer realen Zusammensetzung nach
demselben System hervorbringt. Die Vereinigung der einfachsten
Formen der Bewegungsantriebe liefert in der realen Entstehung der
Weltkörperbahnen das berühmteste Beispiel dieser Gattung. Der im
mathematischen Sinne gedachte zweite Grad hat bei den hier frag-
lichen Gebilden den Sinn einer Doppelheit der Composition aus zwei
Factoren, und die Verbindung dieser Factoren hat nicht blos ein
ideelles sondern auch ein reales Dasein. Das Fortschreiten in der
Stufenleiter der gedanklichen und der wirklichen Elementvereinigungen
ist ein Act, in welchem sich Uebereinstimmungen ergeben müssen.
Die mathematische Phantasie ist demnach eine Instanz, bei welcher
man auf wichtige Aufschlüsse über die Weltverfassung zu rechnen
hat. Sie ist als Ganzes eine Art Inbegriff der formalen Möglich-
keiten und ergiebt mit Rücksicht auf die rein realen Elemente
schliesslich auch die letzten Noth wendigkeiten. Sie arbeitet sogar
in einer analogen Weise wie die Natur, oder es wird uns vielmehr
das Verfahren der Wirklichkeit zu einem grossen Theil nur aus den
Gesetzen verständlich, welche die vom Verstände geleitete Phantasie
in ihren Operationen beherrschen.
3. Geht man von der mathematischen Phantasie zu derjenigen
— 46 —
Gestaltung der Imagination über, welche mit allen realen, sei es
subjectiven oder objectiven Elementen thätig ist, so ist die erste
Wahrheit, deren man sich in diesem Gebiet versichern muss, die,
dass die Phantasie nicht nur keine Schöpfung aus Nichts vornehmen
kann, sondern auch dem Stoffe und der Art nach an die Erfahrungs-
thatsachen gebunden bleibt. Ihre Freiheit besteht eben nur in der
Composition; aber diese Composition ist den Yerfahrungsarten der
Natur in einem gevdssen Sinne ebenbürtig. Bis jetzt hat man diese
genetische Kraft» nur für die ästhetische Phantasie und auch hier
nur vom Standpunkt des poetischen Idealismus in Anspruch genom-
men, während die wissenschaftliche Phantasie eine bis jetzt wenig
gekannte oder doch nur in verdächtigen Aeusserungen berücksichtigte
Rubrik geblieben ist. Trotz aller Annäherungen der wissenschaft-
lichen und der ästhetischen Welt- und Lebensansichten und trotz
der hier und da hervorgetretenen Ueberzeugung, dass auch die wissen-
schaftlichen Weltbilder das System der Dinge nicht ohne die ästhe-
tische Harmonie wahrhaft widerspiegeln, ist man dennoch der in
dieser Richtung unentbehrlichen Grundvoraussetzung bisher fern-
geblieben. Wenn die Phantasie nicht eine Macht ist, die in den
Tiefen der Natur ihr reales Gegenstück hat; — wenn also der
menschlichen Phantasie nicht eine principielle Gestaltungskraft inne-
wohnt, die den Bildungen der Natur und Wirklichkeit gleichsam in
paralleler Haltung zu entsprechen und mit der gleichen Ursprüng-
lichkeit zu verfahren vermag, so müssen aUe unsere Erwartungen
voii einer idealen Erkenntniss des Seins unerfüllt bleiben. Die skla-
vische Nachahmung der Thatsachen genügt auch iu der Wissenschaft
nicht, und ohne die Existenz einer wissenschaftliehen Phantasie, die
den logischen Gesetzen gemäss die nothwendigen Gestaltungen anti-
cipirt, — ohne diese subjectiv schaffende und dem Walten der Natur
ebenbürtige Fähigkeit würden wir mit unserer Weltanschauung und
Lebensgestaltung für immer auf dürftiges und träges Stückwerk an-
gewiesen bleiben.
Man verwechsele die Halbproducte der isolirten Imagination,
also etwa die natürlichen Träume oder die metaphorischen Träume-
reien nicht mit den Leistungen der rationellen Phantasie. Die letz-
tere ist sich bewusst, mit allen ihren Vorstellungen nur auf das
Wirkliche oder im Wirklichen Mögliche zu zielen, und sie kann
daher nie den widersinnigen Anspruch erheben, mit ihren Gebilden
ein zweites, transcendentes Reich zu eröffnen. Sie betrachtet die in
— 47 —
ihrem Rahmen zu verzeichnenden Bilder nur als Erkenn fcnissmittel
der einheitlichen und einzigen, allumfassenden Wirklichkeit. Sie hat
keinen andern Glauben, als den an die Realität, und sie begreift
sogar ihre eignen kindischen oder fieberhaften Missgriffe als Störun-
gen, die von der Isolirung ihrer zusammengehörigen Elemente her-
rühren. Sie sieht in den eigentlichen und in den trauscendenten
Hallucinationen nur die untergeordnete Bethätigung ihrer vom Ver-
standeszusammenhang getrennten Kräfte. Sie selbst erkennt den
Grundirrthum in der Auffassung des Imaginativen als vollständiger
und selbstgenugsamer Wirklichkeit. In ihrer völlig rationellen Hal-
tung geht sie schon von vornherein davon aus, dass ihre Composi-
tionen nur Werth haben, insofern sie die Anzeiger einer unmittel-
baren oder entfernteren Wirklichkeit zu sein vermögen. In dieser
Rolle beansprucht sie aber auch das Höchste, indem sie sich nicht
durch die ZufäUigkeiten der grade thatsächlich gegebenen Formen
binden lässt, sondern den schaffenden Triebkräften in die nicht un-
mittelbar zugänglichen Gestaltungen folgt. Auf diese Weise wird
sie ein mächtiger Factor der anticipirenden Wissenschaft, und auch
ilu'e Bethätigung in der Kunst erweist sich hienach nur als ein höher
gesteigerter und freierer Gebrauch der Schöpfangsprincipien der Natur.
Hegte sie die letzteren nicht in sich, so bliebe sie das eitelste aller
Spielwerke des Geistes und hätte eine ausschliesslich subjective Be-
deutung. So aber, als Vertreterin der Elemente des Seins isfc sie die
Ergänzung, ohne welche das Denken trotz aller abstracten Verstandes-
begriffe in Ermangelung eines fruchtbaren Organs zeugungsunfähig
bleiben müsste.
Die wahre Philosophie muss sich heute zunächst durch den
Gegensatz von Phantasie und Wirklichkeit definiren; denn sie ist
Wirklichkeitsphilosophie im Unterschiede von der ünphilosophie der
trauscendenten oder auch immanenten Götter-, Seelen - und Willkür-
phantastik. Es bleibt ziemlich gleichgültig, ob diese ünphilosophie
ihre Visionen göttlicher und seelischer Art nebst der zugehörigen
aus Nichts entscheidenden menschlichen Willkür über die Welt hinaus
in ein sogenanntes intelligibles Reich verlegt oder bei weiterem Fort-
schritt in die Welt mitten hinein imaginirt. Diese Zerrbilder und
Ungeheuerlichkeiten einer gestörten, vom Verstände verlassenen Phan-
tasie bilden unter allen Umständen das Merkmal der wüstesten Un-
wahrheit. Hieraus folgt aber nicht, dass die Functionen der Phan-
tasie an sich selbst die Fälschung der Welt- und Lebensansichten
— 48 —
verschuldeten, sondern es ist ihre widersinnige Missleitung und ver-
kehrte Isolirung, welche die visionäre Entwicklungskrankheit des
Menschengeschlechts mit sich gebracht hat. Allerdings lag diese
Abirrung in den Nothwendigkeiten des geistigen Mechanismus; aber
ebenso nothwendig ist auch die Krisis, welche mit der Aera der
Religionen abschliesst. Angesichts der neuen Welt- und Lebens -
betrachtung können wir ohne Besorgniss vor einem Missverständniss
gradezu behaupten, dass die Üebereinstimmuugen der Phantasie und
der Wirklichkeit, wenn sie im rationellen Sinne gedacht werden,
nicht minder ein auszeichnendes Merkmal der neuen Denkweise wer-
den müssen, als die Fernhaltung der Ergebnisse ihres verkehrten
und feindlichen Gegensatzes. Weit entfernt also, die Phantasie als
Erkenntnissmittel auszuschliessen, weisen wir ihr vielmehr den Platz
an, wo sie anstatt in Entfremdung, vielmehr in der völligsten Zu-
sammengehörigkeit mit dem Wirklichen ihren hohen Beruf der idealen
Auticipation erfüllen kann.
4. Die Elemente des Denkens und die Elemente des Seins müssen
einander derartig decken, dass keine Seite oder Form der Wirklich-
keit unbegriffen bleibt. Von den Grenzen des Denkens reden, heisst
auch zugleich für die Wirklichkeit Schranken setzen. Es ist eine
der grössten Thorheiten, der Tragweite des menschlichen Denkens
andere Umrisse geben zu wollen, als der Natur selbst. Wenn das
Sein in sich Elemente hegen könnte, die weder unmittelbar noch
mittelbar, weder im Einzelnen noch im Allgemeinen, weder indivi-
duell noch der Art nach einem Denken zugänglich werden könnten,
so fehlte der Welt die Kraft, sich subjectiv vollständig zu reprodu-
ciren. Wenn aber das menschliche Denken in dem besondem Falle
wäre, für die Erfassung der Elemente des Seins unzureichend zu
bleiben, so hätte sich in dieser Richtung die din-chgängige Syste-
matik der Natur verleugnet. Es gebe alsdann ein Denken von uni-
verseller Tragweite, in welchem dennoch Lücken beständen, und
welches seinem Gegenstand nur in verzerrter Weise entspräche. Für
diese Voraussetzung spricht nun in der wirklichen Bewährung un-
seres Denkens gar nichts; im Gegentheil treffen wir nirgend auf
Theile des Seins, wo sich die Stetigkeit unserer Vorstellungen ver-
leugnete. Mit dem Fortschritt des Wissens erkennen wir immer
mehr die vollständige Uebereinstimmung, welche zwischen dem System
der subjectiven und dem der objectiven Elemente statthat. Die Kraft
und der Umfang des Denkens mögen sich in andern Wesen gesteigert
— 49 —
finden; der Arfc nach und in den Grundeinsichten muss jede Denk-
verfassung dieselbe bleiben. Andernfalls würde sich die absolute
Realität selbst verleugnen. Das Dasein niederer Subjecti vi täten ist
kein Gegenbeweis gegen unsere Voraussetzung; denn auch in dem
Rahmen ihrer beschränkten Wahmehmungsart ist volle sinnliche
und objective Wahrheit. Der Mensch aber, der sich des universell
Umfassenden in seinem auf die Welt gerichteten Denken bewusst
ist, würde mit dem Wesen dieses Denkens in Widerspruch gerathen,
wenn er eine höhere Instanz erdichten wollte, durch die es wider-
leort oder auch nur in entscheidender Weise in seinen Functionen
berichtigt werden könnte. Der Irrthum im Einzelnen darf nicht mit
einem radicalen Fehler der Constitution oder einem Mangel in den
Elementen der Composition verwechselt werden. Aller Irrthum be-
ruht auf der partiellen Isolirung des Denkens von der Wirklichkeit
und ist ein noth wendiges Erzeugniss der subjectiven Position und
relativ getrenntea Gesetzmässigkeit dieser Sphäre. Wahrheit und
Irrthum haben genau dieselbe Quelle, und es lässt sich in der An-
ordnung eines subjectiven Organs zu der ideellen Reproduction der
Dinge jene Isolirung und relative Selbständigkeit, die zum Irrthum
führt, ohne Widerspruch gar nicht als vermieden vorstellen. Hieraus
folgt aber nicht, dass die Natur darauf verzichten musste, zu jedem
Bestandtheil des Seins ein entsprechendes Yorsteliungselement her-
vorzubringen. Die Vollständigkeit der Mischung konnte allein den
normalen Typus eines zureichenden Denkens ergeben, und so werden
wir in allen Richtungen genöthigt, die Nothwendigkeit unserer lei-
tenden Grundidee bestätigt zu finden. Solange man nicht den Nach-
weis führt, dass die Denkthätigkeit etwas ihr völlig Ungleichartiges
aufgefanden habe, was aber dennoch Gegenstand irgend einer Intel-
ligenz sein könnte, — solange wird man uns gestatten müssen, an
unserer Grundvoraussetzung festzuhalten. Unser Denken hat min-
destens ebensoviel Recht, sich als ein kosmisches und für die sub-
jectiven Verhältnisse zureichendes zu betrachten, als die neuste Che-
mie, die sich mit ihren Grundstoffen und Combinationen von dem
bisherigen engen Schauplatz der Erde zu den Bethätigungen an der
Verfassung und Zusammensetzung des Universums wendet. In der
That wäre es auch ein dürftiges Denken und eine armselige Art von
Wissenschaft, welche vor einem Theil des Seins Halt machen und
ihre Unzulänglichkeit erklären müssten.
Wenn die Elemente des Seins und diejenigen des Denkens
D üb ring, Cursiis der Philosophie, 4
— 50 —
einander entsprechen, ohne jemals einerlei zu sein, — wenn also das
8ein niemals als ein Theil des subjectiven Denkens in einem uni-
versellen Traume und das subjective Denken niemals als ein maass-
gebender Bestandtheil in den Verfahrungsarten der objectiven Natur
angesehen werden darf, so entsteht die Frage, ob nicht in einer
andern Art die auf dem gemeinsamen Ursprung beruhende Verwandt-
schaft einen tiefer in das Wesen der Dinge und des Denkens selbst
eindringenden Rückschluss gestatte. Hier ist ein doppelter Ausgangs-
punkt möglich, je nachdem man mit den objectiven Beschaffenheiten
der Welt oder mit den Grundformen der Subjectivität beginnt. Da
schliesslich das Unmittelbarste immer die subjectiven Elemente sein
werden, so ist die für die Erweiterung der Erkenntniss wichtigste
Frage die, ob nicht in den subjectiven Thätigkeiten eine Hindeutung
auf die objectiven Operationen der Natur zu finden sei. Unter
üebergehung der ganz gewöhnlichen Erörterungen müssen wir hier
wiederum das Wesen der Phantasie als neues Beispiel einführen.
Allerdings liegt eine gewisse Kühnheit darin, auch nur versuchsweise
vorauszusetzen, dass die Thätigkeiten der menschlichen Imagination
eine Wiederholung und eine Art Gegenbild des Naturschaffens sein
könnten. Es versteht sich hiebei, dass an ein subjectives Bewusst-
sein, an Denkabsichten und an alle derartigen Vorstellungsdetermi-
nationen im Bereich der objectiven Natur nicht gedacht werden
kann. Aber auch die menschliche Phantasie selbst beruht nicht auf
Vorstellungen, sondern hat die letzteren zu Ergebnissen. Die Phan-
tasie wurzelt, wie überhaupt alles Denken, in Regungen, die dem
fertigen Bewusstsein vorausgehen und selbst gar keine Elemente des
subjectiv Empfundenen bilden. Man schliesst auf diese Regungen
weit mehr, als man sie eigentlich wahrnimmt. Sie liegen diesseits
der Grenze des bewussten Denkens und kündigen ihre Existenz eben
nur durch die Wahrnehmung dieser Grenze an. Jeder Gedanke und
jedes Vorstellungsbild ist etwas Erzeugtes. Vor seiner Production
wurzelte aber ein jedes derartiges Gebilde in realen und gewisser-
maassen gedankenlosen Vorbedingungen seiner Entstehung. Nun
kann das, was den bewussten Gedanken selbst erst möglich macht,
dem Wesen nach nicht tiefer stehen, als das fertige ideelle Product
selbst. Es werden also die unvorstellbaren Erzeugungskräfte der
Phantasie in der That diesseits der ideellen Sphäre liegen, und dieses
Verhältniss erleichtert uns die Aufgabe, die üebereinstiramung zwi-
schen der subjectiven Phantasie und den objectiven Naturoperationen
— 51 —
zu erkennen. In beiden Fällen wird die Herrschaft der logischen
Noth wendigkeit vorausgesetzt; aber das was uns in den Antrieben
der menschlichen Phantasie als UnvoUkommenheit gilt, darf apr der
objectiven Natur nicht ohne Weiteres ausgeschlossen werden. Der
Charakter des Yersuchsartigen in den Gestaltungen ist der Wirklich-
keit nichts weniger als fremd, und man sieht nicht ein, warum man aus
Gefälligkeit für eine oberflächliche Philosophie die Parallele der
Natur ausser dem Menschen und der Natur im Menschen nur zur
Hälfte gelten lassen soll. Es ist eine ganz willkürliche Voraus-
setzung, in den Noth wendigkeiten des objectiven Seins überall die
vom Menschen gewünschte Vollkommenheit, in derjenigen Natur
aber, die sich im menschlichen Individuum und seinem Vorstellen
kundgiebt, das Gegentheil jener Unfehlbarkeit selbstverständlich
finden zu wollen. Wenn der subjective Irrthum des Denkens und
Imaginirens aus der relativen Getrenntheit und Selbständigkeit dieser
Sphäre hervorgeht, warum soll nicht auch ein praktischer Irrthum
oder Fehlgriff der objectiven und nichtdenkenden Natur die Folge
einer verhält nissmässigen Absonderung und gegenseitigen Entjfrem-
dung ihrer verschiedenen Theile und Triebkräfte sein können? Eine
wahre und nicht vor den gemeinen Vorurtheilen zurückschreckende
Philosophie wird schliesslich den vollständigen Parallelismus und die
durchgängige Einheit der Constitution nach beiden Seiten hin aner-
kennen. Für sie wird die Natur nicht erst im Menschen anfangen,
sogenannte Verirrungen zu zeigen und sich in Abweichungen, Stö-
rungen und Ausgleichungen zu ergehen; sondern alle diese Beein-
trächtigungen der Unfehlbarkeit werden ihr in allen ihren Actionen
anhaften und bei dem Menschen wie bei ihr nur als innere Noth-
wendigkeiten zur allseitigen Ausführung des universellen Systems zu
betrachten sein. In einem gewissen Sinne hat man daher von den
menschlichen Analogien der Naturauffassung für die exacte Erkennt-
niss nichts zu besorgen, sobald man nur consequent genug ist, die
Halbphilosophie hinter sich zu lassen und nicht blos die Natur nach
dem Menschlichen, sondern auch das Menschliche nach der Natur
und mithin beide als eine einzige in sich wesentlich gleichartige
Einheit aufzufassen.
5. Die in der Philosophie stets praktisch gewesene Frage, wie
weit die menschlichen Analogien in der Auffassung des objectiven
Seins auszuschliessen seien, hat in den neueren Jahrhunderten öfter
Beantwortungen erfahren, deren Zweischneidigkeit heute nicht mehr
— 52 —
übersehen werden darf. In dem berechtigten Bestreben, die aus-
sehliesslich menschlichen Gesichtspunkte von der Auffassung des
Gannen der Dinge fernzuhalten, ist man schliesslich zu der unbe-
rechtigten Zumuthung gelangt, auch die allgemeinen Kategorien,
weil sie zugleich für menschliche Verhältnisse gelten, als zur letzten
Erkenntniss unbrauchbar ausser dem Spiele zu lassen. Mit diesem
Aeussersten hat man natürlich jede absolute Idee von dem Wesen
der Dinge preisgegeben, und was die positive Wissenschaft, wenn
sie sich nicht selbst aufgeben wollte, bleiben lassen musste, hat eine
sogenannte kritische Metaphysik, unter bescheidener Ergebung in
Unwissenheit, wirklich begangen. Die Hauptkategorie aller Wissen-
schaft, nämlich die Causalität, ist zu einer secundären, für die letzten
Verhältnisse der Dinge gar nicht gültigen Kategorie degradirt wor-
den. Allerdings war es völlig in der Ordnung gewesen, dass Hume
den Begriff der Ursache in den gewöhnhchen plumpen Fassungen
nicht gelten liess; aber die Kritik seines Inhalts durch den genann-
ten grossen Philosophen und die Unbrauchbarkeitserklärung durch
Kant waren zwei Handlungen von sehr verschiedenem Werth. Humes
Verfahren war auf Entfesselung, das Kantische aber auf Beschrän-
kung des Verstandesgebrauchs gerichtet; Beide stimmten aber darin
überein, eine erhebliche Unsicherheit übrig zu lassen. Weit glück-
licher als in der Kritik der Causalität ist die Wissenschaft und
Philosophie seit dem 17. Jahrhundert in der Beseitigung einer fal-
schen Finalität gewesen. Aber auch hier hat man mit den Absichten
oder Zwecken, deren Unterschiebung in der Naturbetrachtung mehr
und mehr verpönt wurde, auch die unschuldige Seite der entspre-
chenden Kategorien verdächtigt. Die Begriffe Mittel und Zweck sind
in ihrer abstracten Reinheit und ohne den Nebengedanken einer be-
wussten Absicht in einzelnen Gebieten gar nicht zu entbehren und
verbergen sich oft unter gleichgültigen Namen. So begleiten sie
sehr häufig die Vorstellung von physiologischen Functionen und
Einrichtungen oder verbergen sich hinter dem scheinbar indifferenten
Kunstausdruck der Anpassung an die Lebensbedingungen. Obwohl
in den neusten Vorstellungen der letztem Art die FinaHtät keine
Rolle mehr spielen soll, drängt sie sich dennoch unvermerkt oft
genug ein, und dieser Uebelstand rührt daher, dass man sich bis
jetzt keine genügende Rechenschaft von dem Grunde ihrer Aus-
schliessung aus der strengen Wissenschaft gegeben hat. Die causale
Nothwendigkeit vollzieht sich stets und liefert daher wahrhaft all-
-^ 53 —
gemeine Gesetze; eine Cansalität, die nicht wirksam würde, wäre ein
Widerspruch. Dagegen sind die verfehlten Zwecke etwas ganz Ge-
wöhnliches ; aus dem Zweck kann man nicht auf dessen Vollziehung
schliessen, und so bleibt der Zweck selbst da, wo er objectiv anzu-
erkennen ist, völlig ungeeignet, die Kette streng wissenschaftlicher
Beziehungen zu vermitteln und die letzte, lückenlose Einsicht in den
Zusammenhang der Vorgänge zu ergeben. Hieraus folgt, dass man
ihn auch da, wo über seine Objectivität, wie im Bewusstsein des
Menschen, gar kein Streit möglich ist, nur insofern in wissenschaft-
lichen Anschlag bringen darf, als er sich in der Gestalt einer Unterart
der allgemeinen Causalität verwerthen lässt. Jeder Trieb hat das
Zweckförmige in sich und wird als bewusster Trieb sogar zur eigent-
lichen Absicht. Seine Rolle für die Hervorbringung des realen Zu-
sammenhangs beruht aber nur darauf, dass er im eigentlichen Sinne
des Worts als Motiv, d. h. als Bewegungsantrieb wirkt. Ob die Be-
wegung oder Handlung, die aus ihm mit causaler Nothwendigkeit
folgt, ihren Zweck erreiche oder nicht, ist eine völlig abzusondernde
Frage, die niemals blos nach der Zwecksetzung entschieden werden
kaim, sondern von dem Spiel der sich combinirenden Ursachen er-
ledigt wird. Obwohl wir daher in der Natur Triebkräfte mit be-
stimmten Richtungen, also in einem gewissen Sinne sogar Tendenzen
mehrfach annehmen müssen, so ist doch niemals der Schluss von
einem Ziel auf dessen Erreichung zulässig, und dieser Umstand
macht alle herkömmliche Finalität der Naturerklärung zu einem
täuschenden Schein. In dieser Hinsicht, aber eben auch nur in dieser
Hinsicht können wir in Spinozas Ausspruch einstimmen, dass der
Zweck eine menschliche Erdichtung sei. Will man dagegen unkritisch
die Beziehung von Mittel und Zweck als eine ausserhalb des be-
wussten menschlichen Strebens unzulässige Kategorie ächten, so wird
man den Verstand selbst lähmen und ihn in der natürlichen Voll-
ständigkeit seiner Gesichtspunkte beeinträchtigen. Ausserdem ver-
steht es sich von selbst, dass die Untersuchung, ob die Thatsachen
bestimmten, von uns versuchsweise als Zwecken angesehenen Ergeb-
nissen der Welteinrichtung wohl oder übel entsprechen, auch dann
gerechtfertigt sein würde, wenn objective Tendenzen gar nicht vor-
handen wären. Auf die Vulgärteleologie, die wesentlich ein Gewebe
von albernen und kindischen Erdichtungen ist, haben wir hier na-
türlich nicht einzugehen. Eine haltbare Zweckmässigkeitslehre wird
in den Gebieten, wo sie überhaupt angebracht sein dürfte, niemals
— 54 —
ohne die Begleitung eiaer Einsicht in die Unzweckmässigkeiten auf-
treten. Ein ähnlicher Gegensatz ist im Gebiet der Causalitäten nicht
vorhanden; denn die ünzweckmässigkeit ist nicht eine Abwesenheit
der Zweckbeziehung, sondern eine Missgestaltung derselben.
Die bisher angedeuteten, auch historisch berühmt gewordenen
Seiten unserer allgemeinen Frage nach der Bedeutung der mensch-
lichen Analogien genügen keineswegs, um die Tragweite des Gegen-
standes ermessen zu lassen. Wir müssen einfurallemal die positive
Wichtigkeit der Analogien unseres Wesens für das Weltverständniss
begreifen, wenn wir nicht immer wieder von !Neuem Gefahr laufen
wollen, gute kritische Absichten zu Schlingen unserer Intelligenz
werden zu sehen und anstatt zu einer Reinigung zu einer Vernich-
tung des Verstandes zu gelangen. Das Princip, welches hier maass-
gebend werden muss, ist sehr einfach zu formuliren, wenn auch
keineswegs ebenso leicht zur speciellen Anwendung zu bringen. Das
specifisch Menschliche darf nicht auf die Welt übertragen werden,
und nur das Uebereinstimmende, dessen Gleichartigkeit im besondem
Falle ausgemacht werden kann, darf eine Brücke zum Verständniss
der Dinge bilden. Nun vereinigt der Mensch in sich ein Stufen-
system von Arten des Seins, welches mit der niedrigsten Gattung
beginnt und bis zur höchsten aufsteigt. In dieser Schichtung müssen
sich die Anknüpfungspunkte für die Wissenschaft finden, und inner-
halb dieses weit ausgespannten Rahmens müssen sich alle Typen zur
Kennzeichnung des Systems der Dinge aufsuchen lassen.
Um den Gegensatz unseres Gedankens zu der gewöhnlichen Un-
sicherheit der Naturauffassung sichtbar zu machen, erinnern wir nur
beispielsweise an einen Hauptfall, in welchem das menschhche Ver-
fahren mit demjenigen des Systems der Dinge verghchen werden
darf. Das Rechnen mit dem Allgemeinen, mit der Wahrscheinlich-
keit und mit dem Zufall ist für die menschliche Wirkungsweise un-
mngänghch; die menschlichen Institutionen sind in vielen Richtungen
so geartet, dass eine Menge von Antrieben von ihnen ausgeht, die
niemals ihren Gegenstand finden. Die Verluste an Kraft sind hiebei
unvermeidlich, und Vielen erscheint es als eine specifisch mensch-
liche Unvollkommenheit, dass in Richtungen gehandelt werden muss,
in denen die Mehrzahl der Fälle unergiebig bleibt. Diese Noth-
wendigkeit ist aber in der That keine auf den Menschen beschränkte
Unvollkommenheit, sondern findet sich in weit höherem Maasse in
der aussermenschlichen Natur selbst. Im System der Dinge werden
— 55 —
die Möglichkeiten und Keime in allen Richtungen verschwenderisch
ausgestreut, und die wirklich fruchtbaren Entwicklungen bilden nur
eine kleine Zahl im Verhältniss zu der Fülle der im einzelnen Fall
vergeblichen und verfehlten Vorkehrungen. Dennoch ist diese Artung
der Veranstaltungen eben nichts weiter als eine aus der systemati-
schen Action entspringende Nothwendigkeit , zu deren Verständniss
die Analogie der menschhchen Verhältnisse vollkommen ausreicht.
Anstatt also von einem Mangel zu reden, müssen wir sowohl im
Fall des Menschen als der sonstigen Natur eine und dieselbe Nöthi-
gung anerkennen, und ausserdem zugestehen, dass es die innere
Logik des universellen Systems selber ist, welche die nach Wahr-
scheinlichkeitsgrundsätzen angelegten Beziehungen mit sich bringt.
Der specifische Unterschied zwischen dem Menschen und der Natur
besteht in dieser Richtung nur daria, dass jener den Zufall vorfindet,
und dass diese ihn selbst geschaffen und zugleich mit den Veran-
staltungen zu seiner Beherrschung möglich gemacht hat. Die frag-
liche Kluft zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen ist hie-
nach ein wesentlicher Bestandtheil im System der Dinge, und wir
haben kein Recht, die grosse Arbeiterin, welche man Natur nennt,
anders anzusehen, wenn sie ausser uns ohne Vorstellung, als wenn
sie in uns durch Vermittlung unseres Bewusstseins thätig ist.
TT
fyi.-, "P^h!"
Zweiter Abschnitt.
Principien des laturwissens.
t Erstes Oapitel-
Ausgangspunkte.
W as wir hier Principien des Naturwissens nennen, vertritt in einer
Gestalt, die der gegenwärtigen exacten Denkweise entspricht, die
frühere Naturphilosophie. Die letztere wurde in den neueren Jahr-
hunderten wesentlich als rationelle Physik verstanden, welche hier
und da mit einigen rein logischen oder metaphysischen Elementen
ausgestattet war, bisweilen aber auch so tief sank, dass sie zur
wüsten, auf Unwissenheit beruhenden Afterpoesie wurde und ein
Spiel für grosse Kinder und Ignoranten bildete. Nachdem sie na-
meutHch auf Deutschem Boden im Anfang dieses Jahrhunderts am
meisten entwürdigt und der prostituirten Philosoph asterei eines Schel-
ling und ähnlicher, im Priesterthum des Absoluten kramender und
das Publikum mystificirender Gesellen anheimgefallen war, hat
schliesslich die Ermüdung im Unsinn, unter gleichzeitiger Einwirkung
der ausländischen, von der Deutschen Mystik nur wenig berührten
fachwissenschaftlichen und positiven Auifassungsweise, dahin gefuhrt,
dass man, abgesehen von den eigentlichen Philosophirem der Schul-
stätten, in der Verachtung jener Missgestalten zu einer sonst seltenen
Uebereinstimmung gelangt ist. Mit dieser Lossagung der besten
Vertreter der Specialitäten von den ungeheuerlichen Zerrbildern un-
wissender Naturphilosophastrik ist aber die Lücke niu: um so fühl-
barer geworden; denn mit dem Ekel vor dem Ungeniessbaren hat
sich keineswegs sofort das Geniessbare wieder eingefunden. Im
Gegen theil ist die Haltlosigkeit Einzelner unter den Naturforschem
in allerjüngster Zeit erst recht sichtbar geworden, und was das
breitere Publicum anbetrifft, so ist für dasselbe bekanntlich der Ab-
tritt eines grössern Charlatans oft nur die Gelegenheit für einen
kleinem, aber geschäftserfahrenen Nachfolger, die Productionen jenes
unter einem neuen Aushängeschild zu wiederholen.
Die ernstere Gefahr droht jedoch nicht von solchem wüsten
Gelegenheitsskandal, dem hier und da auch wohl ein Specialist in
seiner philosophischen Unschuld oder, wenn man will. Rohheit zum
Opfer fällt, sondern von den zerfahrenen Voreiligkeiten, deren sich
manche Pfleger der Fachwissenschaften in ihrer Betheihgung an der
eigentlichen Philosophie schuldig machen. Die Annäherung des
letzten Viertels des 19. Jahrhunderts wird nämlich in der allgemeinen
Wissenschaftsgeschichte einst auch dadurch markirt werden können,
dass man auf den in diesem Zeitpunkt besonders sichtbaren philo-
sophischen Dilettantismus der Specialisten hinweist. In der That ist
jetzt aller Orten bei den verschiedenartigsten Repräsentanten der
Naturwissenschaft eine Art Wetteifer eingetreten, ihre Speculationen
über philosophische Grundfragen öffentlich zum Besten zu geben.
Auf diese Weise ist Naturphilosophie ein wenig zur Nebenbeschäfti-
gung von Jedermann geworden, der auf eine Führerschaft in irgend
welchen Specialitäten Anspruch macht und aus seiner besondern Be-
hausung zu einem Ausflug in das Reich der weltumspannenden Ideen
Lust verspürt. Dieser Gang der Sache wäre nun an sich höchst er-
freulich, wenn sich nur zugleich die Grundbedingmng erfüllt fände,
ohne welche eine eingreifende Betheiligung an der specifischen Phi-
losophie unmöglich und der Anspruch des Maassgebenden bis zur
Lächerlichkeit hinfällig wird. Diese Bedingung ist eine hinreichende
Kenntniss und Uebung der philosophischen Denkweise und nament-
lich ihrer Art, mit den feinsten Begriffen der Weltauffassung zu
verfahren. Die ünbeholfenheiten und Verstösse, die in dieser Hin-
sicht bei einer Anzahl Specialisten offenbar geworden sind, haben
die Welt mit keiner echten Naturphilosophie, wohl aber mit der
Blosse der rein specialistischen Naturwissenschaft oder vielmehr mit
der unzulänglichen philosophischen Bildung eines Theils ihrer Ver-
treter bekannt gemacht. Diejenigen, welche mit derartigen eitlen
Kundgebungen am vorschnellsten gewesen sind, tragen die Schuld,
wenn nun auch die Achtung, die man früher der Denkweise der
positiven Gebiete bisweilen ohne Rückhalt zollen konnte, mit dem
Verdacht eines ungehörigen und in einem gewissen Sinne ignoranten
Philosophirens vermischt werden muss.
— 58 —
Die Erwartung, auf dem Boden der Naturwissenschaft selbst
eine gediegene Naturphilosophie emporwachsen zu sehen, lag im
letzten Menschenalter ziemlich nahe, ist aber in den Hauptrichtungen
getäuscht worden. Selbst bei den paar Entdeckern und Forschem
ersten Ranges, welche die civiHsirte Welt als wirkHch im grossen
Stile epochemachend aufzuweisen hat, sind die eigentlich philosophi-
schen Gesichtspunkte äusserst dürftig gerathen. Sogar in Fällen, in
denen die philosophische Speculation an der Ermöglichung der neuen
Aufschlüsse einen grossen Antheil hatte, sind mit den zutreffenden
Ideen so rückständige Auffassungsarten vermischt worden, dass man
auch hier von einem etwa vorhandenen günstigen Yorurtheil für den
philosophischen Beruf der Positivisten zurückkommen musste. Nun
bleibt allerdings trotzdem der philosophische und methodische Ge-
halt der rationellen Naturwissenschaft, der sich mit ihren einzelnen
Lehren und Verfahrungsarten verbunden findet, von den eignen Aus-
schweifungen oder Unzulänglichkeiten der speciaHstischen Fachver-
treter im Wesentlichen unberührt bestehen, und seit Galilei sind
nach dieser Seite hin manche Fundstätten zu bezeichnen. Allein
diese Art von latenter Naturphilosophie ist nicht ohne Weiteres zu-
gänglich und will gleich dem edlen Metall erst aus dem unreinen
Zustande ausgeschieden sein, ehe sie ihre selbständigen Dienste leisten
und in voller Rationalität fungiren kann. Allermindestens wird sie
ohne diese Vorarbeit kein Gegenstand des allgemeinen wissenschaft-
lichen Verkehrs und kein Organ des Denkens werden, welches für
eine grössere Zahl irgend welche Förderung bieten könnte. In höchst
vereinzelten Fällen, deren die Geschichte der neuern Jahrhunderte
nur wenige kennt, wird eine Art von Ebenbürtigkeit des Genius
auch die speculativen Antriebe der unzulänglich formulirten Gedanken-
ansätze älterer Forscher fruchtbar werden lassen; aber der Regel
nach werden die Tiefen ohne Untersuchung bleiben, ja nicht einmal
bemerkt werden. Die grosse Mehrzahl der Wissenschaftspfleger, ein-
schliesslich der gewöhnlichen, im Vordergrunde befindlichen Distin-
guirtheiten und Renommirtheiten des Augenblicks, wird nicht ein-
mal von der Existenz jener Schätze eine Ahnung haben, und so wird
das gemeine Getriebe sich abspielen, ohne dass die philosophischen
Bestandtheile der positiven Wissenschaft in sichtbarer Absonderung
zu Tage gefördert oder wirksam würden.
Das unvorbereitete, im schlimmen Sinne des Worts dilettanten-
hafte Philosophiren der Specialisten bedeutet nichts Anderes als den
— 59 —
anarchischen Zustand und die Auflösung der bisherigen unzuläng-
lichen Philosophien. Die allgemeine Gedankenströmung muss erst
wieder bei dem Punkte anlangen, wo sie sich ihrer selbst in einem
geregelten System bewusst wird, um die Miseren des unzurechnungs-
fähigen üebergangszustandes abzustreifen. Eines wird sich jedoch
wohl ohne Weiteres in der hier gebotenen Kürze nachweisen lassen,
dass nämlich eine exacte Naturphilosophie kein blosser Positivismus
sei, möge man denselben in seiner specialistischen Naturwüchsigkeit
oder als umfassendes System einer vermeintlich zulänglichen Philo-
sophie verstehen. Die Positivität der Erkenntniss ist in der Natur-
wissenschaft ein ebenso verdächtiger Begriff wie in der Rechtswissen-
schaft. Diese falsche Selbstgenügsamkeit der positivistischen Auffassung
der Thatsachen beruht nur auf der Beschränktheit, in welcher eine
niedere Erkenntnissstufe beharren kann, solange die in ihr waltende
Trägheit die höhere Staffel nicht zu sehen erlaubt. Die Hinweg-
setzung über die Nothwendigkeit letzter principieller Ausgangspunkte
ist der Charakter aller einseitigen Positivität, möge sie in der Theorie
oder in den Gestaltungen des Lebens eine Rolle spielen. Im Natur-
wissen ist aber das Haltmachen vor falschen oder, besser gesagt, er-
logenen Grenzen des Erkennens die schlimmste Art der Gefährdung
der SouveraJuetät des Verstandes, weil grade hier die massivsten
Grundpfeiler der menschlichen Selbstgenügsamkeit aufgeführt worden
sind. Wenn sich daher eine Art von allerdings stark verschleiertem
Mysticismus auch auf diesem Gebiet einfindet, so haben wir in der
Aufnahme oder Duldung dieses Feindes aller natürlichen Logik den
vollendeten Hochverrath an der Wissenschaft vor uns, und das Ver-
brechen gegen die Majestät des souverainen Denkens ist in dieser
Gestalt das grösstmögUche. Die Handhabung der mystischen In-
fection verhält sich zu den plumperen Mitteln des Obscurantismus,
wie Giftmord zur offenen Gewalt. Die gewöhnliche Geistespohzei
mit allen ihren, die Vernunft verhöhnenden Chicanen ist noch bei
Weitem nicht so niederträchtig, als derVerrath, der von denen, die
als Handwerker der Wissenschaft bezahlt werden, dadurch geübt
wird, dass sie, halb verworren und halb verlogen, ihre wankenden
Gehimchen dazu hergeben, in Form mystischer Anzweiflungen oder
Einschränkungen die absoluten Grundlagen des mathematischen und
des Naturwissens zu verleugnen. Indem sie diese auflösenden und
verstandzersetzenden Mittel colportiren, mögen sie von dem Obscu-
rantismus zwar einige Gunst einernten, und da von ihm die Aemter
— 60 —
und das Geld meist noch in überwiegendem Grade abhängig sind,
auch ihre Taschen leichter füllen; aber die Plünderung der Wissen-
schaft, die sie mit der Preisgebung der absoluten Geltung derselben
verüben, wird sich nicht blos an ihnen, sondern auch an dem rächen,
was sie als Brut in scientifischer Beziehung hinterlassen. Die Schwach-
köpfigkeit der gewöhnlichen Art, welche ohne eigne Schuld in die
Netze des Mysticismus geräth, ist hier natürlich nicht gemeint, son-
dern es sind nur die in den Spitzen der wissenschaftlichen Hierarchie
von legalem Stempel sichtbar gewordenen Abfallserscheinungen ge-
meint. Auch ist die ganze civilisirte Welt und nicht etwa blos das
Terrain diesseits des atlantischen Oceans in der einen oder andern
Gestalt von den Missgebilden der bezeichneten Art heimgesucht
worden, und man kann mit Zuversicht voraussagen, dass diese
Schande den Gang der Wissenschaft noch einige Zeit begleiten
werde. Um so entscheidender wird nun aber die Darlegung der
Punkte sein, die für den redlichen Forscher jederzeit ausreichen wer-
den, um die Hauptrichtung seines Weges trotz aller Ablenkungs-
versuche unwissenschaftlicher Art nicht zu verfehlen.
2. Vor Allem muss im Begriff der Natur selbst ein gefahr lieber
Abweg signalisirt werden. Es ist nicht blos die falsche spiritua-
listische Tradition, sondern auch ein lange eingewöhnter Mangel an
Wirklichkeitssinn, der es verschuldet, dass man in der Natur nicht
immer das selbstgenugsame Ganze erblickt, welches ausser sich keine
Voraussetzungen hat und keines andern Seins zur vermeintlichen
I^gänzüng bedarf. Die Naturwissenschaft richtet sich auf dieses
autonome Sein, und die von ihr fesi^estellten Gesetze und Eigen-
schaften dieses auf sich selbst beruhenden Seins sind absolute Wahr-
heiten letzter Instanz. Wenn man nun aber dennoch in einem en-
geren Sinne von Naturwissenschaft reden kann, so rühi-t dies tlieils
von ihrer herkömmlichen positivistischen Beschränkung, um nicht
zu sagen Beschränktheit, theils aber auch von dem Umstände her,
dass nicht blos die Innerlichkeit bewusster Wesen, sondern auch die
gesellschaftlichen Gebilde und mithin die Geschichte des Menschen-
reichs von dem Naturwissen als eine selbständige Sphäre der Unter-
suchung abgesondert werden. Die Betrachtung der unmittelbaren
Innerlichkeit bewusster Wesen ergiebt die sogenannte Psychologie,
die aber nichtsdestoweniger ein Naturgebiet, wenn auch ein eigen-
thümlich ausgestattetes und daher abgesondert für sich zu behan-
delndes bleibt. Ueberall sonst fällt das sogenannte Innere der Dinge
— 61 —
mit dem Aeusseren derselben zusammen, und wenn wir übrigens in
der Materie von inneren Bestimmungen reden, so meinen wir in der
That nichts als diejenigen Eigenschaften der Körper, vermöge deren
die äusseren Erscheinungen nicht blos in der Gestalt von Rück-
wirkungen auftreten. Nun hört die Natur da, wo sie^sich zur Inner-
lichkeit des Bewusstseins steigert, nicht auf, das zu sein, was sie
übrigens ist, und^ so wird auch diese vermeintliche Schranke eben
nur zu einem einfachen Eintheilungsprincip. Kennten wir das Schick-
sal der dem Menschen analogen Wesen auf irgend einem andern
Weltkörper, so würden wir auch dort sowohl die innere Beschaffen-
heit des Bewusstseins als speciellen Gegenstand der Untersuchung
abzusondern und ausserdem neben der Natur im allgemeinen Sinne
ein Reich der gesellschaftlichen Organisation und Geschichte für
diesen Schauplatz anzuerkennen haben. Wäre uns aber eine genü-
gende Anzahl solcher Welten näher bekannt, so würden wir die ge-
sellschaftlichen und geschichtlichen Systeme der verschiedenen kos-
mischen Schauplätze in eine einheitliche Wissenschaft zusammenfassen
und über die Abhängigkeit der Entwicklungsformen bewusster Wesen
von der umgebenden Natur etwas ausgiebiger urtheilen, als es uns
bis jetzt die Wirkungen unserer klimatischen Unterschiede ermöglicht
haben. Grade aber mit dem Gedanken der kosmischen Ausdehnung
der sogenannten Psychologie und der socialen Erkenntniss schwinden
alle Beschränktheiten, die man noch etwa dem Herkommen gemäss
für die eigenthümliche Stellung der Menschengeschichte conserviren
möchte. Wenn daher auch wir der Natur im engern Sinne die so-
ciale Welt gegenüberstellen und im Bereich der letzteren alle Wissen-
schaftsverzweigungen unterbringen, die nicht der physikalischen,
chemischen oder physiologischen Aeusserlichkeit der Dinge gelten,
so verzichten wir hiemit nicht etwa auf die Einheit und Gleichartig-
keit der Principien, sondern treffen eben nur eine dem specifischen
Unterschied der Wirkungen entsprechende Eintheilung. Die Bewusst-
seinsphänomene sind uns ebensosehr Natur wie alles UebrigCj, und
wir sind soweit als möglich davon entfernt, dieselben ohne ihre ma-
teriellen Voraussetzungen mit den Spiritualisten gleichsam in der
Luft schweben oder, besser gesagt, auf Nichts beruhen und aus dem
Nichts heraus selbstgenugsam existiren zu lassen. Die ganze äussere
Natur mit ihrer ungezählten Menge von Sonnen und andern Welt-
körpem würde vielmehr als die thörichtste Zurüstung erscheinen,
wenn nicht in ihr selbst die Hervorbringung ^dermannichfe.ltißsten
— 62 —
Bewiisstseinsformen angelegt wäre. Umgekehrt wäre aber die that-
sächliche Wirklichkeit der Naturbühne eine widersinnige Ueberflüssig-
!^itj^wenn sich die Phänomene des Empfindens und Lebens durch
I das voraussetzungslose Träumen eines körperlosen sogenannten Geister-
I reichs produciren Hessen. Diese letztere, völlig kindische Yorstellung,
mit der man das gute Wort Idealismus in anspruchsvollen Systemen
geschändet hat, mag jedoch der Theorie des speculativen Wahnsinns
überlassen bleiben ; denn mit jener Vorstellung beginnt die Unfähig-
keit, das Subjective vom Objectiven zu unterscheiden und die Hal-
lucinationen als das zu nehmen, was sie sind.
Nach dem von uns dargelegten Begriff ist die Natur der un-
verkürzte Inhalt der gesammten Wirkhchkeit und der Träger aller
Möglichkeiten. Sie ist dies auch in ihrer sogenannten Aeusserlich-
keitV^ö dass man sagen kann, das materielle und mechanische System
der Naturtotalität sei auch die Grundlage für alle besondem Arten
der Phänomene. Wo sich diese Grundlage nicht findet, da ist auch
sonst keine Existenz anzutreffen. Das Sein überhaupt fallt mit dem
materiellen und mechanischen Sein zusammen, und die Bewusstseins-
phänomene, die als solche zwar weder Stoffe noch mechanische Kräfte
sind, haben dennoch ihr Dasein nur durch Vermittlung materieller
und mechanischer Vorgänge. Ja man kann sagen, dass sie, abge-
sehen von dem unmittelbaren Begriff des subjectiven Vorstellens und
Empfindens selbst, in nichts weiter als einer bestimmten Form me-
chanischer Stoffbewegung bestehen. Für die Wirklichkeitsphilosophie
ist es von entscheidender Wichtigkeit, dass in jedem gegenwärtigen
Dinge auch die ausächliessliche Befassung aller an dasselbe geknüpf-
ten Möglichkeiten völlig materiell gedacht werde. Ohne den Leit-
faden der Materialität kann man in der Voraus- und Rückbestimmung
der Vorgänge nur zu unwahren Träumereien und haltungslosen
Fictionen gelangen. Die Materiahtät der Verknüpfungen ist das ein-
zige sichere Merkmal des realen Zusammenhanges. Wo sie fehlt, da
stellt sich das absurde Wunder mit seiner willkürlichen Phantastik
ein. Hienach ist die Natur als der universelle Zusammenhang des
Materiellen zu betrachten! Die in ihm anzutreffende Identität und
Causalität umfasst alle Gattungen der Existenz, und sogar auf die
Anwesenheit oder Betheiligung des Bewusstseins bei einem Vorgange
lässt sich nur nach Maassgabe der materiellen Erkennungsmittel und
Umstände schliessen. Die Zeit hat nur für die Entwicklung der
verschiedenen Zustände eine Bedeutung; übrigens ist aber das Etwas,
— 63 —
^^y\fiii*^^i(4lf^^
welches in seiner materiellen Wirklichkeit Gegenstand unserer Er-
kenntniss wird, auch zugleich der volle Inbegriff von dem, was es
in irgend einer Zeit sein oder gewesen sein könnte. "Vermöge dieser
Vollständigkeit der Dinge und ihres Systems, die sich nicht nur in
jeden Augenblick zusammendrängt, sondern sogar ausserhalb des
Augenblicks für die blosse Grenze zweier Zeittheile existirt, ver-
schwinden alle Aussichten auf die Einschwärzung imaginärer Ele-
mente in das selbstgenugsame Reich der Nafcur. Jedes denkende
Wesen hat, wo, wann und wie es auch seine Gegenstände erhalten
möge, stets absolute Wirklichkeiten vor sich und wird in Beziehung
auf seine Objecte nie ein fremdes Doppelsein oder eine sonstige Ab-
schliessung von dem universellen Zusammenhang des Daseins voraus-
zusetzen haben. Auch ist in der That nur in dieser Weise eine
einzige Natur und eine dieser Einzigkeit entsprechende, ebenfalls
eiQzige, wenn auch mannichfaltig abgestufte Erkenntniss derselben
möglich.
3. Wir haben ausser jdenjdlgemeinen Gesichtspunkten d^ J(>-
gischen Zusammenhangs zwei Gruppen von Grundbegriffen der Natur-
auffassung zu unterscheiden. Die erste Gruppe wird durch die rein
mathematischen , die zweite durch die mechanischen Kategorien ge-
bildet. In der erstem Hinsicht kommen Zahl, Grösse, Zeit, Raum
und geometrische Bewegung, in der zweiten Beziehung aber Materie
und mechanische Kraft als leitende Schemata in Frage. Wir könn-
ten in einem gewissen Sinn die genannten mathematischen Katego-
rien als rein apriorisch ansehen und ihnen die mechanischen als die
empirischen gegenüberstellen; indessen hat diese werthvolle kritische
Unterscheidung doch leicht em Missverständniss zur Folge, welches
mehr schaden kann, als sie selber zu nutzen vermag. Es wird näm-
lich leicht übersehen, dass jene mathematischen Elemente nur ihrer
Form nach ideeU sind, und dass man sofort der erfahrungsmässigen
Feststellung derselben bedarf, sobald eine thatsächliche Grösse oder
Gestalt als wirklicher Bestaridtheil der Natur in Frage kommt. Die
absoluten Grössen sind daher etwas durchaus Empirisches, gleich-
viel, welcher Gattung sie angehören. Es lässt sich daher in der
Naturbetrachtung die Grösse nicht von dem realen Träger derselben
trennen, und in dieser Hinsicht haben wir uns auch in dem mathe-
matischen Gebiet, soweit dasselbe eine reale Bedeutung haben soll,
vor einem falschen Apriorismus zu hüten. Trotzdem bleibt aber der
fundamentale Unterschied bestehen, dass die mechanischen Schemata
— 64 —
nicht wie die mathematischen einer von der Erfahrung abgesonder-
ten und dennoch zureichenden Charakteristik fähig sind.
Die Axiome der Mathematik sind auch ohne Weiteres Axiome
der Natur, weil in ihnen keine absolute Grösse vorkommt. Auch
was von der Zahl und Grösse im Allgemeinen gilt, hat absolute Be-
deutung. Es sind daher Zahl und Grösse stets nur in endlicher Be-
stimmtheit zu setzen. Nicht nur die vorhandene Zahl der Welt-
körper muss in jedem Zeitpunkte eine an sich bestimmte sein, sondern
auch bei der in das Kleine gehenden Gliederung muss die Zahl der
wirklich vorhandenen Selbständigkeiten oder thatsächlich getrennten
Theile eine bemessene bleiben. Letztere Noth wendigkeit ist der
wahre Grund, warum keine Zusammensetzung ohne Atome gedacht
werden kann. Die blosse Möglichkeit der ideellen Theilsetzungen,
die in uns selbst liegt und für jede stetige Grösse gilt, ist freilich unbe-
schränkt; insbesondere sind Zeit und Raum in dieser Weise ins
Unendliche theilbar; aber aus der blos ideellen Möglichkeit der
Theilung folgt noch nicht das Dasein wirklicher Getheiltheit. Die
letztere hat stets eine endliche Bestimmtheit und muss sie haben,
wenn nicht der Widerspruch der abgezählten Unzahl oder vollen-
deten Unendlichkeit eintreten soll. Die abstracte Ausdehnung oder
Grösse als solche bietet gar keine Getheiltheit dar; die Häufung des
Identischen irgend einer realen Gattung von Selbständigkeiten ist
aber nur als Bildung einer bestimmten Zahl denkbar. Dies gilt auch
für die getrennten Realitäten, welche in der Zeit als unterscheidbare
Acte aufeinanderfolgen. Auch hier ist die Bestimmtheit der Zahl
das durch blosse logische Einsicht gesicherte Naturgesetz. Wüsste
man z. B. auch nichts von der Entstehung des Sonnensystems, so
würde man dennoch nach jenem Naturgesetz getrost behaupten
dürfen, dass die bisherige Anzahl der Umläufe der Erde um die
Sonne eine bestimmte, wenn auch nicht angebbare, sein müsse. Man
könnte dieses Gesetz kurzweg das der bestimmten Anzahl nennen,
und man sieht leicht ein, dass vermöge seiner logischen Tragweite
nicht etwa nur eine rationelle Atomenlehre, sondern, was wichtiger
ist, eine ganze Naturvorstellung in weit schärferer Fassung, als sie
seither zugänghch war, verbürgt werden könne. Mindestens wird
man es nicht als eine geringfügige Wahrheit ansehen, wenn aus
dem Gesetz der bestimmten Anzahl mit unausweichlicher Nothwendig-
keit folgt, dass alle periodischen Natiu-processe irgend einen Anfang
gehabt haben müssen, und dass überhaupt alle Diflferenzenbildung,
— 65 —
vermöge deren sich eine Abfolge verscliiedener Realitäten vollzieht,
in jeder Gattung auf ein erstes Glied zurückweise. Alle Mannich-
faltigkeiten der Natur, die einander folgen, müssen hienach als in
einem sich selbst gleichen Zustande wurzelnd angesehen werden;
denn nur die völlige Sichselbstgleichheit kann ohne Widerspruch
gegen jenes Gesetz der bestimmten Anzahl als von Ewigkeit her
bestehend gedacht werden. Aber auch diese letztere Yorstellung
würde ausgeschlossen sein, wenn die Zeit an sich selbst aus realen
Theilen bestände und nicht vielmehr blos durch die ideelle Setzung
der Möglichkeiten von unserm Verstände nach Belieben eingetheilt
würde. Mit dem realen und in sich unterschiedenen Zeitmhalt hat
es eine andere Bewandtniss; diese wirkliche Erfüllung der Zeit mit
unterscheidbar gearteten Thatsachen schafft das differente Spiel und
schhesslich das eigentliche Leben, und die Existenzformen dieses
Bereichs gehören, eben ihrer Unters chiedenheit wegen, dem Zähl-
baren an. Um kein Missverständniss zu erzeugen, sei jedoch auch
bei dieser Gelegenheit wieder bemerkt, dass von diesen Nothwendig-
keiten die Unentstandenheit des Seins und sogar die Ewigkeit einer
noch nicht in Differenzen spielenden Natur nicht im Mindesten
beeinträchtigt wird. Im Gegentheil ist das, was wir aus jenem
Gesetz für die universelle Naturvorstellung gewinnen, nur die Be-
seitigung eines Widerspruchs und einer thörichten Schranke unserer
sonstigen Vorstellungen von der Existenz. Wer nicht im Stande ist,
jede eigenthümliche Form, die sich in Wiederholungen bethätigt, als
blosses Glied in einer bestimmt anhebenden Reihe zu betrachten,
wird es auch nicht über sich gewinnen können, das Schicksal dieser
Form irgend einmal vollendet zu denken. Kann er aber Letzteres
nicht, so wird sich für ihn die Welt in die Schaalheit eines ewigen
Wiederholungsspiels verkehren, und er wird weder das Neue in den
Wandlungen begreifen, noch die Möglichkeit absehen, dass die Ver-
nichtung der Differenzen der Ausgangspunkt für eine radical verän-
derte Entwicklung werde. Vermöge derselben Nothwendigkeit , die
den uns bekannten Reihen von Realitäten ihren Ursprung vermittelt
hat, sind auch andere Reihen zu gewärtigen, und die Vorstellung
von der Natur verliert durch diesen unabweisbaren Charakterzug ihre
herkömmliche Beschränktheit.
Wir würden jedoch die Naturansicht, welche uns das Gesetz
der bestimmten Anzahl gelten zu lassen gebietet, nur sehr roh ge-
stalten, wenn wir uns nicht zugleich der nothwendigen Stetigkeit
Dühring, Ciirsus der Philosophie. 5
— 66 —
erinnerten, ohne welche eine Erkenntniss des zeitlichen und räum-
lichen Universums unmöglich bleiben würde. Von jedem Begriff,
der in der Gegenwart einer bestimmten Zeit und eines bestimmten
Ortes seinen Anhaltspunkt hat, muss sich die Brücke zu den ent-
legensten Zuständen schlagen lassen. Andernfalls wären weder die
Erkenntniss noch die Natur ein zusammenhängendes System. Der
Leitfaden der allgemeinen Verwandtschaft der Gattungen und Arten
des Existirendeu darf uns in keiner Richtung entfallen, und selbst
die nichtdifferenten Zustände der Sichselbstgleichheit müssen uns in
irgend einer Form verständlich werden. Die allgemeine Materie ist
hier nun wiederum das Medium, in welchem wir sowohl mit unsem
Begriffen als mit den Thatsachen Ruhe finden. Sie hat das zeit-
liche Differenzenspiel nicht zur Voraussetzung und kann insofern von
keinem Entstehen und Vergehen berührt werden. Sie ist für die
Vergangenheit wie für die Zukunft das Element, an welchem alle
thörichten Schöpfungs- und Vernichtungsideen zu Schanden werden
müssen. Ehe wir jedoch auf ihr Wesen näher eingehen, müssen wir
unserm leitenden Ausgangspunkt, der das Gesetz der bestimmten
Anzahl war, noch erst die weitere Erörterung der mathematischen
Kategorien folgen lassen.
4. Die ideelle Unbeschränktheit der Raumvorstellung kann im
Realen nicht die widersinnige Bedeutung einer an sich seienden
Unendhchkeit haben, sondern verbürgt nichts weiter, als dass die
wirkliche Ausdehnbarkeit der Dinge ohne solche Hindemisse besteht,
die nicht in ihnen selbst zu suchen wären. Der leere Raum, von
welchem das kosmische Universum umgeben gedacht wird, ist eine
nichtige Vorstellung, und kein reales Naturdenken wird dieselbe in
besondern Fragen anders als negativ zu benutzen vermögen. Die
ausgedehnte Reahtät ist etwas Anderes als die blosse Raumvorstel-
lung und hat stets Grenzen. In der Naturerkenntuiss kommt es
auf die Wirkung dieser ausgedehnten Realität in der gegenseitigen
Beziehung ihrer materiellen Theile, nicht aber auf jene blosse Vor-
stellung vom Räume an, die auch in den Träumen in gleicher Weise
vorhanden ist. Das räumliche Weltbild wird daher, obwohl wir
seine Umrisse empirisch noch nicht zu verzeichnen vermögen, doch
im Allgemeinen ein sehr bestimmtes. Die reale Ausgedehntheit des
Materiellen oder, mit andern Worten, die Erfüllung des Raumes hat
ihre Grenzen und mithin auch an sich selbst irgend eine Gestalt.
Es braucht wohl kaum besonders bemerkt zu werden, dass uns in
— 67 —
nnsenu Denken nicht nur nichts nöthigt, mit der Raumvorstelluug
auch eine reale Erfüllung derselben ins Unendliche fortzusetzen, son-
dern dass im Gegentheil in einer solchen Fortsetzung ein Wider-
spruch gegen das vorher erörterte Gesetz der bestimmten Anzahl
liegen würde. Reale Theile, die als gesonderte Existenzen als an
sich vorhanden gedacht werden müssen, können eben nicht in un-
beschränkter Menge gegeben sein. Hiemit verschliesst sich jene wüste
Idee der räumlich unendhchen Wirklichkeit, wie sie z. B. in so zu
sagen poetischer Unbefangenheit von Spinoza gehegt wurde.
Der durch seine drei Dimensionen und indirect auch durch die
geometrischen Axiome gekennzeichnete Raum ist der einzige, von
dem wir einen Begriff haben können. Er ist derjenige, welcher die
an sich seiende, durch reale Kräfte vermittelte Ausdehnung der Dinge
in einem anschaulichen Bilde sichtbar werden lässt, und der daher
nichts ausdrücken kann, was nicht an sich vorhanden wäre. Nur
das subjective Bewusstsein, welches die Vorstellung als solche stets
begleitet, ist natürlich in den Dingen selbst nicht zu suchen und
daher auch nicht jene Production der blossen Vorstellungsform, auf
deren Missverständniss die falsche Unendhchkeitsidee beruht. Die
Gesetze der realen Ausdehnung ergeben sich, wenn man zu der
Raumvorstellung noch begriffliche Verzeichnungen nach bestimmten
Regeln hinzufügt. Die Geometrie kann mit der allgemeinen Vor-
stellung des Raumes nichts ausrichten, wenn sie nicht die begriff-
lichen Regeln des Entwurfs bestimmter Gebilde noch als weitere
Voraussetzungen hinzunimmt. Die geometrische Nothwendigkeit hat
also auch einen rein logischen Bestandtheil. Schon aus diesem
Grunde sollte sich der mathematische Mysticismus hüten, die ver-
schiedenen Räume, die er mit beliebigen Dimensionen zur Verfugung
stellt, der Kritik dadurch in der ganzen Blosse der Widersinnigkeit
zu zeigen, dass er nicht nur die Sätze der bisher gültigen Geometrie
leugnet, sondern es auch unternimmt, neue Wahrheiten seines
Schlages zum Besten zu geben. Wenn z. B. Gauss behauptete, dass
die Summe der drei Winkel eines gradlinigen Dreiecks beliebig
kleiner als zwei Rechte gemacht werden könne, sobald man nur die
Seiten gross genug nehme, so war dies nicht etwa blos ein schlechter
Spass oder der Anschein eines Widersinns, der vermittelst des be-
kannten Jargons des Unendlichen entstanden wäre und sich in eine
nüchterne Wahrheit auflösen liesse, — sondern es war ganz einfach
eine mystische Bizarrerie, deren geschraubte Consequenzen unter den
5*
— 68 —
Händen kleinerer Mathematiker uns schliesslich mit einer ganzen _
antieuklidischen Geometrie beglückt haben. Nicht genug, dass die I
Parallelen im Unendlichen einen Winkel bilden und man daher aus
drei Parallelen eine ebene Raumeinschliessung, nämlich ein Dreieck
formiren kann; nicht genug, dass dies buchstäblich und nicht etwa
im Sinne des Unendlichkeitsjargons alter Tradition verstanden wer-
den soll ; nicht genug, dass ein Raum mit sieben oder zehn Dimen-
sionen sich nach den neuen Aufschlüssen über die Geheimnisse der
Natur schon so sehr von selbst versteht, dass derartige Conceptionen
bereits wirklich und wahrhaft zum Kinderspiel geworden sind; —
unter allen Ungeheuerlichkeiten dieser mystischen Brutstätte findet
sich auch die köstliche Idee, dass grade Linien vermittelst des Un-
endlichen in sich selbst zurückkehren. Hier wird offenbar die grade
Linie zu einer mystischen Schlange, deren Kopf und Schwanz einander
begrüssen, und alle solche Wunder verdankt man den neueii Räumen,
die selbst wieder aus der Zauberkraft des Unendlichen gezeugt sind.
Der schümmste Humor bei der Sache ist der, dass mau vor dieser
neuen Mathematik nicht einmal grade ausspucken kann, ohne Ge-
fahr zu laufen, dass einem durch Vermittlung der Unendlichkeit
das Projectil von hinten wieder anfliege. Wer mir etwa unter dem
Eindruck des Prestige, welches der Name Gauss auch in der falschen
Richtung ausübt, nicht glauben will, findet eine kurze literarische
Belegung der Thatsachen im letzten Capitel meiner Geschichte der
Principien der Mechanik. Hier sei nur noch bemerkt, dass Gauss,
der mit seiner grossen Autorität das Deliriren der kleinen ermöglicht
und den ganzen, heut aufgeführten Wissenschaftsskandal durch seine
gelegentliche Bizarrerie eingeleitet hat, philosophisch nicht minder
roh, als in einigen speciellen Richtungen der reinen und angewandten
Mathematik virtuos gewesen ist. Ein leicht erkennbares äusserliches
Zeichen war die religiöse Beschränktheit und die gesellschaftliehe
Anschauungsart, welche dieser Sohn des Maurers mit Behaglichkeit
bis in das höchste Alter gepflegt und stets als etwas angesehen hat^
was über die moderne Denkweise und Gestaltungsart der Dinge er-
haben wäre. So erklären sich aus der logischen Crudität seiner
Welt- und Lebensansichten auch die fraglichen Verwicklungen mit
dem mathematischen Mysticismus. Lassen wir jedoch dieses Neben-
gebiet, zu dessen Beschreitung uns nur die ephemere Thorheit der
Mode einer Generation veranlassen konnte.
Der wichtigste eigentlich metaphysische Versuch, neben unsenn
— 69 —
bekannten Räume noch allerlei andere offenzuhalten, nämlich die
Kantische Subjectivitäts- oder Idealitätslehre ist grade in dieser Hin-
sicht das Widerspiel aller Wirklichkeitsphilosophie. Das einzige Be-
deutende, was sie zu mehr als einer spiritualistischen Thorheit nach
Swedenborgischem Muster machte, blieb für sie selbst eine Neben-
sache, nämlich die Beseitigung des Undings von unendlichem Raum,
welches die Mathematiker als eine an sich seiende Wirklichkeit gel-
tend zu machen belieben. Die Form der Träume mit ihrem leeren
Ausdehnungsrahmen ist keine an sich selbst vorhandene Realität, —
dies und weder Mehr noch Weniger ist das haltbare aber vom Ur-
heber selbst vernachlässigte, ja bisweilen durch Zweideutigkeiten ins
Gegentheil verkehrte Element der Kantischen, übrigens in verhüllter
Weise mystischen und für mystisch spiritualistische Zwecke gebrauch-
ten Idealitätstheorie. In der That war ihr nicht nur das Berkeleysche
Geisterreich, sondern auch dasjenige Swedenborgs nicht fremd ge-
blieben, und die völlige Verzerrung, welche die natürhche Gedanken-
haltung in der besondern Gestaltung der Kantischen Kategorien-
scholastik erfuhr, ist zu einem gTossen Theil dem fortwährenden
Schielen nach der sogenannten praktischen Begründung von mysti-
schen Moral- und Religionsideen zuzuschreiben.
Um gar keinen Zweifel übrig zu lassen, so sei noch ausdrücklich
gesagt, dass die Wirklichkeitsphilosophie zwar nicht in der leeren
Raumvorstellung, aber wohl in den räumlichen Beziehungen der
Dinge etwas Absolutes sieht, was sich in jeder Auffassungsart den-
kender Wesen auf gleiche Weise ausgedrückt finden muss. Die Ma-
thematik der Bewohner anderer Weltkörper kann auf keinen andern
Axiomen beruhen als die unsrige, und überhaupt müssen die Ele-
mente, aus denen sich das Denken und Vorstellen zusammensetzt,
ebensowohl überall dieselben sein, wie es die chemischen Bestand-
theile der Körper sind.
5. Im Begriff der Zeit ist die Form des unveränderten Bestehens
sorgfältig von derjenigen der Veränderung, also von dem Wechsel
der Elemente zu unterscheiden. Das sogenannte Fliessen der Zeit
lässt sich nur als Grundgestalt von realen Unterschiedssetzungen in
der Beschaffenheit der Vorgänge denken. Soweit wir ein Vor und
Nach vorstellen, befinden wir uns in der Reihe des Abflusses realer
Veränderungen. Die Abfolge in der Zeit oder, geuauer bezeichnet,
die Zeitordnung, vermöge deren die Zeit eine bestimmte Entwick-
lungsrichtung und nicht die entgegengesetzte nach der Seite dei*
— 70 -
Vergangenlieit hin hat, gehört offenbar zur Innern logischen Noth-
wendigkeit alles Veränderungsspieles. Denken wir uns nun aber
einen Zustand, der ohne Veränderungen ist und in seiner Sichselbst-
gleichheit gar keine Unterschiede der Folge darbietet, so verwandelt
sich auch der speciellere Zeitbegriff in die allgemeinere Idee des
Seins. Was die Häufung einer leeren Dauer bedeuten solle, ist gar
nicht erfindlich; denn sie hat nur dann einen Sinn, wenn ihr eine
von Veränderungen erfüllte Dauer als Maass gegenübersteht. Ueber-
haupt ist alle Dauer eine Häufung von Elementen, und woher soll
in dem Ununterschiedenen eine solche Häufung kommen? Allerdings
ist die Zeit auch die Form des Beharrens ; aber sie ist dies nur ver-
möge des Gegensatzes, in welchem das Bleibende nur unter Beglei-
tung von Veränderungen als solches wahrnehmbar wird. Mit diesem
Gegensatz fällt auch der specifische Charakter des zeitlichen Wechsel-
spiels fort, und wenn wir trotzdem eine leere Zeit unter allen Um-
ständen denken müssen, so hat doch diese leere Zeit keineswegs
entsprechende Eigenschaften, wie der leere Raum; denn in ihr ist
keine Abfolge, sondern nur das gedacht, was an sich selbst eben-
sowohl mit einem Sein als einem Nichts, also mit einer beharrlichen
Realität oder der völligen Negation verträglich sein müsste. Es ist
also nicht der Gedanke der Zeit selbst, sondern derjenige der Ma-
terie, welcher uns nöthigt, alle Punkte unserer Zeitvorstellung zu
erfüllen. Dies ist ein wichtiger Unterschied von der Raumvorstel-
lung; denn bei der letzteren sind wir nicht genöthigt, die materielle 1
Erfüllung hinzuzufügen, sondern gelangen im Gegentheil stets zur 1
Begrenztheit des Materiellen. Wenn wir nun aber auch das Sein
als Materie in keiner Vergangenheit und in keiner Zukanft auszu-
schliessen vermögen, so liegt doch in dem Begriff der absoluten
Materie keineswegs der Schematismus der Veränderungen. Hienach
kann uns auch die Zeitvorstellung weder vorwärts noch rückwärts
die Ewigkeit dieses Schematismus verbürgen. In den Rückbeziehuugen
ist er von uns bereits positiv als unmöglich gekennzeichnet; in der
Richtung auf die Zukunft bleibt er der Form nach stets ohne Wider-
spruch denkbar; aber sein wirkliches Eintreten muss durch reale _
Beglaubigungen verbürgt werden. Unsere Kritik des Zeitbegriffs 1
liefert also eine Naturvorstellung, in welcher nur eine sich selbst
gleiche Materie für alle Ewigkeit zugelassen werden muss, aber
keineswegs alle Zukunft mit dem Schematismus der Veränderung
erfüllt zu sein brauchte. Die reale Welt im Räume kann nie anders
— 71 —
als von allen Seiten mit der Nichtigkeit des völlig Leeren umgeben
vorgestellt werden; die reale Welt in der Zeit hat nur insofern, als
sie ein Spiel von Veränderungen ist, eine noth wendige Anfangs-
grenze und eine denkbare, aber nicht als nothwendig erwiesene End-
grenze. Anstatt jedoch sich im völlig Leeren zu befinden, beginnt
vielmehr in beiden Grenzpunkten eine absolute Wirklichkeit, näm-
lich diejenige eines veränderungslosen Zustandes der Materie. Die
Frage, ob das Spiel der Veränderungen irgend einmal ablaufen und
wieder zu dem sich selbst gleichen Zustand der Materie zurückführen
müsse, ist eine durchaus reale und insofern aus dem Begriff der Zeit
nicht zu entscheidende. Wenn irgend etwas die Thorheit der rein
formellen, einer materiellen und mechanischen Begründung erman-
gelnden Schlüsse blosstellen kann, so ist es die Ohnmacht derjenigen
Ueberlegungen, welche die realen Eigenschaften der Natursystematik
zulänglich aus den Zeit- und Raumconceptionen herausklauben wollen.
Nicht einmal der Gegensatz von Etwas und Nichts wird hiedurch
berührt; denn das Nichts entspräche einer leeren Zeit ebensogut, als
die volle Wirklichkeit der Materie.
Aehnliche mystische Kühnheiten, wie wir sie bezüglich des
Raumes angetroffen haben, sind der heutigen Mathematik auch be-
züglich der Zeit nicht ganz fremd geblieben. Indessen sind diese
Regungen noch zu untergeordnet, um eine nähere Befassung mit
den entsprechenden Curiositäten zu erfordern. Nur sei bemerkt, dass
die mathematisch physikalische Faselei sich gelegentlich dahin ver-
stiegen hat, die alte gute Ordnung in der Zeitfolge durch die An-
nahme einer andern Beziehung der Zeitpunkte ersetzen zu wollen,
wobei z. B. ein mittlerer Zeitpunkt in der realen Beziehung erst
übersprungen und dann wieder auf ihn zurückgegriffen würde. Hiemit
wäre die Reise von der Zukunft in die Vergangenheit möglich ge-
macht und das Monstrum der rückwärts fliessenden Zeit glücklich
zur Welt gebracht. Man sieht hieraus, dass die kindische Phan-
tastik, die nicht einmal mit Begriffen, sondern nur mit Wörtern ge-
dankenlos spielt, doch wenigstens dazu gut ist, durch den Contrast
den Unterschied zwischen Unsinn und Sinn lebendig zu veranschau-
lichen.
Die geometrische Bewegung oder, besser gesagt, die blosse An-
schauung der Bewegimg setzt die Begriffe des Räumlichen und Zeit-
lichen voraus, ohne diejenigen der Materie und mechanischen Kraft
auch nur zu berühren. Jedoch muss man, wenn man diese blossen
— 72 —
Spuren der Bewegung wissenschaftlich selbständig behandeln will,
immer irgend welche Regeln und Gesetze entwerfen, nach denen sie
sich bezüglich der Geschwindigkeit und deren Aenderung richten
sollen. Die ideell gesetzte Vorschrift vertritt alsdann das, was in
der materiell mechanischen Wirklichkeit durch die Entwicklung und
Combination gegeben wird. Nun ist schon die rein geometrische
Ortsveränderung, ohne Rücksicht auf Geschwindigkeit, ein uralter
Gegenstand von Widersprüchen, wie dies eingehend bei der Be-
I sprechung der Eleaten in meiner Geschichte der Philosophie gezeigt
wurde. Hier sei nur daran erinnert, dass diese Widersprüche nicht
aus der Natur der Bewegung selbst und auch nicht aus dem Wesen
des Raumes und der Zeit, sondern aus der Zulassung einer falschen
Unendlichkeit stammen, und dass sie verschwinden, sobald in dieser
Beziehung die richtigen Ideen Platz greifen. Das Wachsen aller
stetigen Grössen fuhrt zu denselben Widersprüchen, wenn man die
in falschen Stetigkeitsideen verhüllte Unendlichkeit nicht zu behan-
deln weiss. Gegenwärtig müssen aber alle derartigen Schwierigkeiten
als ausschliesslich historische Thatsachen betrachtet werden; denn
vom Standpunkt der Wirklichkeitsphilosophie und der Logik des
Unendhchen können sie sich nicht mehr einfinden.
6. Die mathematischen Kategorien, wie wir sie bisher im Hin-
blick auf die Naturvorstellung besprochen haben, werden erst wahr-
haft bedeutend, wenn sie nicht mehr blos in gedanklicher Abtren-
nung von der Wirklichkeit, sondern als Ausdruck der materiell
mechanischen Beziehungen Geltung haben sollen. Die mechanischen
und materiellen Realitäten, welche einer bestimmten Ausdehnungs-
grösse der Dinge und ihrer Theile entsprechen, können als die
eigentlichen Vertreter des real Räumlichen angesehen werden. Der
räumliche Abstand materieller Körper ist etwas durchaus Reales;
denn seine Bedeutung ist für das Dasein der Kräfte nicht gering-
fügiger, als dasjenige der Materie an sich selbst. Mit jedem Abstand
ist zugleich die Kraftdisposition zur Annäherung in einer bestimm-
ten Form gegeben, Der räumliche Abstand ist daher selbst der
Ausdruck eines mechanischen Verhältnisses, und sobald die reale
Grundeigenschaft der Ausdehnungsgrössen in Betracht konmit, tritt
das rein Ideelle der blossen Vorstellungsformen so entschieden in
den Hintergrund, dass ein Zweifel über die absolute Existenz der
räumlichen Beziehungen nicht mehr möglich ist. Die mechanischen
Kategorien führen uns über das blosse Bild der Natur hinaus und
— 73 —
zeigen uns, dass diese Natur einen Knochenbau hat, der mit dem
Schattenspiel eines blossen Geisterspuks gar sehr contrastirt.
Materie und mechanische Kraft sind die beiden Fundamental-
begriffe, mit denen wir die bildhafte Aeusserlichkeit der Dinge über-
schreiten und in das Reich der constituirenden Eigenschaften ein-
dringen. Auf diesem Gebiet sind alle Axiome etwas aus der all-
gemeinen Erfahrung Entnommenes, aber nichtsdestoweniger von
absoluter Nothwendigkeit, da wir durch die empiri^he Zergliederung
die letzten Bestandtheile der Naturconstitution gewinnen. So ist
das Galileische Beharrungs- oder Trägheitsaxiom zwar nur durch
Schlüsse aufzufinden, aber eben nur durch solche Schlüsse, die sich
an den erfahrungsmässigen Thatsachen der Natur bethätigen und in
diesem Stoff die letzte einfache Verfahrungsart sichtbar machen, in
welcher das betreffende Grundgesetz besteht. Die einfachen Opera-
tionen und Elemente der Natur werden durch den sondernden Ver-
stand sichtbar gemacht, und hiemit ergeben sich die objectiven
Grundwahrheiten. Was wir von der Materie und der mechanischen
Kraft wissen, haben wir daher aus der Naturerfahrung und nicht
blos aus den Eigenschaften unseres Denkens gewonnen.
Was ist die Materie? Wir antworten, sie sei der Träger alles
Wirklichen. Hienach giebt es auch keine mechanische Kraft, die
ausserhalb der Materie und der Beziehung materieller Theile gesucht
werden könnte. Die Materie ist nicht blos das Widerstehende im
Räume ; sie ist weit mehr, indem sie den sich selbst gleichen Träger
aller Veränderungen vorstellt. Die Unterschiede der verschiedenen
Stoffe beeinträchtigen den allgemeinen Begriff des Materiellen keines-
wegs ; denn durch alle diese Differenzen hindurch behauptet sich jenes
Etwas, das den letzten Halt alles Seins bildet. Die mechanische
Kraft ist ein Zustjmd der Materie. Aendern sich die Verhältnisse
in den Theilen der Materie, so ändern sich auch die Verhältnisse in
den Theilen der mechanischen Kraft; aber die letztere bleibt nicht
minder sich selbst gleich, als die Materie. Eine mechanische Kraft
im engern Sinne verstehen wir als die Ursache einer Veränderung,
und nur, wo wir Veränderungen wahrnehmen, haben wir ein Recht,
die einheitlichen Voraussetzungen derselben als Kräfte zu bezeichnen.
Im Gleichgewicht ist ein besonderer Zustand des materiell Mecha-
nischen gegeben; aber nur indem wir die constituirenden Elemente
dieses Zustandes gesondert und als möglicherweise frei wirksam ver-
anschlagen, begreifen wir sie als eigentliche Kräfte. Die letztem
— 74 -
beziehen sich nämlich stets auf eine räumhche Bewegung materieller
Theile. Die Menge der materiellen Theile oder, mit andern Worten,
das Quantum der Materie ist das, was wir technisch die Masse nen-
nen. Die Natur muss hienach eine bestimmte Masse repräsentiren,
und der räumliche Vertheilungszustand der letztern muss einer be-
stimmten, als Ganzes unveränderlichen Kraffcgrösse entsprechen. Wo
also eine Zusammenziehung eintritt, können wir sicher sein, dass
ihr in einer andern Hinsicht entweder eine positive Ausdehnung
oder die Ansammlung der Kraft zu einer solchen entsprechen werde.
Wenigstens folgen diese Gegenseitigkeitsbeziehungen aus der Zu-
sammengehörigkeit des Kraftzustandes mit seinem an sich unverän-
derlichen Träger, der sich selbst gleichen und stets in gleichem
Quantum vorhandenen Materie. Die Zustände der Kraft folgen den
Zuständen der Materie, weil beide nur zwei Seiten einer und der-
selben Wirklichkeit sind. Wir denken uns die Materie stets in
irgend welchen räumlichen Verhältnissen ihrer Theile, und die Be-
stimmungen dieser räumlichen Verhältnisse siud die mechanischen
Kräfte im weiteren Sinne des Worts, also einschliesslich der Gründe
des rein statischen Verhaltens. Wenn der gewöhnliche Sprachgebrauch
das Wort Kraft in einem äusserst weiten Sinne, nämlich als Ursache
jeder Art von Fähigkeit gelten lässt, so müssen wir uns in der
Naturphilosophie hüten, den bestimmten Begriff der mechanischen
Kraft auch nur mit den mannichfaltigen Specialkräften zu verwechseln,
wie man sie jeder Gattung von Erscheinungen unterlegen kann.
Schliesslich bleibt die mechanische Kraft das Fundament aller an-
dern Bethätiguugsformen ; aber sie ist deswegen mit diesen Formen
nicht identisch.
Die logische Forderung einer Definition voller Reahtäten ist in
dem gewöhnlichen Sinne gar nicht ausfdhrbai*, indem sie selbst auf
einem Missverständniss der Tragweite rein ideeller Begriffsbestim-
mungen beruht. Dagegen lässt sich jede gesonderte Realität, wenn
auch nicht auf dem Wege der Zusammensetzung, so doch auf dem-
jenigen der Trennung definiren, — ein Verfahren, welches ft'eilich
der bisherigen Logik nicht bekannt war. Anstatt einen Gegenstand
als eine Summe von Bestandtheilen darzustellen, kann man um da,
wo er einfach ist, als den Rest einer Differenz sichtbar machen.
Der engere Begriff der Materie, der nicht die volle Wirklichkeit des
Seienden, sondern nur diejenige Seite dieser Wirklichkeit, die in der
rationellen Mechanik als Augriffsobject der Kräfte gilt, vertreten soll,
— 75 —
— dieser engere Begriff der Materie lässt sich definitorisch gewinnen,
indem man die Fülle des Realen zerlegt und die Kraftaffectionen in
Gedanken absondert. Diese reale Abstraction, die in der Beschaffen-
heit der Dinge selbst ihre Berechtigung hat, darf uns nun aber nicht
darüber täuschen, dass derjenige Begriff der Materie, in welchem sie
als volle Wirklichkeit einschhesslich ihrer Kraftzustände gefasst wird,
der philosophisch maassgebende bleibt. Schon der Chemiker, ja sogar
bereits der Physiker sieht in der Materie Mehr, als der blosse Me-
chaniker. Wie sollte die Philosophie nicht einen noch volleren Be-
griff von dem Träger aller körperlichen und geistigen Affectionen
haben? Jene todten Reste einer fehlgreifenden Abstraction aber,
yrie wir sie in den Vorstellungen von einer absolut passiven und
affectionslosen Materie antreffen, sind für das gereiftere Denken un-
brauchbar und in das Reich der voreiligen Begriffserdichtungen zu
verweisen. Entblösst man die Materie aller Eigenschaften, so macht
man sie in der That für die Erkenntniss zu einem Nichts. Nur in-
dem man sie philosophisch als den Träger aller Wirklichkeit be-
trachtet oder, mit andern Worten, der vollen, beharrenden Realität
gleichsetzt, kann man in ihr zugleich das absolute Sein und in
diesem alles üebrige erkennen. Die sich selbst gleiche Grösse des
mechanischen Kraftvorraths wird alsdann zu einer sehr natürlichen
Folge des allgemein Beharrlichen, welches sich nicht nur in der
Materie an sich selbst, sondern auch in ihren Zuständen und Ver-
hältnissen bewahrheiten muss. Spiritualistische oder wenigstens ideo-
logische Abwege sind es dagegen, wenn man sich andererseits ein-
gebildet hat, die Materie als ein Compositum sogenannter Kräfte,
also etwa mit Kaut als eine Vereinigung von Abstossung und An-
ziehung construiren und so die Fülle der Wirklichkeit durch scho-
lastische Entitäten ersetzen zu können. Auch realistische Denker,
wie August Comte, haben die Neigung, die Materie in blosse Kräfte
aufzulösen, nicht bemeistern können. Unsere Auffassung hat mit
keinem der bezeichneten beiden Abwege etwas gemein ; sie verbleibt
innerhalb der vollen Wirkhchkeit und lässt daher die Kräfte oder
verschiedenen Kraftäusserungen nur als Zustände der universellen
Materie erscheinen.
I
— 76 —
Zx^eites Oapitel-
Grundgesetze des Universums.
Die nähere Bestimmung, was ein Naturgesetz sei, ist in meh-
reren Richtungen keineswegs selbstverständlich. Sogar im strengeren
Denken pflegt man bei dem Ausdruck Gesetz zu einseitig blos die
ursächliche Verbindung zu meinen und über der Causalität die Iden-
tität zu vergessen. Wer das Gesetz als die ursächHche Verknüpfung
zweier Elemente definirte, würde zwar eine grosse aber doch nicht
<^e volle Tragweite des Begriffs wiedergeben. Die Gesetzmässigkeit
beschränkt sich nicht auf die Verbindung von Thatsachen, sondern
die Thatsachen oder Elemente in ihrer Einfachheit und Einerleiheit
stellen schon an sich selbst Grundgesetze vor. Die sich selbst^leiche
BehaiTung derselben Elemente, ohne die Einmischung irgend einer
Veränderung, zählt als etwas Fundamentales zu der gesetzlichen
Constitution der Dinge. Die Nothwendigkeit bekundet sich nicht
blos in den Folgen von bestimmten Voraussetzungen^ sondern auch
in den absoluten und in ihrer einfachen Sichselbstgleichheit unver-
rückbaren Thatsachen, Es ist daher bereits ein engerer Sinn des
Naturgesetzes, wenn man den Begriff desselben nur auf Verände-
rungen bezieht. Am besten thun wir, indem wir sofort die schon
früher angedeutete Eintheilung in zwei Classen, nämlich in Behar-
rungsgesetze und in Entwicklungsgesetze, zm* Anwendung bringen.
Eüebei ist aber daran zu erinnern, dass beide Gattungen von Natur-
gesetzen praktisch nur in ihrem Gegensatz und mithin stets auch
zugleich in Verbindung zur Sprache kommen können. Die grössere
oder geringere Sichtbarkeit der einen Gattung in einem besondem
Bereich der Natur ist noch keine Ausschliesslichkeit, sondern beide
Schemata finden sich stets an einunddeinselben Gegenstande beisam-
men. Der Kosmos oder das Universum, d. h. gegenwärtig die Ge-
sammtheit der Weltkörper zeigen, sobald man von der organischen
Welt auf ihnen absieht und sie als ein Ganzes von mechanischer
und chemischer Masse betrachtet, vorzugsweise beharrliche Elemente
und erst in zweiter Linie die Spuren der Entwickluugsantriebe. Im
Gegensatz bietet das organische Dasein und noch mehr das bewusste
Leben ein schnelles Wechselspiel von Veränderungen dar, in welchem
ausser dem Rhythmus der Wiederholungen auch neue Gestalten her-
— 77 —
vortreten. Aber auch, auf diesem Gebiet dürfen über den Entwick-
lungsgesetzen und der Entwicklungsgeschichte, die hier ihre aus-
drucksvollste Vertretung finden, die Beharrungsgesetze und das Ste-
tige, was sich durch alle Wandlungen hinzieht, nicht übersehen
werden. Es würde auch eine wunderbare üngleichartigkeit sein,
wenn das kosmische Universum und die in seinen einzelnen Welten
vertretenen Organisationen nicht an demselben einheitlichen und
vollständigen Typus der Gesetzmässigkeit Antheil hätten. Die Ge-
schichte der Natur als eines mechanischen Ganzen hat nur als Unter-
lage für die Geschichte empfindender Wesen einen Sinn. Ebenso
haben die beharrhchen Elemente der Naturverfassung nur eine Be-
deutung, wenn sie zugleich in der Constitution bewusster Wesen ein
Analogon finden. Die äusserliche Natur und das innerliche Empfin-
dungsleben sind so zu sagen aus einem Guss, so dass Beharrliches
und Veränderliches in beiden Bereichen einander entsprechen müssen.
Das allgemeine Schema besteht aber in einer Steigerung der Ver-
änderlichkeit und des Wechselspiels ; die universelle Bühne des Lebens
muss langsameren Veränderungen unterliegen, als das Leben selbst,
und die höchsten Stufen des letzteren müssen die grösste Mannich-
faltigkeit in das augenblickliche Bewusstsein zusammendrängen.
Die Entwicklungsgesetze reihen Verschiedenes in der Zeit an-
einander, und es ist durchaus nicht nothwendig, dass sich ein Vor-
gang wiederhole, um gesetzmässig zu sein. Das Gesetz bezieht sich
nicht blos auf das Allgemeine, sondern auch auf das Einzelne. Das
Auftreten des Menschen auf der Erdoberfläche ist ein einmaliger,
wenn auch stetig und langsam vollzogener Act, der sich, um als
naturgesetzlich zu gelten, nicht etwa zu erneuem braucht. Auch
wäre er um nichts weniger die Folge einer gesetzHchen Nothwendig-
keit, wenn er auch auf andern Weltkörpern keine Analoga hätte.
Obwohl es nun selbstverständlich ist, dass die Entwicklung denken-
der Wesen ein Zubehör bestimmter Zustände der Materie sei und
daher im Kosmos in einer grossen Anzahl von Wiederholungen vor-
gekommen sein muss, vorkommt und vorkommen wird, so können
wir doch das Nothwendigkeitsband und das Gesetzliche dieser Art
von Vorgang nicht von der Vielfachheit der Anwendung desselben
Schema in verschiedenem Stoffe abhängig machen, sondern auch ein
einziger Act, wenn auch neben ihm Seinesgleichen ewig fehlte, würde
trotzdem als eine unausweichliche Natursatzung und als ein Glied
in der Kette des Zusammenhangs anzuerkennen sein. Alle neuen
— 78 —
Formen, die der Fortschritt der Natur auf den Schauplatz führt,
haben die Eigenschaft, keine völlig identischen Vorgänger aufweisen
zu können, und in der That würde alles Sein ein blosser Kreislauf
bleiben, wenn nicht neue Ansätze in der Entwicklung zu verzeichnen
wären. Ja selbst der Kreis schliesst in sich selbst und abgesehen
von seiner Wiederholung die Entwicklung des Verschiedenen derartig
ein, dass man auch mit ihm dem Auftreten neuer Elemente nicht
entgeht. Ein Raisonnement der reinen Identität könnte uns nur den
Fortbestand eines regungslosen, ewig ungestörten Gleichgewichts
begreiflich machen. Aber schon die geometrische Bewegung in ihrer
rein ideellen Natur zeigt uns in unserm eignen Denken eine Macht,
welche nicht bei den starren Identitäten beharrt, sondern neue For-
men entwickelt und eigentliche Wandlungen vollzieht.
Es ist ein hochwichtiger Schritt, das Naturgesetz auch in dem
Hervortreten dessen zu begreifen, was in seiner Erscheinungsform
Seiten aufweist, die früher sich noch niemals dargeboten haben.
Hierin liegt das, was man in rationeller Weise als schöpferisches
Verfahren der Natur anerkennen darf. Wie diese schaffenden Kräfte
speciell zu denken seien, ist die Frage, in der sich die höchste aller
Betrachtungen zuspitzt. Bei allen Beharrungs- und Wiederholungs-
gesetzen lässt sich angeben, wie in ihrer Anwendung mit den Vor-
bedingungen auch die zugehörigen Folgen eintreten müssen. Wir
berufen uns nämlich ganz einfach auf die blosgelegten Schemata der
Erfahrung und wir setzen die Elemente des Daseins so zusammen,
wie es uns die Systematik unseres Denkens und der uns in diesem
Falle offenliegenden Natur selbst vorschreibt. Wo dagegen, wie in
den einmaligen und entlegenen Gesammtvorgängen , mit denen eine
vereinzelte Wendung oder Epoche eintritt, die Natur in irgend einem
Stücke die Grenzen ihrer bisherigen Verfahrungsart überschritten zu
haben scheint, bleibt uns einzig und allein der Leitfaden der Stetig-
keit als Mittel übrig, um einen verstandesmässigen und gesetzlichen
Zusammenhang aufzufinden. Wir wehren uns gleichsam gegen das
Neue in der Natur, weil hier das engere Gebiet der Gesetze wieder-
holter Entwicklungen versagt. Dennoch müssen wir uns eben in
dieser Richtung vollkommen schlüssig machen, wenn nicht das Uni-
versum in der Zeitausdehnung eine mehr als blos räthselhafte, näm-
lich eine verworrene und namentlich an ihren Endpunkten wüst
geartete Vorstellung bleiben soll.
2. Der Ürsprungszustand des Universums oder, deutlicher be-
— 79 —
zeichnet, eines veränderungslosen, keine zeitliche Häufung von Ver-
schiedenheiten einschliessenden Seins der Materie, ist eine Frage, die
nur derjenige Verstand abweisen kann, der in der Selbstverstümme-
lung seiner Zeugungskraft den Gipfel der Weisheit sieht. Wenn
man aber diesen verzweifelten Ausweg, für den Kant eine neue Form
der Beschönigung unter dem Namen der Vernunftkritik erfanden
hat, nicht wählen und das Denken nicht castriren will, so eröffnet
sich eine Arbeit von grossem Gewicht. Was wir vorher als Zu-
spitzung der Frage nach dem Üebergang zum Verschiedenen erkann-
ten, meldet sich hier in der am meisten gesteigerten Form an. Das
Heraustreten des rhythmischen Wechselspiels der Vorgänge aus einem
sich selbst gleichen Zustande ist nach unsern früheren Erörterungen
ein unausweichlicher Gedanke. Die zeitliche Ausdehnung realer Vor-
gänge lässt sich stets unter dem Bilde einer endlichen graden Linie
von bestimmter Grösse veranschaulichen. Das Wechseln der Ver-
schiedenheiten muss auf dieser Linie durch discrete Punkte ange-
deutet werden. Ausserdem muss man noch eine Richtung des Durch-
laufens der Linie feststellen, und hiedurch wird sich der Anfangspunkt
wesentlich unterscheiden. Verlängert man die Linie über den An-
fangspunkt zurück, so kann die feinere Markinmg und die Weglassung
der discreten Punkte jenen stetigen Urzustand wenigstens annähernd
symbohsiren. Jedoch mischt sich in diese Art von Symbol leicht
die Vorstellung einer leeren Dauer, die in der That nicht am Platze
ist. Wie früher auseinandergesetzt, fehlt es nicht an der Erfüllung
mit der Materie, aber wohl an dem zeitlichen Wechselspiel von Ent-
stehung und Vernichtung und mithin auch an der Grundform des
engern Zeitbegriffs, vermöge dessen die Häufung des Gleichartigen
und mithin die eigentliche Zeitgrösse oder Dauer in Betrachtung
kommen könnte. Wollten wir nun mit blossen Beharrungsgesetzen
aus jenem ursprünglichen Zustande in das bestimmte zeitliche Spiel
der Veränderungen eintreten, so wäre dies offenbar ein in sich wider-
sprechendes Unternehmen. Die absolute Identität jenes anfänglichen
Grenzzustandes liefert an sich selbst kein Uebergangsprincip. Erin-
nern wir uns jedoch, dass es mit jedem kleinsten neuen Gliede in
der uns wohlbekannten Daseinskette im Grunde eine gleiche Be-
wandtniss hat. Wer also in dem vorliegenden Hauptfall Schwierig-
keiten erheben will, mag zusehen, dass er sie sich nicht bei weniger
scheinbaren Gelegenheiten erlasse. Ueberdies steht die Einschaltungs-
möglichkeit von allmälig graduirten Zwischenzuständen und mithin
— 80 —
die Brücke der Stetigkeit offen, um rückwärts bis zu dem Erlöschen
des Wechselspiels zu gelangen. Rein begrifflich hilft freilich diese
Stetigkeit nicht über den Hauptgedanken hinweg, aber sie ist uns -
die Grundform aller Gesetzmässigkeit und jedes sonst bekannten
üebergangs, so dass wir ein Recht haben, sie auch als Vermittlung
zwischen jenem ersten Gleichgewicht und dessen Störung zu ge-
brauchen. Dächten wir uns nun aber das so zu sagen regungslose
Gleichgewicht nach Maassgabe der Begriffe, die in unserer heutigen
Mechanik ohne sonderliche Anstandnahme zugelassen werden, so
Hesse sich gar nicht angeben, wie die Materie zu dem Veränderungs-
spiel gelangt sein könnte. Jedes strenge Gleichgewichtssystem, wie
wir es mathematisch genau vorstellen, trägt in sich selbst keinen
Grund dynamischer Vorgänge. Das Dynamische in den Zuständen
der Materie konnte daher in ihrem statischen Verhalten nicht an-
gelegt sein, — vorausgesetzt, dass unsere Begriffe von der Statik in
ihrer jetzigen mathematischen Fassung nicht eine reale Modification
zulassen.
Umgekehrt können wir von der heutigen Dynamik mit den
verfügbaren Principien nie auf eine ürsprungsstatik zurückschliessen,
sondern es wird im Gegentheil das Gesetz der Unveränderlichkeit
des mechanischen Kraffcvorraths entgegenzustehen scheinen. Bis jetzt
giebt es in der rationellen Mechanik keine Brücke zwischen dem
streng Statischen und dem Dynamischen. Wollte man diesen Mangel
als eine positive Wahrheit nehmen und Speculationen darauf grün-
den, so könnte man getrost behaupten, das im Gleichgewicht Be-
findliche vermehre und vermindere sich nicht, und der dynamische
Bewegungszustand bleibe ewig, was er sei, ohne jemals in das streng
statische Verhalten überzugehen. Die Vertheilung der Materie und
hiemit ihrer Kräftezustände ist nun aber das grosse, bis jetzt wenig
erforschte Mittel, um in Rücksicht auf Bewegung und Ruhe die be-
deutendsten Formverschiedenheiten hervorzubringen. Die Verwand-
lung von Massenbewegung in Theilchenbeweguug ist die leitende
Idee, durch welche man sich die Vertheilung der in ihrer Grösse
sich gleichbleibenden mechanischen Kraftmenge gegenwärtig hin-
reichend exact vorzustellen glaubt. Mit jeder Bewegungsveränderung
in den Theilchen der Materie wird nun aber auch eine andere sta-
tische Affection derselben miterzeugt. Es giebt nämlich kein dyna-
misches Verhältniss, mit welchem nicht zugleich im Antagonismus
der Kräfte eine partielle Aufhebung und mithin eine Art von rela-
— 81 —
tivem Gleichgewicht gegeben wäre. Vielleicht wäre es daher zu-
treffender, wenn man im Allgemeinen sagte, dass die gleichartige
Gesammtaffection grosser Massen in die Affection kleiner Theilchen
mit selbständiger Verschiedenheit und sogar mit einem Antagonismus
des gegenseitigen Verhaltens aufgelöst werde. Wie diese Formver-
änderungen d. h. Vertheilungen der mechanischen Affectionen der
Materie erfolgen, dafür haben wir bis jetzt kein allgemeines Princip
zur Verfügung, und wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn diese
Vorgänge ein wenig in das Dunkle auslaufen. Die nähere Bezeich-
nung dieser Dunkelheit dürfte aber vielleicht zur schliesslichen Auf-
hellung beitragen.
Der Antagonismus der mechanischen Kräfte ist ein Grundschema
des Universums. Wir können uns weder statisch noch dynamisch
zwei materielle Theile in einem gegenseitigen Kraftverhältniss und
mithin keine einzige reale Wirkung denken, bei welcher nicht im
Gegensatz der Richtungen ein Widerstreit ins Spiel käme. Nur die
Trägheitsbeharrung könnte den Schein einer Ausnahme liefern ; aber
in diesem Fall fehlt es auch an jeder realen Wirkung und an jeder
Kraftbethätigung. Abgesehen von der in dieser Hinsicht unzweifel-
haften Entwicklung der Kräfte an Widerständen, die nach und nach
überwunden werden, ist auch diejenige Bethätigung, die in der blossen
Dauer des statischen Verhaltens besteht, unter die allgemeine Form
des Antagonismus aufzunehmen. Der rein mathematische Gedanke
des strengen Gleichgewichts bleibt unberührt, wenn man in der
realen Gegenseitigkeit gleich grosser Hinderungen und Bestrebungen
der Bewegung solche Affectionen voraussetzt, in denen mehr als die
blosse Trägheit vertreten ist, wie sie sich in dem vom Antagonismus
freien Zustande äussert.
Es giebt nun eine allgemeine Erfahrung, nach welcher jeder
Mechanismus, sei er eine künsthche oder natürliche Einrichtung,
finde er sich im unorganischen oder organischen Gebiet, habe er
kosmische Dimensionen oder die des kleinsten lebenden Wesens, —
die thätigen Kräfte verbraucht, abnutzt und also in irgend einer
Form an das allgemeine Medium der Materie überträgt. Wissen-
schaftlich würde man sich noch genauer ausdrücken, wenn man An-
gesichts des Gesetzes der Gleichheit der Kraftmenge in der Action
und Reaction blos von einer Vertheilung oder Diffusion der Kraft-
elemente redete. Diese Vertheilung oder Diffusion genügt aber auch,
um jede specielle Anordnung der Triebkräfte rückgängig zu machen,
Dii bring, Cuisus der Philosophie. C
— 8-2 -
und diese Art von mechanischer Rückbildung kann uns indirect eine
Bürgschaft für die Denkbarkeit des ursprünghch umgekehrten Vor-
gangs werden. In demselben Sinne, in welchem wir eine Vernich-
tung zulassen, müssen wir auch eine schaffende Formgebung, also
einen Uebergang aus einem Vertheilungszustand der Materie in einen
andern auf dem positiven Wege anerkennen. Wer nach den Ge-
setzen der Anordnung fragen sollte, dem antworten wir, dass man
bis jetzt nur die Unzerstörlichkeit der Materie und der mechanischen
Kraft als Gesammtgrössen und in ihren Elementen, aber so gut wie
noch nichts über die Gruppirungsprincipien festgestellt hat. Die
Formverwandlungen berühren den quantitativen Vorrath des Mediums
nicht im Mindesten, und wir können daher auch die Idee zulassen,
dass die örtliche Vermehrung oder Verminderung der Kraftelemente
selbst derjenige mechanische Vorgang ist, vermöge dessen durch eine
allmälige Vertheilung ebensogut das vollständige Gleichgewicht wie
die Störung desselben und der Uebergang zwischen beiden verständ-
lich werden könne. Die örtliche Anhäufung oder Vertheüung ist
nun zwar selbst ein mechanischer Act, bezieht sich aber, was nicht
zu übersehen ist, nicht auf den Vorrath, sondern auf dessen specielle
Vertheilungsform und fällt insofern nicht unter das Gesetz der ab-
soluten ünveränderlichkeit. Irgend eine Form ist im Gegensatz zur
undenkbaren Formlosigkeit allerdings stets vorauszusetzen; aber es
ist nicht nothwendig, dass diese Form das dynamische Wechselspiel
einschliesse und mithin den Widersinn einer Unzahl von abgelaufe-
nen Acten producirt habe.
3. Das Bild des Universums, wie wir es uns bisher hingezeichnet
haben, hat seine Beglaubigung theils in Nothwendigkeiten der rein
ideellcD Logik, theils in den gegebenen Thatsachen und Analogien
der Gegenwart. Alle wahre Wissenschaft hat ihren Ausgangspunkt
in gegenwärtigen Thatsachen, und wenn wir den Begriff der sich
selbst gleichen Beharrung nicht unmittelbar aus dem Verhalten der
Materie und der mechanischen Kräfte mit einem realen Inhalt hätten
ausstatten können, so würde unsere Urspruugsvorstellung in der Un-
bestimmtheit rein logischer Formen verblieben sein. Was uns aber
überhaupt genöthigt hat, die Unendlichkeitsdimensioneu des Univer-
sums in zwei Beziehungen, nämlich im Räume und rückwärts in der
Zeit, gleichsam abzuschneiden und eine wahre Unendlichkeit nur in
der Richtung auf das Zukuuftsspiel der Vorgänge offenzulassen, ist
eine apriorische Wahrheit gewesen, zu der sich für die Ursprungs-
— 83 —
Vorstellung nur noch die reale Thatsächlichkeit der veränderungs-
losen Materie gesellte. Unser Weltbild hätte sich erheblich anders
gestalten können, wenn jene logische Nothwendigkeit mit ihrer Aus-
schliessung der falschen Unendlichkeiten nicht wäre. Um des Con-
trastes willen wollen wir aber auch das falsche Bild vom Universum
kurz kennzeichnen. Die gedankenlose Imagination projicirt hier rück-
wärts ins Unendliche ein ewiges Wechselspiel, welches sich mehr
oder minder nach Art der heutigen Vorgänge in einer unendlichen
Anzahl von Acten und mithin von jeher vollzogen haben soll. Was
die räumliche Ausdehnung anbetrifft, so werden im eigentlichen Sinne
des Worts zahllose Weltkörper oder, mit andern Worten, unendliche
Häufungen der Materie angenommen. Der realen Unendlichkeit des
Raumes soll auch eine Erfüllung von gleich wüster Unendlichkeit
entsprechen; jedoch ist diese Vorstellung nicht so fest ausgeprägt,
wie diejenige von der Vergangenheit. Bezüglich der Zukunft trifft
die wüste Idee vom Universum anscheinend mit unsem rationellen
Anschauungen zusammen; aber dennoch ergiebt sich auch hier bei
näherer Betrachtung ein nicht unerheblicher Unterschied. Wir be-
haupten nämlich nichts weiter, als dass der Unendlichkeit ideell in
dieser Richtung nichts entgegensteht, und wir verlangen überdies
eiuen in der gegenwärtigen Realität und mithin in der objectiveu
Mechanik selbst belegenen Grund, um die ewige Fortsetzung der
Formwandlungen und der Häufung unterschiedener Acte als noth-
wendig zu erkennen. Haben wir einmal in der Vergangenheit den
allmäligen Uebergang aus einem sich selbst gleichen Zustande der
Materie zu differenten Gestaltungen als Anfangspunkt setzen müssen,
so dürfte es auch wohl keine unerhörte Conception sein, zu dem
Anfangspunkt auch einen Endpunkt als rein ideelle Möglichkeit
offenzulassen. Ein sich selbst gleicher Zustand der Materie könnte
ebensowohl am Horizont der Zukunft den Untergang, als am Hori-
zont der Vergangenheit den Aufgang des dazwischenliegenden
Wechselspiels von Entstehung und Vernichtung verbrämen. Es wird
sogar eine Art des Denkens geben, für welche diese Uebereinstimmung
von Ursprung und Ausgang grossen Reiz haben möchte; aber den-
noch sind derartige Zukunftsperspectiven solange abzuweisen, als in
der Realität nicht die sichern Spuren einer absoluten Rückbildung
nachgewiesen und mechanische Schlüsse auf eine allgemeine Diffusion
der materiellen Theile und der Kraftelemente in bestimmter Weise
gezogen werden können. Was würde aber auch schliesslich in einer
— 84 —
solchen Vernichtung der zählbaren Acte des Wechselspiels und Be-
seitigung des rastlosen Rhythmus der Oscillationen Anderes erzielt
werden, als ein Zustand, dem die innere Anlage zu neuen Wand-
lungen möglicherweise ebenso inwohnen könnte, wie dem ursprüng-
lich sich selbst gleichen Verhalten der Materie? Die logische Noth-
wendigkeit steht auch in ihrer realen Gestaltung, ebenso wie in der
ideellen Form, über aller Zeit. Sowenig man bei einer mathema-
tischen Wahrheit fragen kann, wie lange sie wahr sei oder wahr
sein werde, ebensowenig kann man die absoluten Nothwendigkeiten
des Realen von einer Dauer, sondern muss umgekehrt die Dauer
und deren jedesmalige Grösse von jenen selbst abhängig machen.
Ich will mich nicht darauf berufen, dass die colossale Ausdehnung
der Zeiträume eine absolute Zukunftsvorstellung, wenn nicht für die
Wissenschaft so doch für unser Gemüth und unsere ideelle Theil-l:i
nehme am universellen Leben praktisch gleichgültig machte. Letz
teres ist eben nicht der Fall, sobald man es mit den Wirkungen
der Weltanschauung streng nimmt und sich nicht bei Annäherungen
beruhigt. Für das praktische Eingreifen und das sich anschliessende
Bewusstsein ist es freilich unerheblich, ob wir mit einzelnen Jahr-
tausenden oder mit millionenfachen Abschnitten solcher Dauer rech-*|
neu. Für die ideale Haltung unseres universellen LebensbewusstseinsJ
ist aber der volle Libegriff aller Realität erst der entscheidende 1
Grund der abschliessenden Gestaltung. Wie im räumlichen Univer
sum die Gravitation aller materiellen Theile, so entfernt sie auch
sein mögen, auf die Haltung eines einzelnen* Theilchens einwirkt^ 4
so muss auch in den ideellen und realen Beziehungen der zeitlichen
Ausdehnung das Entlegenste in Betracht kommen, und man wird
das zeitliche Universum in keine wüste Unbestimmtheit verwandeln
dürfen, wenn man sich nicht selbst in seiner Gedanken- und Ge-. j
müthshaltung einen wüsten Zustand gefallen lassen will. f '
Nun versteht es sich von selbst, dass die Principien des Lebens-
reizes mit ewiger Wiederholung derselben Formen nicht verträglich
sind. Der tiefere logische Grund alles bewussten Lebens fordert da-
her im strengsten Sinne des Worts eine Unerschöpflichkeit der Ge-
bilde. Ist diese Unendlichkeit, vermöge deren immer neue Formen
hervorgetrieben werden, an sich möglich? Die blosse Zahl der ma-
teriellen Theile und Kraftelemente würde an sich die unendliche! |
Häufting der CJombinationen ausschliessen , wenn nicht das stetige
Medium des Raumes und der Zeit eine Unbeschränktheit der Varia-
— 85 -
tionen verbürgte. Aus dem, was zählbar ist, Tiann auch nur eine
erschöpfbare Anzahl von Combinationen folgen. Aus dem aber, was
seinem Wesen nach ohne Widerspruch gar nicht als etwas Zählbares
concipirt werden darf, muss auch die unbeschränkte Mannichfaltig-
keit der Lagen und Beziehungen hervorgehen können. Diese Un-
beschränktheit, die wir für das Schicksal der Gestaltungen des Uni-
versums in Anspruch nehmen, ist nun mit jeder Wandlung und selbst
mit dem Eintreten eines Intervalls der annähernden Beharrung oder
der vollständigen Sichselbstgleichheit, aber nicht mit dem Aufhören
alles Wandels verträglich. Wer die Vorstellung von einem Sein
cultiviren möchte, welches dem Ursprungszustande entspricht, sei
daran erinnert, dass die zeitliche Entwicklung nur eine einzige reale
Richtung hat, und dass die Causalität ebenfalls dieser Richtung ge-
mäss ist. Es ist leichter, die Unterschiede zu verwischen, als sie
festzuhalten, und es kostet daher wenig Mühe, mit Hinwegsetzung
über die Kluft das Ende nach Analogie des Anfangs zu imaginiren.
Hüten wir uns jedoch vor solchen oberflächlichen Voreiligkeiten;
denn die einmal gegebene Existenz des Universums ist keine gleich-
gültige Episode zwischen zwei Zuständen der Nacht, sondern der
einzige feste und lichte Grund, von dem aus wir unsere Rückschlüsse
und Vorwegnahmen bewerkstelligen.
4. Ein universeller Zerstreuungszustand der Materie, der sich
mit demjenigen der Gase vergleichen lässt, ist das Bild, zu dem
eigentlich schon die Ionischen Naturdenker für die von ihnen ge-
suchte Urbeschaffenheit des Weltalls gelangt sind. Wenden wir uns
aber von Anaximenes über mehr als zwei Jahrtausende hinweg zu
den neusten Vorstellungen, so hat besonders seit der Mitte des
18. Jahrhunderts die Annahme eines Umebels eine neue Rolle ge-
spielt, indem die Gravitationsidee und daneben auch die Wärme-
ausstrahlung den Leitfaden bildeten, um aus der ursprünglich gas-
förmigen Masse die festen Gebilde entstehen zu lassen. Die zweite
Hälfte des 19. Jahrhunderts ist aber in dieser Richtung mit einem
neuen Hülfsmittel ausgestattet, indem die Erkenn tniss der Wärme
als einer molecularen Form der mechanischen Kraft und überhaupt
die Einsicht in die Unveränderlichkeit des mechanischen Kraftvor-
raths gestattet, die Rückschlüsse auf die früheren Zustände des Uni-
versums weit bestimmter zu gestalten. Die Brücke, welche man
zwischen Gravitation und Wärme geschlagen hat, und die Aussicht,
in der exactesten Weise alle Formen der Naturkräfte auf ihre me-
- 86 -
chanische Grundform zurückzufuhren, zeigt uns das Universum als
ein mechanisches System, in dessen Greschichte im letzten Funda-
ment nur die verschiedenen mechanischen Zustände der Materie in
Frage kommen.
Um hier die blos historischen oder kritischen Weitläufigkeiten
zu vermeiden, verweise ich bezüglich der Ionischen Naturdenker auf
meine Geschichte der Philosophie und ausserdem rücksichtlich der
unbefriedigenden und unexacten Form der Kantischen Nebeldeduc-
tionen sowie der Enge des Laplaceschen Schema über die Consoli-
dation des Sonnensystems auf meine Geschichte der Principien der
Mechanik. Hier sei nur hervorgehoben, dass auch heute noch, troi
der Vorstellung von der mechanischen Kraftidentität aller Natur-
processe, der gasformige Zerstreuungszustand nur dann ein Ausgangs-
punkt für ernsthafte Ableitungen sein kann, wenn man das in ihm
gegebene mechanische System zuvor bestimmter zu kennzeichnen
vermag. Andernfalls bleibt nicht nur die Idee in der That äusserst
nebelhaft, sondern der ursprüngliche Nebel wird auch wirklich im
Fortschritt der Ableitungen immer dichter und undurchdringlicher.
In der Anordnung eines mechanischen Systems müssen alle Ver-
änderungen angelegt sein. Als strenger Gleichgewichtszustand im
Sinne der völligen Ruhe und mithin der gegenseitigen Aufhebung
aller Bewegungskräfte lässt sich jene universelle Diffusion der Ma-
terie und der mechanischen Kraft nicht denken; denn ein rein sta-
tisches System kann aus sich selbst keinen Antrieb zur Bewegung
haben und müsste daher in alle Ewigkeit in dem einmal gegebenen
Zustande verharren. Hiezu kommt aber noch, dass an sich selbst
die gasförmige Zerstreuung allen Versuchen widerstrebt, sie anders
als in einem dynamischen Process begriffen vorzustellen. Man würde
diso irgend ein dynamisches Stadium des Zerstreuungszustandes fixi-
ren und von bestimmten Voraussetzungen der Entfernung der selb-
ständigen Thcilchen, der räumlichen Anordnung und mathematischen
Gonfiguration des Ganzen und der Theile, sowie von bestimmten
Kräfteverhältnissen und überhaupt in jeder Beziehung von absoluten
Grössen auszugehen haben. Die bestimmten Formen und Verhält-
nisse, die man hiebei anzunehmen hätte, müssteu aber solange reine
Willkürlichkeiten bleiben, als man zu ihnen nicht durch strenge
Rückschlüsse vom gegenwärtigen Zustande des Universums in der
zwingendsten Weise geführt wäre. Nun verbleibt aber vorläufig
noch Alles im Vagen und Formlosen einer nicht naher bestimm-
— 87 —
baren Diffusiousidee. Die Spuren der gegenwärtig gegebenen Bil-
dungen nöthigen allerdings zu der Annahme eines früheren flüssigen
und noch früheren gasförmigen Zustande» des Universums. Um alle
vorhandenen Gebilde, wie die Abplattung der Weltkörper, die Exi-
stenz ihrer Gasumhüllungen und überhaupt die Schichtung der ver-
schiedenen Dichtigkeitszustände vom Lichtäther bis zu den Massen-'
ballungen hin zu begreifen, müssen wir annehmen, dass die Geschichte
der Materie auf dem Durchlaufen einer Reihe von Zuständen und
Epochen verschiedener Aggregation beruhe, und dass man ein Stück
dieser Geschichte vor sich habe, wenn man die Zwischenvorgänge
ins Auge fasst, deren Endpunkt die gegenwärtige Gliederung und
deren Ausgangspunkt das Universum der Gase gewesen ist.
Mit diesem Gasuniversum haben wir aber nur eine höchst luftige
Conception, die weit davon entfernt ist, sich mit einem völlig iden-
tischen Zustande des Weltmediums oder, anders ausgedrückt, mit
dem sich selbst gleichen Zustande der Materie zu decken. Erstens
ist es wenigstens denkbar, weim auch real nicht anzunehmen, dass
der Zerstreuungszustand erst durch diffundirende Vorgänge aus einer
andern Anordnung hervorgegangen sei. Von unmittelbaren Rück-
schlüssen ist hier freilich keine Rede, und ausserdem würde jede vor-
gängige festere Gestaltung schon ihrem Begriff nach auf eine noch
entferntere Zerstreuungsform zurückdeuten; aber jene Idee ist inso-
fern nicht ganz müssig, als sie uns bei der Annahme eines Wechsels
von Diffusion und Contraction zeigt, wie wir von dem Standpunkt
der gegenwärtigen Weltform doch immer auf irgend einen Zer-
streuungszustand der Materie als den mechanisch entlegensten zurück-
gewiesen werden. Zweitens sind die Eigenschaften des Zerstreuungs-
zustandes mechanisch so geartet, dass sie nur für einen bestimmten
ausdehnungslosen Augenbück ein veränderungsloses System bezeich-
nen, übrigens aber auch in den kleinsten Zeitth eilchen bereits eine
Wandlung einschliessen. Der allgemeinen Gattung nach unterscheidet
sich also das Diffasionsstadium nicht von dem mechanischen Ver-
änderungsspiel der gegenwärtigen Weltform. Es repräsentirt selbst
eine Welt voller Veränderungen und erfordert daher eine rückwärts
hegende Begrenzung. Es muss aus einem Zustande des Weltmediums
entsprungen sein, der sich weder als rein statisch im heutigen Sinne
dieser Vorstellung, noch als dynamisch begreifen lässt. Die Einheit
von Materie und mechanischer Kraft, die wir als Weltmedium be-
zeichnen, ist eine so zu sagen logisch reale Formel, um den sich
— 88 -
selbst gleichen Zustand der Materie als die ürvoranssetzung aller
zählbaren Entwicklungsstadien anzuzeigen. Es ist aber von grosser
Wichtigkeit, die Nothwendigkeit dieser ürsprungsidee, mit welcher
nicht die Zeit überhaupt, aber wohl das zeitliche Wechselspiel von
Veränderungen eingeleitet wird, nicht mit der physikalischen Nebel-
vorstellung zu verwechseln. Allerdings haben wir in dem Gasuni-
versum insofern eine Annäherung an den zeitlich unentwickelten
Zustand, als die Mannichfaltigkeit der Formen in ihm noch nicht
sonderlich weit ausgeprägt und hervorgetreten ist; aber diese appro-
ximative Vereinfachung bleibt eben nur ein Bild, welches unsem
entlegeneren Conceptionen die Richtung anweist.
5. Wäre das, was man bereits mit dem stolzen Namen einer
Mechanik der Wärme bezeichnet, mehr als ein epochemachender An-
fang zu einer solchen Wissenschaft, so könnte die kosmische Physik
etwas tiefer in die Geschichte der Materie und namentlich in die
ürsprungszustände der Gebilde eindringen. Die Entdeckung Robert
Mayers ist aber innerhalb des Menschenalters seit ihrer ersten un-
beachteten Veröffentlichung in keiner Richtung sonderlich weiter
gefördert worden, als er sie nach und nach selbst gebracht hat.
Grade die wichtigsten kosmischen Anwendungen sind sein Werk, und
vorzüglich ist es seine Mefceortheorie der Sonnenwärme, die auch
überhaupt für das Universum und für die Urgeschichte der Materie
einige Anknüpfungspunkte darbietet. Wer sich davon überzeugen
will, wie illusorisch das ist, was ausser den Mayerschen Fundamenten
in der mechanischen Wärmefcheorie und deren Anwendungen in neuen
Richtungen prätendirt worden ist, achte in dem betreffenden Ab-
schnitt meiner Geschichte der mechanischen Principien nicht blos
auf das, was ausdrücklich gesagt und positiv angedeutet, sondern
auch auf das, was mit einer für den literarisch Orientirten leicht
bemerkbaren Absichtlichkeit weggelassen wurde. In diesem Gebiet
hat grade die Verworrenheit und Ohnmacht, die keines einzigen
eignen Gedankens fähig war, ihre Blosse hinter dem modernen
Gegenstück der mittelalterlichen Scholastik, nämlich hinter einem
kindisch eitlen und dabei noch an sich geschmacklosen Aufputz von
analytischen Formeln zu verstecken gesucht und das Publicum zu
einem grossen Theil auch wirklich mystificirt. Ueberdies ist durch
die neue Entdeckung auch in den Reihen der Physiker mancher
wirre Kopf zu einer neuen Art von Phantastik aufgeschüttelt und
hiedurch unter den Fachleuten oft mehr Thorheit producirt worden.
— 89 —
als bei den sogenannten Naturphilosoplien des halbpoetischen Schlages
heimisch zu sein pflegt.
Bis jetzt ist die mechanische Wärmetheorie in ihrer unmittel-
baren Gestalt und in ihrem eigensten Gebiet auf die Mayersche
Aequivalentzahl , also auf die Gleichung zwischen Calorie und me-
chanischer Arbeit beschränkt, d. h. eine gewisse thermometrische
Erhöhung des Wärmezustandes einer Masse ist einer gewissen Er-
hebung desselben Gewichts Wasser gegen die Schwere gleichzusetzen.
In der immer genaueren Bestimmung der Anzahl von Kilogram-
metem, die der Erwärmung eints Kilogramms Wasser um einen Grad
entsprechen, fasst sich so ziemlich Alles zusammen, was durch die
der Entdeckung nachfolgende Experimentirkunst gewonnen wurde.
Nun ist der Mayersche Aequivalentsatz eine äussere Erfahrung, der
eine innere Theorie zu Grunde lag. Sobald man diese innere Theorie,
d. h. die Yorstellungen von den Causalitäts- und Identitätsverhält-
nissen untersucht, die zwischen Wärmeveränderung und mechanischer
Arbeit in Frage kommen, so hört die Einigkeit in der Auslegung
der Thatsache sofort auf. Die Thatsache selbst besteht in einer
quantitativen Zusammengehörigkeit. Man kann einen Wärmezustand
von bestimmter Grösse zur Erzeugung einer bestimmten Menge me-
chanischer Arbeit, also der Fortschaffung einer Masse gegen eine
widerstehende Kraft, verwenden, und man kann ebenso die umge-
kehrte Verwandlung vornehmen. Dies wäre also zunächst ein dop-
peltes Causalverhältniss , und eine solche Doppelheit sowie die ein-
heithche Messbarkeit kann nur gedacht werden, wenn man in den
beiderlei Wirkungen etwas streng Identisches voraussetzt. Was ist
nun dies Sichselbstgleiche, was zwar in der Zusammensetzung seiner
Elemente die Form erheblich ändern, aber in seinem Bestände nicht
vermehrt und vermindert werden kann? Es ist offenbar die mecha-
nische Kraft; aber trotz dieser übereinstimmenden Antwort bleibt
noch die bestimmtere Frage übrig, ob es nothweudig ein räumlicher
Bewegungszustand sei, den wir als das Gemeinsame der verschiedenen
Kraftformen anzusehen haben. Die Art des Maasses, mit welchem
wir messen, giebt unserer Ansicht nach auch hier die unausweich-
liche Antwort. Soweit die Naturprocesse mit einer Arbeitseinheit
gemessen werden können, müssen sie auch selbst sämmtlich mecha-
nische Arbeit, wenn auch nur in der molecularen Form sein. Der
Entdecker selbst nahm dies nicht an, sondern meinte, dass räum-
liche Bewegung als solche verschwinden müsse, damit eine andere
— 90 —
Kraftform, wie die nicht strahlende Wärme sei, auftreten könne.
Hiemit ist nun freilich nur ein Räthsel aufgegeben, aber keines ge-
löst. Dennoch müssen wir uns neben der gegen theiligen und vor-
herrschenden Annahme der Auflösbarkeit aller Naturprocesse in
eigentUche Bewegungen immer wieder erinnern, dass mit den Be-
wegungszuständeu der Materie auch statische Verhältnisse gegeben
sind, und dass diese letzteren an der mechanischen Arbeit kein Maass
haben. Indirect sind sie vielmehr selbst solche Elemente, die sur
Messbarkeit der mechanischen Arbeit nicht entbehrt werden können.
Wenn wir früher die Natur als eine grosse Arbeiterin bezeichnet
haben und diesen Ausdruck jetzt streng nehmen, so müssen wir noch
hinzufügen, dass die sich selbst gleichen Zustände und ruhenden
Verhältnisse keine mechanische Arbeit repräsentiren. Wir vermissen
also wiederum die Brücke vom Statischen zum Dynamischen, und
wenn die sogenannte latente Wärme big jetzt für die mechanische
Theorie ein Anstoss geblieben ist, so müssen wir auch hierin einen
Mangel anerkennen, der sich am wenigsten in den kosmischen An-
wendungen verleugnen dürfte.
Anstatt also mit herkömmlicher Naivetät die allerjüngsten und
unreifsten Vorstellungen über die Wärmeerzeugung aus den Balluugs-
oder Consolidationsprocessen der ursprünglich zerstreuten Materie des
Universums als etwas Selbstverständliches zu wiederholen, machen
wir vielmehr auf das Bedenkliche aufmerksam, was in der kosmo-
gonischen Anwendung einer in einem Hauptpunkt der gemeinen
Physik noch unzulänglich gebliebenen Theorie liegt. Die quantita-
tiven Gesetze der statischen Gebundenheit oder therm ometrischen
Indifferenz sowie des entsprechenden Freiwerdens der Wärme sind
für die kosmogonische Mechanik sicherlich nicht gleichgültig, und
Robert Mayer hat einen guten Tact für die Bemessung der bis jetzt
möglichen Tragweite der Speculationen bekundet, indem er bei seiner
Meteortheorie über die Unterhaltung der Sonnenwärme stehen blieb
und keine moleculare Verallgemeinerung derselben vornahm.
Die Mayersche Annahme über den fortwährenden Ersatz der
ausgestrahlten Sonnenwärme beruht darauf, dass der mechanische
Stoss bei gehöriger Geschwindigkeit den Körper so entschieden auf-
löst und eine solche Wärmemenge erzeugt, wie es kein Verbrennungs-
process bei einem gleichen Quantum Kohle und überhaupt keine
chemische Entwicklung vermag. Wenn nun die im planetarischen
Raum oder darüber hinaus zerstreuten kleineren kosmischen Körper
I
— 91 —
sich in immer rascheren Umläufen der Sonne nähern und fortwäh-
rend ein Theil davon auf dieselbe niederfällt, so wird die Verwand-
lung der durch die grosse Geschwindigkeit dieser kleinen Massen
repräsentirten mechanischen Kraft in die Form der Wärme so zu
sagen eine andauernde Nachheizung der Sonne vorstellen. Mayer,
der überhaupt von den kosmischen Schlüssen auf einen Untergang
der Hauptbestandtheile des Sonnensystems nichts wissen will, hul-
digt mit der fraglichen Theorie des Ersatzes der verlornen Sonnen-
wärme einer Anschauungsart, nach welcher sich alle Vorgänge von
bedenklicher Einseitigkeit durch Hergänge in entgegengesetzter
Richtung ausgleichen. Obwohl nun dieses Princip, wenn man es
nur hinreichend im Grossen anwendet, alle Analogien der Erfahrung
für sich hat, so kann es doch in jenem besondern Fall nichts helfen.
Die auf die Sonne fallenden Meteore des Weltraums oder vielmehr
des ausschliesslich der Sonnenanziehung anheimfallenden und nicht
von der Anziehung anderer Körper beherrschten Raumgebiets müssen
sich erschöpfen, falls sie nicht immer neu gebildet werden. Eme
Neubildung aus bereits zerstreuter Materie könnte aber auch nichts
helfen; denn diese zerstreute Materie hat um nichts weniger ihre
Grenzen und ihr Maass. Wenn daher nicht von der Sonne selbst
eine neue Expansion ausgeht, so kann der Bestand der Wärme-
strahlung nicht länger als jener Contractionsprocess der dem Sonnen-
gebiet angehörigen Meteore und zerstreuten materiellen Theile ge-
sichert erscheinen. Nun sind wir weit entfernt, diese rein hypothe-
tische Consequenz als genügend anzusehen, um über das Schicksal
des Sonnensystems endgültig zu urtheilen. Nur soviel ist klar, dass
die fragliche Mayersche Vorstellung, die, in Ermangelung einer Er-
fahrung über den vorausgesetzten Meteorfall auf die Sonne, nur eine
vorläufige Hypothese bleibt, auch dann, wenn sie volle Gewissheit
für sich hätte, die Wärmeökonomie des Sonnensystems als keine
unbeschränkte Dauer gleicher Ausgabe und Einnahme zu kennzeich-
nen vermöchte.
6. Bei dem mechanischen Stoss von Massen kann die Frage
der statisch zu bindenden Wärme solange in den Hintergrund treten,
als man sich nicht mit Schmelzungs- oder Verflüchtigungsvorgängen
beschäftigt. Im letzteren Fall und ausserdem für die umgekehrten
Hergänge in der Richtung auf Verdichtmig der ursprünglich mole-
cular zerstreuten Materie wird aber die Lücke in der mechanischen
Wärmetheorie sehr erheblich. Noch weit allgemeiner können wir
— 92 —
aber den Punkt bezeichnen, bei welchem die grösste Vorsicht nöthig
ist, indem wir bemerken, dass die Annäherung der Atome doch nicht
ohne Weiteres nach den Gesetzen des Stosses behandelt werden darf.
Die Rolle der Wärme bei den Verdichtungen der ursprünglich dif-
fimdirten Gesammtmaterie des Universums ist keineswegs so leicht
zu schematisiren, als man dies bisher zu bewerkstelHgen geglaubt hat.
Da nun aber andererseits feststeht, dass die Wärme in den kos-
mischen Bildungen mindestens ebensosehr betheiligt ist als die Gra-
vitation, so werden alle eigentlichen Entwicklungsgesetze des Uni-
versums vorläufig nur äusserst unvollkommen zu erkennen sein. Die
Bildung der Planeten und hiemit der gegliederten Verfassung des
Sonnensystems wird uns allerdings einigermaassen verständlich, wenn
wir uns eine glühende Gasmasse mit einem Kerne und concentrisch
verdichteten Schichten in Rotation und in der Abkühlung begriffen
denken. Die vollständige Ablösung von Ringen mag dann am ent-
legensten Ende beginnen und aus den verschiedenen Ringen ein
Planet nach dem andern derartig entstehen, dass die dem Sonnen-
kem näheren die geschichtlich späteren sind. Allein in diesem ganzen
Hergang haben wir nur das Beispiel eines secundären Stadiums kos-
mischer Geschichte vor uns. Die universelle Molecularzerstreuung
der Materie enthält weder den Kern noch dieselbe Wärmevertheilung
und kann noch nicht ohne weitere Nachweisung als etwa in einer
einzigen Rotation begriffen gedacht werden. Wir finden hier, dass
unsere Ableitungen und Entwicklungsvorstellungen von der Tragweite
derjenigen Rückschlüsse abhängig sind, die wir auf die Beobachtung
des gegenwärtigen Zustandes zu gründen vermögen. Die Kenntniss
einer Entwicklungsform ist mithin von irgend einer thatsächlichen
Beobachtung abhängig, die in irgend eine Gegenwart, also in das
frühere oder spätere Wahmehmungsbereich denkender Wesen ge-
fallen ist. Die physikalische Phantasie kann nichts weiter thun, als
das, was sie im Kleinen beobachtet, in grösseren Dimensionen be-
thätigen, und so ergiebt sich, dass die entwickelnden Mächte, welche
uns die heutige Naturgestalt vor Augen legt, auch die Grundsätze
für die Vorstellung alles Früheren und Späteren liefern müssen.
Aus letzterem Umstände können wir eine Wahrheit gewinnen,
die uns für die Mängel der bestimmteren Entwicklungsgesetze we-
nigstens mit der Erkenntniss einer Haupteigenschaft des allgemeinen
Schematismus entschädigt. Wenn die Gegenwart das Maass für die
Vergangenheit und für die Zukunft wird, imd wenn die thatsächhche
— 93 —
Wirkimgsaxt der Kräfte im natürlichen Zustande das einzige mög-
liche Musterbild für alle Operationen liefert, so giebt es keine eigent-
lichen Weltkatastrophen. In jedem physikalischen Naturprocess wird
die Wendung oder, wenn man es so nennen will, die Epoche, mit
welcher ein Wechsel der Eigenschaften eintritt, durch quantitative
Uebergänge langsam und in allmäliger Steigerung vorbereitet. Die
sich verhältnissmässig rasch vollziehenden x4.ctionen, die wir, wie die
elektrischen Entladungen, allenfalls als Musterbild jäher Katastrophen
gebrauchen könnten, sind im ungestörten Gange der Natur und in
Yergleichung mit dem umfassenden Gebiet des ruhigen Waltens der
Kräfte nur von untergeordneter Bedeutung. Sie haben nicht jene
Ungeheuerlichkeit an sich, mit welcher eine leichtsinnige Imagina-
tion für den gesammten Weltprocess so freigebig zu sein pflegt.
In einem engern, nicht eigentlich kosmischen Bereich, nämlich
in der Geologie sowie in den organischen und vitalen Bildungen
hat man die Annahme von Katastrophen, in denen ein früherer Zu-
stand plötzlich untergegangen und mit einer neuen Schöpfung ver-
tauscht worden wäre, jetzt glücklich beseitigt. Aber mit den Schick-
salen des Universums oder auch nur unseres Sonnensystems spielt
man noch so gemüthlich katastrophenhaft und sucht grade die Zu-
kunft mit so abenteuerlichen Ideen heim, dass hier die Kritik und
die tiefere Anschauung von der stetigen Gesetzmässigkeit aller Vor-
gänge noch viel zu berichtigen haben. Unablässige Veränderung ist
allerdings auch in diesen Universaldimensionen das Grundgesetz.
Keine besondere Gestalt der Natur darf als absolut beständig an-
gesehen werden, und in der Gegenwart arbeiten bereits alle Kräfte
an der Gestaltung der Zukunft des Universums. Allein die in klei-
neren Zeiträumen nicht einmal merkliche Art der Umwandlung ist
auch diejenige Form, die man für die universelle Reihe der Ver-
änderungen als maassgebeud voraussetzen muss. Sollten also z. B.
wirklich die Planeten jemals bis zur Sonne gelangen, so würden sie
äussei*st allmälig die Durchmesser ihrer Bahnen ändern, und es bHebe
sogar eine stetige Anpassung ihrer organischen und vitalen Ausstat-
tung an die neuen Verhältnisse denkbar. Ja es könnte in einem
solchen Vorgang zum Theil auch eine Ausgleichung liegen; denn
wenn die Wärmeleistungen der Sonne geringer würden, so müsste
doch der nähergekommene Planet noch ebensoviel oder mehr Wärme
erhalten können, als in einer seiner früheren Entfernungen. Sehen
wir aber selbst von dieser Compensation ab, so ist schon die blosse
— 94 —
Stetigkeit ein hinreichender Grund, um die voreiligen Yemichtungs-
ideen abzuweisen. Wenn das Menschengeschlecht oder die Gattungen
auf andern Weltkörpem neuen Bildungen weichen, so wird dies
durch allmälige Metamorphose und Aussterben, aber nicht durch
einen plötzlichen Zerstörungs- und Schöpfungsact geschehen müssen;
denn alle Analogien der Erfahrung weisen auf eine solche stille Ar-
beit der Natur hin, und Nichts unterstützt den monströsen Gedanken,
dass die Triebkräfte der Natur auf eine plötzliche Abreissung des
einmal gesponnenen Fadens irgendwo angelegt wären. Wollte nun
aber Jemand die hypothetische Consequenz, die sich an die Vorstel-
lung eines widerstehenden Weltraummediums und an die in dieser
Beziehung keineswegs unstreitigen mechanischen Wirkungen allen-
falls knüpfen lässt, als thatsächliche Nothwendigkeit geltend machen
und z. B. auf der schliesslichen Vereinigung der Planeten mit der
Sonne bestehen, so würde allerdings der Stoss genau so eine Unter-
brechung der Stetigkeit sein, wie er es in unsem gewöhnlichen phy-
sikalischen Vorgängen ist. Ein schnelleres Tempo der Entwicklung
würde eintreten; der Eigenschaftswechsel der Zustände würde sich
in eine verhältnissmässig geringe Zeitausdehnung zusammendrängen
und mithin eine eigenthche Wendung eintreten, wie wir sie z. B. bei
plötzlichen Aenderungen der Aggregatzustände beobachten. Diese
Wendung wäre aber noch lange nicht von der Art jener monströsen
Katastrophen, die völlig unmotivirt und unvorbereitet eintreten. Die
Naturstetigkeit verleugnet sich nirgend, indem sie auch dem rascheren
Wechsel eine allmälig gesteigerte Reihe gehäufter Veränderungen
vorangehen lässt. Wäre also ein solches Schicksal des Sonnensystems
nothwendig, so würde doch zuvor die in Frage kommende vitale
Welt allmälig abgespielt haben und einem natürlichen, aber keinem
gewaltsamen Tode anheimgefallen sein. Hinterher würde mau nach
derselben hypothetischen Consequenz für das Sonnensystem eine neue
Verflüchtigung der vereinigten Materie anzunehmen haben; denn
stellt man einmal solche planetarischen Stösse vor, so müssen sie
auch hinreichen, die planetarische Materie vermöge der Erhitzung
wieder ru zerstreuen und eine neue weit ausgreifende Umhüllung
des Sonnenkernes zu liefern, so dass die Ring- und Planetenbildung,
wenn auch vielleicht in kleinerem Maassstabe, wieder offenstände.
Unsere Bemerkung über den kleineren Maassstab ist nicht über-
flüssig; denn nach den fraglichen Annahmen würde das Sonnen-
system als Ganzes einen Theil seiner Wärme und mithin seiner ver-
— 95 —
fiigbaren mechanischen Expansionskraft in den universellen Welt-
raum difiFundirt oder, mifc andern Worten, auf die feinste Materie
des Universums übertragen haben.
Da der leere Raum als solcher kein Träger von Kräftewirkun-
gen ist, sondern mit dem Leitfaden der Materialität auch die Kraft-
bethätigung ihre Auswege und ihren Gegenstand verliert, so müsste,
um in der Entwicklung der fraglichen Consequenzen für das Uni-
versum fortzufahren, der Aether oder, wie man sonst jene feinste,
den kosmischen Raum erfüllende Materie nennen mag, schliesslich
der Empfänger und Depositar aller lebendigen mechanischen Kraft
werden, die der Gesammtheit aller Sonnensysteme durch Abkühlung
entströmt. Hiemit sind wir denn aber bei einem Punkte angelangt,
wo sich das Wagniss der Physik offenbart. Die letztere weiss näm-
lich bis jetzt nicht im Mindesten von den Zuständen oder gar Zu-
standsänderungen des Aethers Rechenschaft zu geben, und der Ge-
danke einer Rückwirkung des Aethers auf die geballten Massen ist
zugleich zu unausw^ eichlich, als dass man von einer so dunklen
Kenntniss des Weltenschicksals, bei welcher die kosmische Wärme-
stjrahlung noch fast so wie ein Verlust in das Nichts behandelt wird,
sonderlich befriedigt sein könnte. Nimmt man noch hinzu, dass der
kosmische Antagonismus der zwei Formen der mechanischen Kraft,
die wir als Wärme und als Gravitation erkennen, ein noch sehr
dunkles Gebiet bildet, so muss die Zuversicht der obigen, aus einem
einseitigen Schema gezogenen Folgerungen gewaltig erschüttert wer-
den. Es bleibt mithin denkbar, dass sich das Spiel der Verände-
rungen auch auf einem andern Wege in das Unbeschränkte fortsetze
und mit neuen Gebilden bereichere. Wenigstens lässt sich eine
Wiederauflösung des Universums in seine Bestandtheile noch nicht
als innere reale Noth wendigkeit darthun, und wir können mithin
einen beständigen Wechsel der Naturgestalten auch ohne die uni-
verselle Auflösung concipiren. üebrigens käme aber auch auf eine
solche Auflösungsbedingung nicht viel an, da ja unter allen Um-
ständen irgend eine Art von Stetigkeit und in ihr die Beharrung
der einfachen Elemente mit demselben Gesammtbestand von Materie
und mechanischer Kraft gesichert bleibt. Durch diese Sicherung
wird wenigstens den wüsten, ganz unwissenschaftlichen und spki-
tistischen Enfanterien über ein einstiges Verschwinden der Materie
und so zu sagen über einen jüngsten Tag aller Realität vorge-
beugt.
— 96 —
7. Seit das Spectrum und mithin überhaupt alles Licht ein Er-
kennungsmittel der chemischen Unterlagen seiner Erzeugung gewor-
den ist oder, mit andern Worten, seit dem Aufkommen der Spectral-
analyse ist die chemische Zusammensetzung des Universums nicht
mehr ein unzugänglicher Gegenstand. Das Licht der Sonne hat uns
auf der letztem solche Grundstoffe verrathen, wie sie auch in der
Zusammensetzung der Erdenkörper eine Rolle spielen. Auch das
Licht von sonstigen Fixsternen lehrt nichts Anderes, und so bleibt
fiir den Denker nicht der geringste Zweifel, dass unsere wohlbekann-
ten chemischen Elemente überall im Universum vertreten siud. Diese
Einheitlichkeit der chemischen Weltcomposition ist eine neue Er-
rungenschaft zur Aufdeckung der allgemeinen Systematik der Natur
und erinnert uns nebenbei daran, auch in andern Richtungen lieber
die allgemeine Gleichartigkeit, als die leere Vorstellung von etwas
völlig Anderm zuzulassen. Die sich selbst gleiche Beharrung der
chemischen Elemente in den Wandlungen der Art ihrer Zusammen-
setzung kann als ein drittes Beharrungsgesetz zu jenen beiden an-
gesehen werden, welche sich auf das Quantum der Materie und der
mechanischen Kraft i^^ziehen. Das im Universum vorhandene Gold
muss jederzeit diesei^l^i .Menge gewesen sein und kann sich ebenso-
wenig wie die allgemeine Materie vermehrt oder vermindert haben.
Dasselbe muss man von dem Wasserstoff oder jedem andern wirk-
lichen Element sagen. Gesetzt auch die Chemie irrte in der Be-
trachtung einiger Elemente als wirklicher Grundstoffe, so würde dies
in der Hauptsache nichts ändern. Letzte einfache Bestandtheile
müssen in irgend einer Anzahl unter allen Umständen übrig bleiben ;
denn aus was sollte man sonst eine Zusammensetzung bewerkstelligt
denken? Die Auflösung in ein einziges Element ist ein Widersinn.
Wollte man aber den Gedanken der Zusammensetzung ganz aufgeben
und die Qualitäten unserer Grundstoffe als rein mechanische Formen
einer sonst völlig identischen Materie ansehen, so wäre man freilich
wieder bei dem Goldmachen, wenn auch nicht durch Menschenhaud,
80 doch durch einen ursprünglichen Naturprocess angelangt, und es
meldete sich diö- Frage nach dem Ursprung der chemischen Arten
in einer ähnlichen Weise an, wie diejenige nach dem Ausgangspunkt
der organischen und vitalen Gattungen. Die Erzeugung der speci-
fischen Unterschiede der einfachen Stoffe würde aber alsdann auf
eine Differenzirung der^ Arten der Materie hinauslaufeo. Wir müssten
abo erst aus der Gegenwart einen Naturprocess kennen, der etwas
— 97 —
von einer Wandlung dieser Arten an sich trüge, ehe wir das Recht
hätten, an der absohiten Urspriinglichkeit und ewigen ünveränder-
lichkeit der qualitativ verschiedenen Atome zu zweifeln. Selbstver-
ständlich würde nur allein die mechanische Constitution innerhalb
derselben einheitlichen Materie als letzter Grund der chemischen
Fundamental Verschiedenheiten in Frage kommen können. Hiemit
bliebe auch die Welt der chemischen Differenzen auf eine Mannich-
faltigkeit in den Gestaltungen der gleichartigen Materie und ihrer
Zustände vermöge der ebenso gleichartigen mechanischen Kraft be-
s^chränkt, und es wäre durchaus noch keine ungeheuerliche Welt-
auffassung, die Formverwandlungen in der Stufenleiter physikalischer
Kräfte bei der Differenzirung der chemischen Elemente betheiligt zu
denken. Indessen haben wir bis jetzt keinen thatsächlichen Erfah-
ningsgrund, derartige Conceptionen für etwas Anderes als reine Will-
kürlichkeiten der Imagination zu halten. In keinem natürlichen oder
künstlichen Hergang wird die Sichselbstgleichheit der chemischen
Elemente verleugnet, und so müssen wir ihre absolute Ursprünglich-
keit als Grundgesetz des Universums anerkennen.
Nach dem Bisherigen haben wir drei ^^ "h-Vviirigs- oder Be-
sbändigkeitsgesetze und einen Grundcharakter :..rv.i:--jiintwicklung als
schematische Eigenschaften des Systems der Dinge festgestellt. Der
Grössenbestand der allgemeinen Materie und der einfachen Elemente
und ebenso der Grössenbestand der mechanischen Kraft sind un-
veränderlich, d. h. in jeder Vergangenheit wie in jeder Zukunft als
einerlei vorauszusetzen. Hiezu kommt noch der Stetigkeitscharakter
der Entwicklungen, vermöge dessen alle Wendungen durch eine Reihe
von Yeränderungshäufungen elementarer Art vorbereitet sein müssen
und mithin die ungeheuerlichen Katastrophen und überhaupt alle
Mächte, die im gegenwärtigen Wirken der Natur ohne Analogon
sind, völlig ausgeschlossen werden. Eigentliche Entwicklungsgesetze
von grösserer Specialität und genügender Exactheit haben wir für
den Kosmos, abgesehen von der Fortschrittsrichtung in der Conso-
lidation und Gliederung der ursprünglich zerstreuten Materie, in
völlig unbedenklicher Form nicht ausmachen können. Hiezu
würde es eines Wissens bedürfen, welches bis jetzt noch mangelt.
Man müsste nämlich vor allem Andern doch wenigstens über die
Stufenleiter in den physikalischen Formbestimmungen der mechani-
schen Kraft gut orientirt sein. Man müsste also z. B, angeben kön-
nen, wie sich die Gravitation, die Wärme und die Elektricität zu
Dühriug, Ciiisus der Piiilosopliie. 7
— 98 —
ilem allgemeinen Kraftmattrial verhalten, und wie sie in der Syste-
matik der Natur gruppirt sind. Ausser der noch sehr vagen Idee
von der Einheit und sogenannten Correlation der Naturkräfte, deren
deutlicher Sinn sich auf die Identität des mechanischen Kraftfonds
bezieht und empirisch bis jetzt nur für Wärme und Gravitation nach-
gewiesen ist, — ausser jener noch sehr unbestimmten Anticipation
besitzt man noch nichts, was als Rechenschaft über eine genetische
Naturskala der Kräfte gelten könnte. Sogar über die fundamentalen
Antagonismen ist man im Universum eigentHch nur in einem em-
zigen Falle äusserlich klar, nämlich da, wo man die Gravitation
durch eine gewöhnlich transversale ßeharrungsbewegung in einem
so zu sagen beweglichen Gleichgevncht aufhebt. Alle andern Ideen
über das Gegenspiel der Naturkräfte in der Mechanik des Univer-
sums sind mehr oder minder dunkel, d. h. sie erfordern die Zurück-
führung auf einfachere und exacter feststellbare Beziehungen. Aber
auch in jenem deutlich erkannten Antagonismus ist die Natur seiner
Glieder noch immer problematisch. Die Gravitation ist bis jetzt ein
mathematischer, bei den physischen Körpern zwar als real nach-
gewiesener, abe. »ängens unaufgeklärter Begriff geblieben. Die An-
näherung der Mb.^s5^n nach Maassgabe der Menge der Materie und
in gleicher Weise wie bei der Erdschwere ist sein einziges Kennzeichen,
und die unvermittelte Art, in welcher die Wirkung in die Ferne als
im absolut leeren Räume vor sich gehend vorgestellt werden muss,
ist ein Mangel, zu dessen Wahrnehmung es nicht der Denkweise
und des Standpunkts eines Huyghens bedarf. Allerdings wird mau,
wenn man überhaupt von einem materiellen Theil zum andern eine
Wirkung übertragen denken will, irgendwo mit den Einschaltungen
von Vermittlungen Halt machen müssen, da sich der Fortschritt ins
Schrankenlose hier grade nach unsern Grundsätzen am entschieden-
sten verbietet. Auch der absolut leere Raum kann uns keine Schwierig-
keiten machen; denn er kommt nach dem Axiom, welches wir als
Princip des Leitfadens der Materialität bezeichnet haben, nur als
Ausdruck eines mechanisch erheblichen Abstandes uud materieller
Zustände, sonst aber gar nicht in Betracht. Dagegen dürfte es als
ein allzu rascher Verzicht auf weitere Vermittlungen erscheinen,
wenn man Angesichts der Erfüllung der kosmischen Zwischenräume
mit einer das Licht und die Wärme fortpflanzenden Materie für
immer mit dem mathematischen Begriff einer unmittelbar in kos-
mische Fernen wirkenden Gravitation zufriedengestellt bleiben wollte.
— 99 —
Auch der Umstand, dass eine jede Action, die sich durch die Räume
erstreckt, in allen andern Fällen irgend eine, wenn auch noch so
kleine Zeitdauer zu ihrer Vollziehung in Anspruch nimmt, schliesst
eine mächtige Analogie ein, der gegenüber die Ausnahme einer ein-
zigen Naturkraft befremdlieh erscheinen muss und der Aufklärung
bedarf. Wir sind also mit dem Grayitationssystem, soweit es mehr
als eine materielle Mathematik sein oder werden soll, sicherlich noch
nicht am Ende, und vielleicht ist die bedeutsame Epoche, die mit
den Anfängen zur Mechanik der Wanne eingeleitet wurde, in ihren
ferneren Consequenzen dazu bestimmt, auch etwas tiefer in das phy-
sikalische Wesen der Gravitationsmechanik einzudringen. Allem An-
schein nach stammt der Antagonismus der kosmischen, jetzt gewöhn-
lich mehr oder minder transversalen Beharrungsbewegungen und der
Tendenzen der allgemeinen Schwere aus einer einheitlichen Kraft-
form, bei deren Differenzirung zu zwei verschiedeneu Bethätigungs-
arten der Aether und die Wärme die wesentliche Rolle gespielt
haben müssen.
Das Universum ist ein Mechanismus, und ein solcher kann nicht
ohne Systematik gedacht werden. Es muss daher eine einfache
Grundform der Kraft geben, und die Bethätigung muss auf einer
fundamentalen Doppelgestaltung beruhen. Ein Widerstand und eine
Ueberwindung desselben müssen den Grundtypus aller Vorgänge
bilden. Die Gravitation selbst oder eine höhere, sie einschliessende
Beziehungsform der materiellen Theile kann nun im Universum als
überall gültig vorausgesetzt werden; denn die Beobachtungen an den
Doppelsternen bestätigen immer genauer die Vorwegnahme der Ana-
logie und des Gedankens, dass die unumgängliche Grundform die
Tendenz zu den räumlichen Annäherungen nach Maassgabe der
Menge der Materie sei. Hiemit haben wir aber nur die eine Seite
des Antagonismus vor uns, und da die kosmische Universalität der
Wärme sogar empirisch weit leichter erkennbar ist, als diejenige
der Schwere, so haben wir von der genaueren Kenntniss dieser
Wirkungsform der Natur die umfassendsten Einsichten in den Ge-
sammtmechanismus zu erwarten. Ueberdies sind die Beziehungen
der Wärme zu den Atomgewichten und zu den Aenderungen der
Aggregationsformen für die Constitution der Materie charakteristi-
scher, als die blossen Affectionen des Gravitirens. Die für das Wesen
der Dinge so intime Rolle der Wärme zeigt sich aber erst vollständig
durch ihren Einfluss auf die specielle Gliederung der Gebilde und
— 100 —
schliesslich auf die Unterhaltung des Lebens. Wenn also ein höchstes
und universelles Entwicklungsprincip einmal zugleich den Kosmos
und das Leben auf den einzelnen Weltkörpem als nothwendige
Gheder einer Kette von Wirkungen sichtbar machen sollte, so würde
es aller Wahrscheinlichkeit nach den Mechanismus der Wärme als
Grundgestalt enthalten müssen.
IDrittes Oapitel.
Organische Entwicklungsgesetze.
Sobald wir von der kosmischen Weltverfassung und der näher
bekannten Einrichtung unseres Sonnensystems zu dem Schicksal eines
einzelnen Körpers, wie der Erde, übergehen, so gilt er uns wesent-
lich nur als ein Schauplatz für organische und vitale Entwicklungen.
Die Geologie ist ein Mittelglied zwischen der kosmischen Betrach-
tung und der Aufmerksamkeit auf die Kette der Lebensformen. Die
stetigen, mit plötzlichen und gewaltsamen Katastrophen unverträg-
lichen, Entwicklungsideen haben im Eingang des 19. Jahrhunderts
in Lamarck einen vielseitigen Vertreter gefanden, sind aber erst ein
Menschenalter später durch Lyell in der Geologie zu umfassender
und specieller Verwerthung und noch weit später zu allgemeiner
Anerkennung gelangt. Nach diesen neuen AUmäligkeitsgrundsätzen
sind die Kräfte, welche heut an der Veränderuug der Erdoberfläche
arbeiten, an sich selbst und in ihrer stetigen Wirkungsart ebendie-
selben, welche im Verlauf gewaltiger Zeitausdehnuugen die erheb-
lichsten Umwandlungen hervorgebracht haben. In einer andern
Richtung hat Lamarck auf eine für ihn besonders charakteristische
Weise mehr als den blossen Anstoss zu einer neuen Auffassung der
lebenden Welt gegeben. Er hat, und zwar namentlich in seiner
Philosophie zoologique (1809), diejenige Theorie von dem Ursprung
und der stetigen Bildung der Arten aufgestellt und durchgeführt,
die 50 Jahre später von Darwin mit einigen theoretischen Zusätzen
und neuen Thatsachen ausgestattet und so seit 1859 immer mehr
zu einem allgemeinen Ferment geworden ist. Der sogenannte Dar-
winismus enthält über die Lamarckschen Aufstellungen hinaus nur
eia einziges, bei ihm markirter auftretendes und in alle Breite ver-
— 101 —
folgtes Entwicklungsprincip , nämlich das der Naturzüchtung ver-
mittelst des sogenannten Kampfes ums Dasein. Der Ursprung der
letzteren Vorstellung ist, wie es Darwin selbst eingestanden hat, in
einer Verallgemeinerung der Ansichten des nationalökonomischen
Bevölkerungstheoretikers Malthus zu suchen und demgemäss auch
mit allen Schäden behaftet, die den priesterlich Malthusianischen
Anschauungen über das Bevölkerungsgedränge eigen sind. Die Oeko-
nomie der Natur ist in dieser Richtung nicht weniger einseitig auf-
gefasst worden, als diejenige der Gesellschaft, und eö ist bereits ab-
zusehen, dass die zweideutigen oder verwerflichen Elemente des
Darwinismus ein ähnliches Schicksal haben werden, wie es den
Malthusianismus bereits betroffen hat. Was bleiben wird, werden
die Lamarckschen Ideen sein und vielleicht einige allgemeinere Vor-
stellungen über die Häufung der Unterschiede vermöge solcher ge-
schlechtlicher Combinationen und solcher Vererbungen, deren Voll-
ziehung keineswegs in erster Linie durch einen Kampf um das Da-
sein, sondern durch positive Gruppirungen und Triebe bestimmt zu
denken ist.
Innerhalb der ganzen Bewegung der Anschauungsweise, die im
Verlauf des 19. Jahrhunderts zur Bethätigung gelangt ist, zeichnet
sich als völlig berechtigtes Element die durchgreifende Vorstellung
von einer universellen Fortschrittsrichtung der Entwicklungen aus.
Der ursprüngliche Zustand wird möglichst einfach und ungegliedert
gedacht, so dass die Mannichfaltigkeit der Formen und Fähigkeiten
der Gebilde erst allmälig in immer höheren Steigerungen hervortritt.
Auch scheint das eigentliche Chaos als Ursprungsvorstellung in jeder
Richtung aufgegeben zu sein, und in der That kann sich nichts
entschiedener Unphilosophisches in die Systematik der Natur ein-
drängen, als die Idee einer wüsten, ungeordneten Durcheiuander-
mischung aller Elemente. Das Ei, aus welchem sich das Huhn durch
blos physikalische Wärme bilden kann, ist kein Chaos, sondern eine
derartige typische Vorbildung, dass ein blosses Wärmespiel ausreicht,
die zu der gegliederten Gestaltung eines empfindenden Wesens nö-
thigen Gruppirungen zu veranlassen. Auch der Zerstreuungszustand
der Materie kann kein eigenthches und regelloses Chaos, sondern
muss eine gesetzmässige Anordnung und Beziehung der Theilchen
gewesen sein, in welcher der Typus der ferneren Entwicklungen
bereits angelegt war. Das Gesetz und die Regel beherrscht Alles,
mögen wir in die äusserste Vergangenheit zurückgehen oder in die
— 102 —
fernste Zukunft hinausgreifen. Systematisch ist jede Existenzform
der Materie, und der einzige Unterschied besteht in dem Grade der
jeweiligen Entwicklung. Ein rationelles Chaos würde daher nicht
den Mangel der Gesetzmässigkeit und Ordnung, sondern nur die
Abwesenheit der Entw^icklung bedeuten können. Doch ist der Aus-
druck besser ganz zu vermeiden, da bei ihm nicht blos an den
Mangel einer bestimmten Art von Gruppirung, sondern überhaupt
an das Widerspiel aller regelrechten Anordnung gedacht zu werden
pflegt. In diesem letzteren Sinne giebt es nur für die willkürliche
und wüste Imagiaation ein Naturchaos, und weder die Ursprungs-
zustände des Universums, noch diejenigen der organischen oder em-
pfindenden Gebilde dürfen als ein Walten regelloser Kräfte vorgestellt
werden. Selbst wenn erst eine Reihe von Gebilden hervorgetrieben
wäre und hinterher an den Widerständen, die sich der Fortexistenz
ihrer Formen hinderUch zeigten, eine Vernichtung erfahren hätte,
so würde dieser Antagonismus selbst als eine gesetzliche Form des
Schaffens zu betrachten und als Bestandtheil der durchgängigen
Systematik der Natm* aufzufassen sein.
2. Der Fortschritt liegt in der Ausbildung einer reicheren
Mannichfaltigkeit und mithin in der Erhebung zu einer grösseren
Vollkommenheit. Mit' diesen Begriffen befinden wir uns aber bei
einem wichtigen Wendepunkt des naturphilosophischen Denkens. Es
ist nämlich völlig unmöglich, die Vollkommenheit und einen Maass-
stab derselben ohne den Gesichtspunkt der einem Zwecke entspre-
chenden Function vorzustellen. Solange wir gegen die Anordnung
der Theile eines Mechanismus bezügUch ihres Zusammenwirkens zu
seiner Verrichtung gleichgültig bleiben, verstehen wir denselben
nicht. Ausser der Art, wie jedes Glied der Causal kette in das
nächste eingreift, muss auch die ganze Beziehungsform der Ursachen
und die systematische Combination derselben zu einer Gesammt-
wirkung erkennbar werden. Dies ist aber nur möglich, wenn wir
unter den Causalitäten eine Unterordnung und Abhängigkeit an-
nehmen, wie sie in jedem, von Menschenhand verfertigten Mecha-
nismus ebenfalls statthat. Die Beziehung von Mittel und Zweck
setzt keineswegs eine bewusste Absicht voraus; denn eine solche
Absicht kann nur da vorhanden sein, wo eigentliche Vorstellungen
und verstandesmässige Ueberlegungen dazwischentreten. Wir präju-
diciren also über das Wesen der Dinge gar nichts, indem wir uns
nicht künstlich den Verzicht auf einen Begriff aufzwingen, ohne den
— 103 —
unser Verstand in seiner Tragweite gelähmt bleiben würde. Was
ein falsches Raisonnement aus Zwecken sei, und warum die strenge
WissenschaftHchkeit auf der Erkenntniss der wirkenden Causalität
und nicht auf der voreiligen Operation mit Finalitäten beruhe, haben
wir schon dargelegt. Wo aber der vollständige causale Zusammen-
hang in seinen einzehien Gliedern blosgelegt ist, bildet die Betrach-
tung von Mittel und Zweck eine nothwendige Ergänzung der Ein-
sicht, und es war ein falscher, gegen die Elemente des Verstandes
selbst gerichteter Skepfcicismus, wenn man in der vermeintlichen
Kritik der in der Natur wesentlichen Kategorien bis zur Forderung
der Ausmerzung des Zweckbegriffs gelangte.
Auch den Mangel einer bestimmten Ordnung, die erst mit der
Entwicklung hervortritt, können wir nicht anders kennzeichnen, als
indem wir ihn im Gegensatz zu einem Typus betrachten, der eine
höhere Art des Schematismus der Gebilde und einen gesteigerten
Grad von Vollkommenheit vertritt. Alles, was wir in dieser Hin-
sicht als Unordnung auffassen, ist nur eine niedere Stufe der Gesetz-
mässigkeit, bei welcher wir zugleich an die Abwesenheit eines hö-
heren formenden Princips denken. Nicht die Kräfte, sondern die
Kräfteformen machen den Unterschied der Gebilde aus, und in der
Bethätigung solcher Formen oder Schemata besteht die Entwicklung.
Dagegen ist es ein ganz anderer Begriff von Unordnung, wenn wir
innerhalb desselben Bereichs mit einer theilweisen Zusammenstim-
mung der Functionen auch die gegenseitige Störung derselben oder
das Verfehlen des erforderlichen Zusammenwirkens wahrnehmen.
Hier haben wir dann nicht den Mangel des Zwecks sondern die po-
sitive UnZweckmässigkeit vor uns, und derartige Abweichungen
dienen ganz besonders dazu, die Structur aus dem Gesichtspunkt
von Mittel und Zweck kenntlich zu machen.
Wenn wir von Niederem und Höherem reden, so kann dies für
die Entwicklungsstufen nur dann einen Sinn haben, wenn wir die
Functionen der Dinge nach ihren Leistungen für irgend einen Zweck
unterscheiden. Der Begriff des Fortschritts selbst würde alle Be-
deutung verlieren, wenn man nicht ein Maass hätte, die höheren
von den niederen Entwicklungsstufen zu unterscheiden. Auf einen
blossen Grössenbegriff, also etwa auf die Reichhaltigkeit der Gliede-
rung, kann man das Fortschreiten nicht beschränken wollen; denn
die Vielgestaltigkeit der Functionen würde an sich selbst nicht? be-
deuten, wenn nicht die in dieser Vielorestalfciofkeit ffieichsam herr-
— 104 —
sehende Gruppe von Hauptfimctionen an sich selbst einen höheren
Werth hätte.
Der Fortschritt in der Stufenfolge der Entwicklungen liegt in
der Richtung auf das Leben, und das Universum kann jebeni^^
darauf angelegt sein, schliesslich überall und in reichster Fülle die
Empfindung zu prodaciren. Die empfindenden Wesen müssen uns
als_Zweck jeder kosmischen Einrichtung gelten; denn eine durch-
gängig bewusstlose Welt wäre eine thörichte Halbheit und so zu
Sfigen eine Schaubühne ohne Spieler und Zuschauer. Die Reihe der
Causalitäten führt auf irgend eine Art zum Hervortreten empfinden-
der Gebilde, und die nähere Kenntniss dieser Art würde uns in den
Stand setzen, überall aus den kosmischen Bedingungen auch auf das
Dasein und die Beschaffenheit einer vitalen Ausstattung der Welt-
körper zu schliessen. Nun kennen wir aber aus der Erfahrung nur
eine einzige derartige Causalität und selbst diese nur als nackte
Thatsache und ohne die näheren Einschaltungen ihrer Kette. Wir
liennen die organische und die vitale Ausstattung unseres Planeten
und deren gegenwärtige Lebensbedingungen. Wir wissen ferner,
dass diese Ausstattung in einer gewissen Periode der planetarischen
Entwicklung noch nicht vorhanden war, und dass mithin Empfin-
dung und Bewusstsein einen von geologischen Vorgängen abhän-
gigen Anfang gehabt haben. Wir müssen ausserdem den allgemeinen
Gedanken fassen, dass es bestimmte Zustände der Materie mit einer
bestimmten Anordnung kosmisch physikalischer Kräfte sind, wodurch
den Organisationen und dem Leben nicht blos Gelegenheit gegeben,
sondern die Nothwendigkeit auferlegt wird, in gegHederten und be-
wussten Gebilden hervorzutreten. Die Entstehung des Lebens ist
mithin ein Act der wirkenden Causalität; wo in der Mechanik des
Universums die Bedingungen zur organischen Gliederung und zum
Empfindungsspiel gegeben sind, da brechen diese neuen Formen des
Daseins mit Nothwendigkeit hervor, und sie sind daher selbst nichts
als entlegene Glieder in der allgemeinen ursächlichen Determination.
Von der Mechanik in Druck und Stoss bis zur Verknüpfung der
Empfindungen und Gedanken reicht eine einheitliche und einzige
Stufenleiter von Einschaltungen, und wir können gewiss sein, dass
diese Bewerkstelligung des Uebergangs überall dasselbe in den we-
sentlichen Grundzügen übereinstimmende Schema reproduciren muss.
Wie die Grundstoffe überall dieselben sind, so werden es auch die
Grundformen oder, mit andern Worten, die typischen und gestalten-
— - 105 —
den Elemente sein, und die Mannichfaltigkeit der Variationen wird
durch die Gemeinsamkeit der zu Grunde liegenden Bildungs Verhält-
nisse keineswegs ausgeschlossen. Die sonst völlig neuen Entwick-
lungen können dennoch die alten Grundformen einschliessen , und
wie der Mensch die Animalität in ihren Hauptzügen enthält, so
können auch andere Wesen die wichtigsten Attribute des Mensch-
lichen an sich tragen, ohne deshalb mit ihren Functionen auf den
Rahmen der menschlichen Thätigkeit begrenzt zu sein. Das Denken
kann nach denselben Gesetzen erfolgen und dieselben Wahrheiten
liefern, aber dennoch vou grösserer Tragweite sein. Keine Einsicht
d^ niedern Stufe braucht im Widerspruch mit der weitertragenden
Wahrheit der höhern Stufe zu stehen , sowie eine Erweiterung des
Wissens und des Horizontes keine Enttäuschung über das bisherige 1
Vorstellen zu werden braucht. Die Triebe und Leidenschaften kön- [
nen von derselben Gattung und aus denselben Elementen zusammen-
gesetzt sein; sie können zu entsprechenden gesellschaftlichen Grup-
pirungen ihrer Träger fähren, ohne dass deswegen Alles wie bei uns
eingerichtet sein und das Spiel entwickelterer Formationen fehlen
müsste. Wir stehen mit unserer Erkenntniss innerhalb der Reihe
empirischer Causalität und verstehen uns demgemäss auf die Ele-
mente, aber nicht auf alle Combinationen , Steigerungen ucd Ent-
wicklungen des Daseins. Wir begreifen die Elemente alles Lebens
und Bewusstseins ; aber wir haben mit den Elementen noch keines-
wegs die Hauptsache, nämlich die Mannichfaltigkeiten des Lebens
erschöpft. Auf dem reicheren Schematismus der Elemente beruht
die Steigerung, und es würde thöricht sein, von den im Universum
möglichen Empfindungsgestaltungen mehr als die Elemente kennen
zu wollen. Der Reiz des Lebens beruht eben, auf dem umstände,
dass sich auf die bekannten Elemente eine unbekannte Combination
gründen könne.
3. Warum ist unser Schluss auf die Bevölkerung der andern ^* "**J
Planeten und auf die lebenden Wesen der sonstigen Körper des Uni- *^^'^"
versums, trotz seiner vollendeten Sicherheit im Allgemeinen, doch
so unbrauchbar für den einzelnen Fall? Weil wir wohl die Causa-
lität überhaupt, vermöge deren kosmische Voraussetzungen zur Ent-
stehung lebender Wesen führen, aber nicht die besondern Vorbedin-
gungen und Umstände kennen, unter denen ein solcher Vorgang gesetz-
mässig eintreten muss. Es ist nicht etwa ein Schluss aus dem Zweck,
der uns die Bewohntheit anderer Weltkörper im Allgemeinen und in
— 106 -
erster Linie verbürgte; es ist vielmehr das einfache Verhältniss von
Ursache und Wirkung, welches in der unbestimmten Art, in welcher
es uns aus der ursprünglichen Lebenserzeuguug anf unsenn Planeten
bekannt ist, auch nöthigt, überall sonst im Weltall an gleiche Vor-
bedingungen gleiche Ergebnisse zu knüpfen. Nun hindert uns aber
nichts anzunehmen, dass es auch im Kosmos so zu sagen Wüsten
d. h. unfruchtbare Materie geben könne, für welche sich die Bedin-
gungen der Lebenserzeugung nicht zusammengefunden haben. Hiezu
kommt noch, dass die für uns zwingende Analogie, von welcher wir
den Logos oder die Raison nur ganz im Allgemeinen kennen, keine
nähere Zeitbestimmung enthält. Der Zeitpunkt, in welchem nach
einer Dauer von physikalischen Vorspielen endlich das empfindende
Leben erregt und zu irgend einer Art von Bewusstsein gebracht
wird, ist in der Reihe der kosmischen Vorgänge nichts weniger als
gleichgültig. Kein bestimmteres Entwicklungsgesetz kann ohne die
Angabe eines Zeitquantum bleiben, und wir müssen daher nach den
Grundsätzen der Wahrscheinlichkeitsveranschlagung voraussetzen, dass
im Universum die verschiedensten Entwicklungsepochen gleichzeitig
vertreten sind. Ehe ein Weltkörper zu derjenigen Beschaffenheit
seiner Oberfläche gelangte, vermöge deren er fähig wurde, eine Bühne
der Organisation und des empfindenden Lebens zu sein, muss seine
ganze vorgängige Existenz einen rein physikalischen Charakter ge-
habt haben. Irgend einmal sind also die Lebensgebilde im Univer-
sum nirgend vertreten gewesen, und wir dürfen daher auch den
heutigen Zustand der Natur nur als einen gemischten ansehen.
Neben den bevölkerten Weltkörpern müssen wir auch solche voraus-
setzen, die es noch nicht sind; ja wir würden auch solche anzu-
nehmen haben, die es nichfc melir sind, wenn uns irgend ein ursäch-
liches Verhältniss, durch welches die Ausstattung mit lebenden Wesen
wieder aufhörte, als Thatsache bekannt wäre, oder wenn irgend ein
sicherer Schluss ein derartiges Ereigniss in die Entwickluugsreihe
aufzunehmen erlaubte. Letzteres ist aber nicht der Fall, wie wir
schon früher nachgewiesen haben.
,/Ef;i.^ti«.t Das Interessante an der vitalen Entwicklung ist der Umstand,
' dass nichts nachdrücklicher als grade sie die Wichtigkeit der abso-
" luten Zeitgrössen kennen lehrt. Wer sich scheut, für jede bestimmte
Natnrform einen Anfang zu setzen und ihm ^eine zeitlich bestimmte
Epoche in der Entwicklung des Systems der Dinge anzuweisen, wird
in die Noth wendigkeit, der er in andern Fällen ausweichen will.
— 107 —
grade bei dem bedeutungsvollsten Ereigniss versetzt, welches sich
überhaupt für denkende Wesen in der Welt vorfinden kann. Die
empfindende Animalität muss in irgend einem, mathematisch scharf
zu denkenden Zeitpunkt ins Dasein getreten sein. Dies gilt für un-
sern Planeten; es gilt aber auch in einem absoluten Sinne für das
Universum. Man kann nun fragen, warum dieses entscheidende
Ereigniss, innerhalb dessen Gattung unser ganzes Lebensinteresse
haftet und dem gegenüber wir keinen höhern Zweck zu denken ver-
mögen, nicht eine Decillion von Jahrtausenden früher eingetreten
sei und warum, dichterisch geredet, eme ganze Ewigkeit ohne diese
vitale Auszeichnung, ohne eigentliches Leben, ohne Empfindung,
ohne Bewusstsein, km-z ohne Interesse an sich selbst geblieben sei.
Der Reiz des Daseins ist hienach offenbar nicht blos überhaupt etwas
Zeitliches, sondern sogar ein Phänomen mit bestimmtem Anfang.
Die Subjectivität, die ohne Empfindung ein sinnleerer Begriff sein
würde, ist erst etwas zur objectiven Welt Hinzugekommenes, was,
im absoluten Sinne genommen, sein oder auch nichtsein kann und
zwar unbeschadet der Existenz der sonstigen Theile der Natur.
Wenn irgendwo, so werden wir bei diesem Punkte inne, welcher v"^*>-*^
Unterschied zwischen der allgemeinen, für jegliche Zeit gültigen Vlr*P*
Nothwendigkeit und denjenigen Gesetzen besteht, die sich nur auf ^' '^
eine bestimmte Zeitdauer und auf den Ort dieses Zeitquantums in
dem universellen Zeitinhalt beziehen lassen. Jedes bestimmtere Ent-
wicklungsgesetz, welches mehr als die Grundfonnen aller Entwick-
lung ausdrückt, muss eine Zeitgrösse und ausserdem die Angabe
einer Lage zwischen benachbarten oder entfernteren Ereignissen ent-
halten. Man wird mithin u'gend einen Zustand als Ausgangspunkt
bezeichnen und von ihm aus das Einzuschaltende abmessen. Man
wird jeder Veränderung einen Zeitpunkt ihres Eintretens und über-
dies der neuen Beschaffenheit irgend einen Bestand und irgend eine
Dauer anweisen, nach welcher wiederum eine neue Eigenschaft sicht-
bar geworden ist. Diese Abgrenzungen werden die eigentlichen Ent-
wicklungsstufen bezeichnen, und man wird solange von brauchbaren
Entwicklungsgesetzen äusserst fernbleiben, als es nicht gelingt, die
Nothwendigkeit des absoluten Zeitmaasses zu erkennen, nach welchem
sich Wechsel und Bestand regeln. Wie schlecht wäre man im Sonnen-
system und über dessen Verhältuiss zu den näheren Theilen des Kos-
mos unterrichtet, wenn man nicht die räumlichen Ausdehnungen
entweder genau messen oder in einigen Beziehungen wenigstens
— 108 —
ziemlich gut schätzen könnte! Ein gleiches Erforderniss gilt nun
für die zeitliche Orientirung, und man schmeichle sich nicht, ent-
scheidende Entwicklungsgesetze zu kennen, solange man über die
Abstände der grossen Epochen und das jedem Entwicklungshergang
zuzutheilende Zeitmaass in Ungewissheit bleibt. In der Entwicklung
des thierischen Individuums fehlt es uns für die verschiedenen Sta-
dien keineswegs an hinreichenden Bestimmungen der Dauer. Bei
dem Embryo sagen wir sogar mit einem hohen Grade von Sicher-
heit die Abfolge der Zustände und den Zeitpunkt seiner selbstän-
digen Loslösung voraus. Für die embryonischen Zustände der Gat-
tungsbilduug sind wir von der Genauigkeit solcher zeitlich bestimmter
Vorstellungen noch äusserst entfernt. Aber selbst wenn wir uns der
geschichtlichen Zeit nähern oder in dieselbe eintreten, lassen die zeit-
lichen Markirungen noch viel zu wünschen übrig. Wo haben wir
wohl in der Menschheitsgeschichte streng bestimmbare Entwicklungs-
maasse zu verzeichnen? Was bedeutet die Dauer einer Race oder,
mit andern Worten, in welchem Zeitpunkt lassen wir deren Eigen-
thümlichkeit hervortreten? Wie gross ist die Lebensdauer der Na-
tionen, sei es dass man den Anfangspunkt markirter Stammeigen-
thümlichkeiten oder den Schlusspunkt ihrer völligen Verwischung
kennen zu lernen wünscht? Hier zeigt es sich, dass uns nicht nur
die innem Nothwendigkeiten, welche den bestimmten Zeitverbrauch
mit sich bringen, sondern auch die äussern Thatsachen fiir die Länge
der Epochen meistens fehlen. Wo wir dagegen im Bereich der
eigentlich historischen Vorgänge, mögen sie nun die Natur oder das
Menschenschicksal betreffen, wirkliche Zeitmaasse zur gehörigen An-
wendung bringen können, müssen wir sofort fast regelmässig den
Mangel einer tiefem Einsicht in die innere Nothwendigkeit des be-
stimmten Zeitverbrauchs bemerken. Derartige Unzulänglichkeiten
bleiben also vorläufig eine störende Eigenschaft aller unserer Ent-
wicklungssysteme, und man darf daher auf die Specialitäten der
kurzweg so genannten Entwicklungstheorie keinen zu grossen Werth
legen.
4. Selbst wenn man, was nicht der Fall ist, die Welt in einer
leeren Zeit grade so wie im leeren Räume gleichsam verschoben
denken könnte, so würde diese Verschiebung an der realen Auf-
einanderfolge und Dauer der einzelnen Thatsachen nichts ändern.
Sieht man also von demjenigen Anfang ab, mit welchem alle Ent-
wicklung erst begonnen hat und aus dem Zustande der Sichselbst-
— 109 —
gjeichheit der Materie herausgetreten ist, so mag man die seitdem
abgelaufene Reihe in jeden beliebigen Ort der ideellen Zeitlinie ver-
legen, und man wird an der Wirklichkeit hiedurch nicht das Geringste
ändern. Worauf es also ankommt, ist die Bestimmung des Wirk-
lichen innerhalb Seinesgleichen und nicht die täuschende Beziehung
auf eine absolute, rein ideelle Zeit. In einer solchen Zeit wäre für
das Ganze jeder Ort völlig gleichgültig, und ein reales Früher oder
Später kann sich eben nm* auf die Theile des Entwicklungsganzen
beziehen. Mit der zeitlichen Entfernung verhält es sich daher ähn-
lich wie mit der räumlichen; sie hat nur zwischen Realitäten einen
Sinn und ist übrigens ein blosses Wiederholungsbild der abstracten
Phantasie. "^y^
An diese allgemeineren Verhältnisse mussten wir erinnern, ehe ""^ ""
wir uns demjenigen Problem zuwendeten, bei welchem die Charla-
tanerie mit ihren leichtfertigen Oberflächlichkeiten und mit ihren
so zu sagen wissenschaftlichen Mystificationen das breiteste Feld zu
behaupten pflegt. Die entlegenen Ursprungsperioden des pflanzlichen
und thierischen Daseins bieten einer naturphilosophischen Halbpoesie
viel Verlockendes, und sehr erhebliche Bestandtheile der Darwin-
schen Hypothesen tragen diese dichtelnden Züge deutHch genug an
der Stirn. Es gehört zu den Bizarrerien der Mode, solche Halb-
wüchsigkeiten einer beengten und sich selbst nicht klaren Imagina-
tion eine Zeit lang als eigentliche Wissenschaft in Umlauf zu setzen
und aus Laune hier das gelten zu lassen, was anderwärts als schlimmste
Abweichung von dem Wege exacter Forschung angesehen wird. Wenn
Lamarck gelegentlich die Vorstellung von einem einzigen Urthier als
dem einfachsten Typus aller Animalität gewagt hat, so wollte er
hiemit keineswegs die Abstammung von einem einzigen Individuum
zum Grundsatz erhoben wissen. Die sogenannte Descendenztheorie,
in der Darwinschen Gestalt, ist aber die Voraussetzung einer durch
Fortpflanzung vermittelten Verwandtschaft aller Wesen. Die Ent-
wicklung des Menschen aus dem AJffen, welche Darwin Anfangs
nicht so deutlich wie in seinen späteren Schriften hervortreten Hess,
ist nur ein besonderer Fall von markirterem Interesse und populärer
Verständlichkeit, übrigens aber nichts Ungeheuerliches, woran der
wissenschaftliche Sinn Anstoss nehmen könnte. Was dagegen in der
Descendenztheorie wirklich verletzt, ist der Mangel an Consequenz
in der Rechenschaft über die ursprünglichsten Voraussetzungen. So-
lange sich diese Theorie ein gutes Stück diesseits der Anfangspunkte
— 110 —
der auimalen Entwicklung hält, erregen selbst ihre Dichtungen den
Schein erfahrungsmässiger Wahrheit. Sobald sie aber an die ent-
legenen Grenzen gelangt, wird ihre logische Ohnmacht vollkommen
sichtbar. Wie viele Stammabzweigungen will sie eigentlich an-
nehmen? Soll sich das Thier aus der Pflanze entwickelt haben?
Wo findet man alsdann das Urwesen? Ist es vielleicht ein chemi-
scher Typus, von dem die Pflanze abstammt? Spielen die Krystalle
vielleicht in der allgemeinen Descendenz auch eine Rolle? Sind die
chemischen Grundstoffe vielleicht auch nur Abkömmlinge einer ein-
zigen individuellen Urmutter, und möchten die Darwinisten als dieses
letzte Urwesen nicht unsere sich selbst gleiche Materie gelten lassen?
Man sieht, dass der Stammbaum ziemlich weit reicht, wenn man
sich eine ernsthafte Consequenz zur Regel macht; aber die Genea-
logie des Engländers Darwin scheint trotz aller vermeintlichen Kühn-
heit doch ein wenig von der vulgären Ueberlieferung inficirt zu sein,
durch welche man den Kindern auch eine Abstammungstheorie für
das ganze Menschengeschlecht, nämlich diejenige von dem ersten
Juden im Paradiese beizubringen pflegt. Dieser Urjude, der so sehr
Alles in Allem war, dass er sogar schon sein Weib in sich trug, ist
von dem Uraffen der Darwinschen Desceudenztheorie nicht so überaus
verschieden, als man auf den ersten Blick anzunehmen versucht sein
könnte. Die glückliche Aeffin, aus deren Schooss sich das erste
Menschenkind entband, und der noch glücklichere Vater, welcher
hart auf der Grenze zwischen Affenthum und Menschenthum existirte
und die zweierlei Naturen in sich vereinigte, geben mindestens eine
ebensogute Volkshypothese ab, wie der Urjude, der in so vielen
wissenschaftlichen Theorien als Einer, der nicht leben und nicht
sterben kann, und als ewiger Spuk sein Wesen treibt. Wer in aller
Welt hat denn mit einem Male die sonst nur von der Superstition
oder von der hirnlosen Gemüthlichkeit einer vermeintlichen Philan-
thropie behauptete Tndividualeinheit des Menschengeschlechts so sicher
verbürgt, dass die Raisonnements Darwinscher Art diese Angelegen-
heit schon als selbstverständlich behandeln dürften? Es ist doch
wahrlich kein Axiom, dass Alles, was sich ähnlich ist oder einen
gemeinsamen Typus zeigt, auch individuell von einem einzigen Wesen
abstammen müsse. Um dies annehmen zu können, müsste man erst
nachweisen, dass die Natur keine andern Mittel kenne, die Ueber-
einstinuuung hervorzubringen, als den Weg der Fortpflanzung durch
Vervielfältigung der schematischen Eigenschaften eiues einzigen in-
— 111 —
dividuellen Körpers. Sicherlich ist im Universum noch irgendwo eine
Kugel vorhanden, auf welcher die lebenden Wesen den auf unserm
Planeten befindhchen nahezu gleich oder wenigstens äusserst ähnlich
sind. Ueberdies müssen wir annehmen, dass die Structur der Ani-
malität auf andern Weltkörpern den Elementen nach dieselbe ist,
wie bei uns. Welche Ungeheuerlichkeit von Vorstellung und welcher
Widersinn würde sich nun aber nicht ergeben, wenn man die kos-
mische Gleichartigkeit der Wesen zu einer für das Universum gül-
tigen Descendenztheorie erweitern wollte? Dennoch ist der Darwinsche
Schluss im engeren Gebiet kein anderer, als das, was für kosmische
Dimensionen eine Absurdität sein würde. Unvermerkt und still-
schweigend schiebt sich dem Engländer immer die Idee unter, dass
eine Uebereinstimmung in den Eigenschaften auf gar nichts Anderem
als auf einer Abstammungsgemeinschaft beruhen könne. Die selb-
ständige Nebenordnung gleichartiger Naturproductionen ohne Ab-
stammungsvermittlung ist für ihn gar nicht vorhanden, und er muss
daher mit seinen rückwärts gekehrten Anschauungen sofort am Ende
sein, wo ihm der Faden der Zeugung oder sonstigen Fortpflanzung
abreisst. Die Auffassung der gesammten Coordination aller Gattungen
und Arten des organischen Bereichs als so zu sagen der Brut eines
einzigen Wesens ist die G rundeigen schaft der Abstammungslehre.
Wenn man bei der Einschaltung einiger relativer Urwesen stehen
bleibt, so ist dies nur ein empirisches Haltmachen und ausserdem
ein Merkmal der Unsicherheit, welche der Theorie bei der Begegnung
mit der logischen Consequenz anhaftet. Darwin selbst nimmt be-
kanntlich an jenem äussersten Gestade, wo seine Imagination zu
stranden droht, echt Englisch seine Zuflucht zum Herrgott, von dem
er sonst in ehrerbietiger Feme verblieben ist. Die ersten Acte haben
den Macher der Welt zum Urheber; alsdann hat die Descendenz-
maschine gespielt, und es würde unenglisch sein, den hohen Herrn
weiter in die wissenschaftliche Debatte zu ziehen. Seine Majestät
wird vor lauter constitutioneller Ehrerbietung in der Discussion nicht
genannt; aber sie tliront nicht nur über den Köpfen des von der
Kaste der WissenschaftspoHtiker beschatteten Volks, sondern auch
über dem Abstammungstheoretiker selbst und seinen in natürlicher
Weise rechtgläubigen Genossen. Sonst nannte man eine solche Aus-
kunft Deismus und hielt nicht viel davon; jetzt aber scheint man
sich auch in dieser Beziehung rückwärts entwickelt zu haben und
über dem Darwincultus die metaphysisch beengte Denkweise des
— 112 —
zoologischen Götzen zu übersehen. Allerdings giebt es eine halb-
materialistische Richtung von sehr zweifelhaftem philosophischen
Werth, welche dem Darwinismus seine specifisch Englische Beschränkt-
heit und seine metaphysische Unzulänglichkeit abzustreifen sucht.
Sie führt den Krieg nicht nur gegen die religiöse Volkssage, son-
dern glaubt auch wirklich mit dem Darwinismus eine materialistische
Welt- und Lebensanschauung gewonnen zu haben. Allein sie irrt
sich hierin; denn in ihrem Kerne ist die Darwinsche Denkweise
nicht minder auf Reaction augelegt als der Malthusianismus. Hinter
ihr steckt sogar eine verhaltene Neigung zu mystischen Vorstellun-
gen, und der Umstand, dass jener Wallace, der seine Abhandlungen
mit allen wesentlichen Puukten der neuen Theorie noch vor Darwin
zur Journalpublication einsendete, ausgesprochener Spiritist im Ame-
rikanischen Sinne und Leugner der Materie nach Berkeleyscher Art
ist, sollte doch über den logischen Geist der ganzen Lehre bedenk-
lich machen. In der Englischen Gestalt ist alles Wahre, was La-
marck aufgestellt hat, in der That mit soviel IiTthum versetzt wor-
den, dass man sich allenfalls zum Lamarckianismus, aber nicht zum
Darwinismus bekennen kann.
5. Um allen Zweifelhaffcigkeiten zu entgehen, wollen wir die
haltbaren und unhaltbaren Vorstellungen, die jetzt unter der Flagge
des Darwinismus segeln, im Einzelnen hervorheben. Verwerflich ist
zunächst der Missbrauch, der mit dem imklaren Begriff der Meta-
morphose getrieben wird. Man sollte die Verwandlungen den Ge-
nossen Ovids überlassen und sich erinnern, dass da, wo der wissen-
schaftliche Begriff einer Umänderung platzgreifen soll, ausser der
Identität auch die Differenz festgestellt und in den einzelnen Ele-
menten nachgewiesen werden muss. Mag man es mit den sogenannten
Umwandlungen der mechanischen Kraftformen oder mit den Art-
abänderungen pflanzlicher und thierischer Gebilde zu thun haben,
so wird man sich in jedem Fall vor wüsten Metamorphosenconcep-
tionen wie vor einer wissenschaftlichen Pest hüten müssen. Die
Mährchendichtung gehört in die Kindheitsepoche der Völker, und wo
sie jetzt sogar in der Wissenschaft Gnade findet, ist dies ein Zeichen
der Greisenhaftigkeit, der manche Gebilde bereits anheimgefallen
sind. Es ist ein schlimmes Anzeichen, dass der unwissenschaftlichste
der neueren Dichter, nämlich der Autor der berüchtigten unphysi-
kalischen, aber dafür poetischen Farbenlehre, nicht blos an dem Be-
griff, sondern auch an dem technischen Ausdruck Metamorphose und
— 113 —
sogar an einem Stückchen Darwinismus unleugbaren Antheil hat.;
Trotz der Kleinigkeiten, die man als sogenannte Entdeckungen
hinterher in Goethes naturkundlichen Auslassungen hervorsuchte, ist
nie eine Natur und Phantasie so wenig auf eigenthche Wissenschaft
und so sehr auf das Widerspiel derselben angelegt gewesen, als die-
jenige des Erfinders der dramatischen Faustlyrik. Dieses Faustrecht,
welches die reinen Gattungen durcheinandermengt, so dass Fisch und
Fleisch wirklich zu einem chaotischen Urbrei vereinigt werden, sollte
wenigstens derjenigen Kunst, welche von der Natur in der Com-
position der Arten ausgeübt worden ist, nicht untergeschoben
werden.
Die Umwandlung hat nur da einen wissenschaftlichen Sinn, wo
wir, wie bei der Umgestaltung geometrischer Gebilde, das Bewegungs-
princip durchschauen und innerhalb der Einheit des Begriffs die
quantitative Entstehung der specifischen Differenz wahrnehmen. Im
Realen, wo wir die abändernde Bewegung nicht durch unsere eignen
Vorstellungen vollziehen, können wir nur dadurch zu deuthchen
Ideen vom Schaffen der Natur gelangen, dass wir intimer in die
Zusammensetzungsart der Elemente eindringen. Möglichst einfache
Bestandtheile sind hier das Ziel der Forschung, und wo wir die Um-
wandlung nicht durch eine Veränderung der Zusammensetzung be-
greifen, verstehen wir überhaupt gar nichts, sondern täuschen uns
nur durch den Schein einer Ableitung. Jede Entwicklung wird daher
auf dem Hervortreten neuer Elemente beruhen, und die niedern Ent-
wicklungsstufen werden nur begreiflich, insoweit sich ihre Elemente
in den höhern Formationen wiederfinden. Hätten wir nicht an uns
selbst und in uns selbst Gelegenheit, die Composition des vitalen
Körpers und des Empfindungsgebiets in der grössten Vollkommen-
heit zu studiren, so würde uns die zerstreute Mannichfaltigkeit nie-
derer Gebilde als befremdliche Zufälligkeit erscheinen müssen. So
aber haben wir mit der reichhaltigsten Composition auch die ein-
zelnen Bestandtheile zur Verfügung und können die isolirte Rolle
dieser elementaren Theilexistenzen auch innerlich einigermaassen über-
sehen. Umgekehrt werfen allerdings die elementaren Selbständig-
keiten auch wiederum ihr Licht auf die vollendetste Composition-
denn es ist etwas Anderes, die Bestandtheile in ihrem isolirten Ver-
halten, — und wiederum etwas Anderes, sie in einer beschränken-
den Zusammensetzung beobachten. Dennoch bleiben aber schliesslich
die Beschaffenheiten des Menschen der Schlüssel zum Verständniss
Dühring, Cursus der Philosophie. 8
— 114 —
der ganzen Animalität, und was die Thiergebilde selbst zum Ver-
ständniss der reichhaltigeren, menschlichen Composition beitragen,
kann nur ein Ergebniss zweiter Ordnung sein. Die nebelhaften Ver-
wandlungsideen sind daher mit klaren Compositionsvorstellungeu zu
vertauschen. Nicht ein Ursprung der Arten, sondern die Zusammen-
setzung der einfachsten Gattungselemente ist das rationelle Problem.
Wie sich die Chemie durch die Erkenntniss der Grundstoffe und
ihrer Rolle zur Wissenschaft erhoben hat, so kann auch die Zoologie
nur dadurch in einem höheren Grade rationell werden, dass sie so-
wohl in der äusserlichen Körperlichkeit, als in der Sphäre der Em-
pfindung die typischen Bestandtheile aufsucht, durch deren Anein-
anderreihung und Vereinigung die Entwicklungen vollzogen worden
sind. Nicht Metamorphose sondeni. Coniposition_ mu der
Leiteride Gesichtspunkt der auf den Hergang des Werdens gerichteten
Untersuchungen sein.
Man ist stolz darauf, die starren Schranken des Artbegriffs
durch die geschmeidigen Vorstellungen von den Uebergängen der
Gebilde ineinander ersetzt zu haben. So unschuldig nun die gene-
tischen Ansichten an sich selbst auch sein mögen, so vermischen sie
sich doch leicht mit der unhaltbaren Imagination, dass die Begriffe
als solche auseinander entspringen. Dieser dialektische Widersinn
hat sein Gegenstück in den Schöpfungsarabesken des Darwinismus;
denn auch der letztere producirt seine Verwandlungen und Differenzen
aus Nichts und befriedigt sich in einem Aneinanderschhngen der
organischen Wesen, ohne irgend eine stichhaltige Rechenschaft von
dem Princip zu geben, welches die Glieder der Kette zusammen-
halten soll. Sein innerliches Hauptargument ist die Entwicklung
des menschlichen Embryo, und die Compositionsphasen desselben
zeigen auch in der That Spuren verschiedener thierischer Forma-
tionen. Ein Analogon der Behaarung, welches wieder verschwindet,
soll hier auf das Affenstadium der menschlichen Existenz deuten.
Indessen folgt aus allen solchen Spuren nichts weiter, als dass die
verschiedenen Arten auf einer Composition einfacher animaler Ele-
mente beruhen, aber keineswegs dass diese Composition als Abstam-
mung zu denken sei. Die Vermittlung durch Abstanunung dürfte
im Gegentheil erst ein ganz secundärer Act der Natur sein, den wir
schon darum nicht rückwärts in das Schrankenlose ausdehnen kön-
nen, weil wir sonst eine unendliche Auzalil von Wiederholungen
erhalten. Lamarck dachte viel natürlicher als Darwin, indem er
— 115 —
eine Composition voraussetzte, die mit Zeugung und Abstam-
mung in dem uns geläufigen Sinne dieser Wörter nichts zu schaf-
fen hat.
6. Die von Lamarck hervorgehobene Abäuderhchkeit der Arten
ist eine annehmbare Voraussetzung, die sich sogar mit dem Ein-
treten eines relativ stationären Verhaltens vereinigen lässt. Die an-
nähernd stationäre Dauerbarkeit würde alsdann nur ein langsameres
Tempo der Entvp^icklung bedeuten und vielleicht den Uebergaug zu
einer allmäligen Rückbildung vorstellen. Das Schicksal einer Form
würde auf diese Weise nach dem Princip der stetigen Häufung von
schaffenden oder vernichtenden Veränderungen erfüllt. Mit Recht
hielt sich Lamarck an die Lebensbedingungen, wie sie durch die
umgebende Natm* dargeboten oder entzogen werden. Eine eigent-
liche Anpassung an solche Lebensbedingungen setzt Antriebe und
Thätigkeiten voraus, die sich nach Vorstellungen bestimmen. Andern-
falls ist die Anpassung nur ein Schein und die alsdann wirkende
Causalität erhebt sich nicht über die niedern Stufen des Physikali-
schen, Chemischen und pflanzHch Physiologischen. Wie thöricht
würde es nicht sein, bei dem Mittönen der Saiten von einer An-
passung zu reden, und dennoch misshandelt man innerhalb des Dar-
winismus in diesem Wort nicht nur den Geist der Sprache, sondern
auch das Recht auf unzweideutige Begriffsfassung. Wenn wirklicli
der lange Hals der Giraffe durch das Auslangen nach den Blättern
hoher Bäume allmälig entstanden sein sollte, wie Lamarck voraus-
setzt, so ist dies allerdings eine Anpassung an die Lebensbedingungen
zu nennen. Wenn aber eine Pflanze in ihrem Wachsthum den Weg
nimmt, auf welchem sie das meiste Licht erhält, so ist diese Wir-
kung des Reizes nichts als eine Combination physikalischer Kräfte
oder chemischer Agentien, und wenn man hier nicht metaphorisch
sondern eigentlich von einer Anpassung reden will, so muss dies in
die Begriffe eine spiritistische Verworrenheit bringen.
Ehe sich die Abänderungen durch geschlechthche Combination
häufen können, müssen sie überhaupt erst entstanden sein. Der
tiefere Grund der Beschaffenheit der Gebilde ist mithin in den Lebens-
bedingungen und kosmischen Verhältnissen zu suchen, während die
von Darwin betonte Naturzüchtung erst in zweiter Linie in Frage
kommen kann. Alle Züchtung beruht auf einer Composition gege-
bener Elemente; aber woher bieten sich diese Elemente dar? Offen-
bar ergeben sie sich durch Processe, die mit der geschlechtlichen
8*
— 116 —
Auswahl an sich selbst nichts zu schaffen haben. Wenn also Darwin
den langen Hals der Giraffe durch die Abfolge der Generationen
hindurch aus der Vergesellschaftung der jedesmal längsten Hälse ent-
stehen lässt, so erklärt er hiemit wohl einigermaassen die quanti-
tative Häufung des bereits Vorhandenen; aber das bewegende Princip
der Verlängerung selbst wird von ihm als Nebensache behandelt,
während doch Lamarck ein volles Recht hatte, es als die Haupt-
sache anzusehen. Die Darwinisten mögen durch geschlechtliche
Zuchtwahl die Hälse noch so weit ausrecken; sie werden hiedurch
die Ideen auf den Züchtungsprocess fixiren, aber die fixe Idee, die
echt Englisch an der geschlechtlichen Combination haftet, wird da-
durch nicht fähig, das eigentliche Bewegungsprincip zu ersetzen.
Sie verdeckt es eben nur in den künstlichen Zuchtgebilden ihrer
Anhänger, und wenn man sich auch die ganze Erde mit Darwinisten
bevölkert dächte, so würde doch der Typus der Logik und Wahrheit
durch die langen Hälse dieser Zuchtwahl nur in secundärer Weise
beeinträchtigt, aber keineswegs in seinem Bewegungsprincip berührt
sein. Dieser Typus würde sich trotz des einseitigen Ganges der
wissenschaftlichen Züchtung und Zucht wiederherstellen, indem die
Abirrungen von demselben der Ungunst der eignen Lebensbedin-
gungen, auf der andererseits die Fortpflanzung der entgegenstehen-
den Wahrheit beruht, schliesslich erliegen müssten. Das gestörte
Gleichgewicht der Gedanken würde sich trotz der beengtesten Fixi-
rung von Neuem ausgleichen, und man würde endgültig erkennen,
dass eine grosse Oberflächlichkeit darin liegt, den blossen Act ge-
schlechtlicher Composition von Eigenschaften zum Fundamental-
princip der Entstehung dieser Eigenschaften zu machen.
Hätte man im innem Schematismus der Zeugung irgend ein
Princip der selbständigen Veränderungen aufgesucht, so würde diese
Wendung ganz rationell gewesen sein; denn es ist ein natürlicher
Gedanke, das Princip der allgemeinen Genesis mit dem der geschlecht-
lichen Fortpflanzung zu einer Einheit zusammenzufassen, und die
sogenannte Urzeugung aus einem höhern Gesichtspunkt nicht als
absoluten Gegensatz der Reproductioü , sondern eben als eine Pro-
duction anzusehen. Die letztere könnte immerhin mit analogen
Zügen ausgestattet gedacht werden; denn endgültig muss man einer-
seits ursprüngliche Elemente und andererseits eine Compositionsart
derselben annehmen. Wenn nun diejenige Composition, die wir in
der gewöhnlichen Fortpflanzung erkennen, zugleich eine selbständige
— 117 —
Thätigkeit uud Entwicklung der Elemente zu den verschiedenen
Stufen des Lebens einschliesst, so ist das lebenschaffende Princip
heute nicht minder thätig als in seinen ursprünglichen Leistungen.
Man darf also in der geschlechtlichen Reproduction auch eine Neu-
production voraussetzen, deren Erfolge sich allmälig häufen und eine
Fortsetzung der ursprünglichen Gestalfcungshergänge vorstellen. Diese
Annahme wäre aber das grade Gegentheil des Darwinismus; denn
sie würde mit der ausschliesslichen Herrschaft der Ansicht in Con-
flict gerathen, dass die Natur einzig und allein wie ein Züchter ver-
fahre, der durch grundsätzliche Paarung bestimmter Abänderungs-
gebilde seine Ideale von Nützlichkeit ins Leben führt.
Die arme Natur muss aber nach den Gesetzen, die ihr Darwin
gegeben hat, sogar noch hinter dem phmipesten Züchter zurück-
bleiben; denn ihr einziges Mittel, durch welches sie die Auserwähl-
ten von den Verworfenen scheidet und die Combinationen regelt, ist
der Kampf um das Dasein. Die Natur ist echt Englisch ein Con-
currenzinstitut, in welchem die Ausrüstung mit grössern Capitalien
und Kriegsmitteln entscheidet. Es ist weniger die schaffende als die
vernichtende Kraft der Productionswerkzeuge, denen die Naturwesen
ihre Triumphe verdanken. Den Concurrenten aus dem Felde schlagen
und das eigne Leben auf die Vernichtung alles andern Daseins bauen,
sowie die eigne Brut ins Unbeschränkte über die Erde ausdehnen,
— in dieser Denkweise und Kunst möchten die Engländer bis jetzt
nur einen einzigen, mit ihnen vergleichbaren Concurrenten haben,
nämlich den ewigen und allgegenwärtigen Juden. Mögen sie sich
daher mit ihm vereinigen, um die Theorie vom Kampfe um das Da-
sein eine Zeit lang zu verherrhchen und um die Züchtung dieser
Theorie mit dem gehörigen Nachdruck zu betreiben. Es werden die
Untersuchungen, die sich von anderer Seite und in einer andern
Richtung an die Raceneigenschaften knüpfen müssen, schHessHch zu
einem Ausgang führen, der die Brutalität der ganzen Lieblingslehre
dahin kehren dürfte, wohin sie gehört. Unseres Erachtens ist der
specifische Darwinismus, wovon natürlich die Lamarckschen Auf-
stellungen auszunehmen sind, ein Stück gegen die Humanität ge-
kehrte Brutalität. Dieser Vorwurf kann nun freiHch nicht über-
raschen, wenn man bedenkt, wie nahe es für einen Zoologen, der
zugleich Affectionen für einen Malthus hat, liegen muss, im Gebiete
der Bestien die Gesetze und das Verständniss aller Naturaction zu
suchen. Die wissenschaftliche Dürre dieser Sphäre, die sich vor La-
7 n<tf*f/t;
— 118 —
marck fast mit blossen Classificationen behelfen musste, konnte eben-
falls dazu verleiten, die wenigen genetischen Aufschlüsse, die ge-
wonnen waren, zu überschätzen und vermittelst der halb poetischen,
halb brutalen Kampftheorie eine anregende Ausschmückung vor-
nehmen zu wollen.
7. Die unwissenschaftliche Halbpoesie, in welcher der Kampf
um das Dasein von Darwin auch auf die passive und bewusstlose
Pflanze sowie auf die unwillkürlichen und völlig unabsichtlichen Acte
der animalischen Wesen übertragen wurde, musste die echten Grenzen
jenes Begriffs fälschen. Man mag in solchen Fällen von einem
Mangel der Existenzbedingungen und von mechanischen Wirkungen
der Umstände reden ; aber man muss sich hüten, aus einer Metapher
oder Allegorie eine eigentliche Wahrheit von exactem Sinn machen
zu wollen. Solche übel angebrachte poetische Redeweise kann nur
dazu dieuen, die Begriffe zu verdunkeln und den Schein einer theo-
retischen Einheit zu erregen, die in der That nicht vorhanden ist.
Ein wirklicher Kampf um das Dasein setzt bewusste Triebe voraus,
in denen sich die Wesen nicht nur feindlich begegnen, sondern auch
wissentlich darauf ausgehen, das eigne Leben auf die Vernichtung
oder Hinderung des andern zu gründen. In diesem genau bestimm-
ten Siuue ist nun der Kampf um das Dasein innerhalb der Bestia-
lität insoweit vertreten, als die Emähruug durch Raub und Ver-
nichtung erfolgt. Bekanntlich würde aber auch hier die Auslegung
der Raubgier durch die Anforderungen des Kampfes um das Dasein
sehr unzulänglich bleiben ; denn eigentlicher Blutdurst und Mordgier
sind zwei verschiedene Dinge. Der Kitzel, der durch das sonst zweck-
lose massenhafte Morden bei manchen Raubthieren befi'iedigt zu wer-
den scheint, hat mit den Existenzbedingungen nichts zu schaffen,
sondern ist im Gegentheil dazu geeignet, den künftigen Vorrath zu
beeinträchtigen. Was aber die Concurrenz zwischen gleichartigen
Wesen betrifft, so strebt ein jedes nach Selbsterhaltung, und wenn
es sich hiebei nicht um das andere kümmert und unter Umständen
mit demselben in Conflict geräth, so bleibt dieser Hergang doch
ohne jenes raffinirte Bewusstsein, welches uns ein ähnliches Verhält-
niss bei dem höher entwickelten Menschen so verworfen erscheinen
lässt. Solange nur die Naturroechanik unmittelbarer Triebe und
Leidenschaften im Spiele ist, können die Conflicte, die sich aus den
Umständen ergeben, nie so widerwärtig werden, als wenn sie von
dem Bewusstsein oder sogar von der berechnenden Ueberlegung be-
.;,..r ^trf^Jt-^ Cw^M-^i^.
— 119 —
gleitet werden, dass es sich um eine Vermehrung des eignen auf
Kosten des fremden Daseins handle.
Mit einer Art Heiligenschein sucht sich die Darwinsche Kampf-
theorie dadurch zu umgeben, dass sie in einem sehr wesentlichen
Punkte vom Malthusianismus abweicht. Während der letztere in
dem Gedränge der Bevölkerung nur eine Ursache des Uebels sieht
und in der Zukunft nur die immer grössere Häufung der gesellschaft-
lichen Missverhältnisse, also das Wachsen von Armuth, Elend und
Verunstaltung voraussetzt, hat Darwin bekanntlich seine Fortschritts-
und Vervollkommnungstheorie grade auf den Kampf um das Dasein
gebaut. Wer am besten für diesen Kampf ausgestattet ist, wird den
minder gut Gerüsteten aus dem Leben ausmerzen. Die Erzwingung
der geschlechtlichen Combinationen spielt auch hier eine Hauptrolle ;
nur dass sie unter dem Einfluss der Englischen Prüderie mit etwas
obligater Verschämtheit eingeführt wird. Der Kampf der Gorillas
um den Besitz ihrer Weibchen mag allerdings von einem modern
ritterlichen Duell nicht so überaus verschieden sein, wenigstens was
die Hauptsache betrifft. Im Gegentheil möchte die Bestiahtät der
naturwüchsigen Form manche Vorzüge haben; denn einerseits fällt
dort die Verschrobenheit eines verzerrten Duellcomments fort, und
andererseits dürften die Gorillaweibchen nicht ganz so passive Exi-
stenzen sein, wie die herrlichen Culturentwicklungen der Mustertypen
der weiblichen Sklaven der Species Mensch. Indessen erinnert doch
grade das Gorillabeispiel daran , dass die unschönen langen Arme
nait ihrer gewaltigen Muskelaction und wuchtigen Hämmerkraft in
solchen Fällen den Fortschritt repräsentiren und an der Spitze der
Civilisation die Vorhut bilden. Die durch Züchtung vermittelte
Cultur wird daher den gröbsten Eigenschaften unter Umständen am
günstigsten sein, und wenn auch immerhin das Gehirn eine Waffe
ist, durch welche alle andern Kriegsmittel verstärkt werden, so
möchten doch plumpe Kraft, raffinirte List und ausgeprägte Bosheit
die überwiegenden Chancen haben, sobald es sich um Feindseligkeiten
als Grundform der Existenzvermittlung handeln soll. Nun läuft auch
in der That die gewaltsame Züchtung, insoweit sie in dieser Rich-
tung wirkhch Einfluss hat, auf die Vererbung und Steigerung der-
jenigen Eigenschaften hinaus, die mit dem Faustrecht und seiner
dienstbaren Ergänzung, dem Spiel der Hinterlist, am besten zu-
sammenstimmen. Je mehr irgendwo das feindliche Verhalten und
der eigentliche Krieg zur vorherrschenden Grundgestalt der Bezie-
— 120 —
hungen werden und die positiven Antriebe zur Cultur und Entwick-
lung verdrängen, wachsen auch die Chancen derjenigen Brut, in
welcher sich die gehässigen und verworfenen Eigenschaften der Spe-
cies Mensch concentriren. Ja es wii'd eine solche Brut mit ausge-
prägten Eigenschaften erst recht eigentUch gezüchtet, so dass man
behaupten darf, es seien die schlimmen Elemente auf Kosten der
bessern durch solche Verhältnisse zum überwuchernden Dasein ge-
langt. Was gelten Schönheit und edle Gestaltung vor jenem Me-
chanismus der Geschichte, durch welchen das vollendetste Ebenmaass
zerschmettert und kaum eine lückenhafte Erinnerung daran übrig
gelassen wird? Die vorzüglichsten Gebilde sind nicht blos in der
äussersten Minderheit, sondern können oft sogar als Einzigkeiten
betrachtet werden, die von dem breiten Strome roher und gemeiner
Elemente überfluthet und für immer ertränkt werden. Die gelun-
gensten Kunstwerke der Natur, die vollendetsten Muster des edelsten
Menschentypus, die herrlichsten Verkörperungen geistiger Hannonie,
— dies Alles, was so selten producirt wird, fallt so oft der gemein-
sten Zerquetschung des Daseins anheim. Wo der Kampf vorherrscht,
da entscheiden natürlich die Kriegsmittel, aber nicht diejenigen Eigen-
schaften, welche unmittelbar der positiven Lebensbethätigung und
der Hervorbringung edler Formen günstig sind. Falls man nicht
etwa die Unverachämtheit besitzt, zu behaupten, dass die fär den
Zustand der Feindschaft und der gegenseitigen Vernichtung am besten
dienstbaren Eigenschaften dieselben seien, aus denen sich das positive
Ideal der Gattung zusammensetzt, so wird man wohl auch auf jeden
sophistischen Schein zu Gunsten der besondern Darwinschen Art von
Naturzüchtung verzichten müssen.
Um jedoch jede erdenkbare Zuflucht, an die sich die Einseitig-
keiten der Kampftheorie klammem möchten, im Voraus abzuschnei-
den, mag hier eine Ueberlsgung Platz finden, auf die man im Be-
reich des ganzen Darwinismus wohl noch nicht gekommen sein
dürfte. Es könnte nämlich scheinen, dass in der Brutalisirung der
Zustände durch die erzwungenen geschlechtlichen Combiuationen
wenigstens die weibliche Schönheit in ihrer Passivität einige Chancen
guter Züchtung habe. Die Geschlechtsreize kommen unter den frag-
lichen Voraussetzungen nur einseitig in das Spiel. Wenn Völker
oder Einzelne, wenn also die nationalen Raubzüge oder Privatmacht
und Privatlist über die Aneignung von Futter für den Geschlechts-
hunger der männlichen Kämpfer ums Dasein entscheiden, so fällt
— 121 —
die weibliche Hälfte der Species dem andern Theil gleichsam wie
eine Beute zu, und es ist offenbar, dass sich die geschlechtliche
Zuchtwahl in diesem Fall fast ausschliesslich nach den Affectionen
der Männer richten wird. Man könnte nun hieraus folgern wollen,
dass sich hiedurch unter dem weiblichen Geschlecht eine Auswahl
und Aussonderung von grosser Tragweite vollziehen müsste. Man
könnte annehmen, dass wenigstens in dieser Richtung die Schönheit,
ja vielleicht überhaupt das Bessere eine Chance der bevorzugten Con-
servirung hätte. Indessen würde diese einseitige Auswahl, selbst
wenn sie, was nicht der Fall sein kann, in jeder Beziehung das
Richtige träfe, dennoch nicht viel helfen, da die in dem weiblichen
Theil veredelte Race immer wieder durch die im entgegengesetzten
Sinne entwickelten und principiell übel gerathenden Männcheugebilde
verdorben werden würde. Man wende nicht ein, dass dem weib-
lichen Geschlecht auf den hohem Culturstufen auch einige indirecte
Activität zufalle. Dieser Umstand kann unter den vorausgesetzten
Verhältnissen eines vorherrschenden Beraubungskampfes nichts helfen;
denn eine Wahl ist überflüssig, wo die maassgebende Zucht an Män-
nern, die mit allen Vortheilen des Lebens ausgestattet ist, durch-
gängig eine Verkörperung der roheren Bestandtheile der mensch-
lichen Natur und etwas Raubthierartiges geworden ist.
8. Nach Lamarck ist die Art eine Häufung von Variationen;
nach Darwin beruht die ausgeprägte Differenz ihrer Form auf einer
Ausmerzung der Zwischengebilde, welche früher die Stetigkeit der
allseitigen Veränderlichkeit bekundeten. So soll der Abstand zwi-
schen Nationalitäten dadurch grösser werden, dass gewisse Ueber-
gangsgebilde dem Kampf um das Dasein erliegen, oder dass die
zurückgebliebenen Zwischengebilde nur als Winkelvölker mit kleiner
Bevölkerung und kleinem Gebiet von Gnaden der Eifersucht ihrer
grossen Nachbarn eine Zeit lang ein geduldetes Dasein führen. Da,
wo der Kampfzustand die Vorbedingung des Lebens ist, könnte
jener Schluss insoweit richtig sein, als nicht die Verschmelzungen
und gegenseitigen Ausgleichungen der Eigenschaften in Frage kom-
men. Man hat auch die Entstehung und die Schicksale der Sprachen
Darwinistisch behandeln wollen ; aber grade hier zeigt sich am besten,
wie die ursprünglichen Differenzen und bis zur individuellen Verein-
zelung ausgreifenden Mannichfaltigkeiten eines früheren Stadiums
hinterher durch allgemeinere Formen ersetzt werden und so eine
consolidirende Ausgleichung erfahren. Sicherlich hat man ein Recht,
\u£i
bei der Sprache das Allmäligkeitsprincip anzuwenden und sie aus
einem Anfangszustande abzuleiten, der auf die Kundgebungen von
thierischen Lauten beschränkt war. Uebrigens dürfte aber kein Ge-
biet geeigneter sein, die Wichtigkeit der positiven Verkehi*sgemein-
schaft und der die Gesellschaft sympathisch verbindenden Antriebe
darzulegen, als das der Sprachbildung. Auch die Lehre von der
Vererbung der Fähigkeiten und der sogenannten Instincte dürfte sich
hier am leichtesten in ihre natürlichen Schranken weisen lassen.
Mit Recht spielt die Erblichkeit der Anlagen in jeder ernst-
hafteren Theorie der Fortpflanzung im Allgemeinen eine grosse Rolle ;
aber die Einzelheiten, auf deren Kenntniss es am meisten ankäme,
sind bis jetzt noch in einem dichten Dunkel verblieben. Nicht ein-
mal ein specielles Princip ist in dieser Richtung bis jetzt ausgemacht
worden. Obwohl es keinem Zweifel unterworfen ist, dass die körper-
lichen Beschaffenheiten und geistigen Eigenschaften, soweit sie durch
die blosse Structur der Organe bei der Geburt gegeben sein können,
wirklich vererbbar sind, so bleibt doch die Noth wendigkeit des wirk-
lichen Eintritts der speciellen Vorbedingungen einer solchen Ver-
erbung eine offene Frage. Weit interessanter, als die positive Ueber-
tragung, ist die Zerstörung oder wenigstens der Ausfall vieler Eigen-
schaften in der geschlechtlichen Fortsetzung der Individuen. Da die
Manier, in welcher Darwin mit der Vererbung operirt, fast ausschliesslich
der Anschauungsweise der Züchter abgeborgt ist, und da diese letz-
teren natürlich vorzugsweise die positiven Ergebnisse im Auge be-
halten müssen, so haben die negativen Wirkungen der geschlecht-
lichen Combination selbstverständlich keine Berücksichtigung erfahren.
Jedoch wird man nicht eher einen tiefern Blick in das Wesen der
geschlechtlichen Entwicklung thun, als bis man dem, was in der
Combination unterdrückt wird, die gleiche Aufmerksamkeit widmet,
wie dem, was sich an Aehnlichkeiten reproducirt. Die Vielgestaltig-
keit der zahlreichen Saamenelemente, der andererseits wiederum eine
Mannichfaltigkeit der Eibildungen entspricht, ist von weit grösserer
Bedeutung, als eine völlige üebereinstimmung sein könnte. Wer
streng davon ausginge, dass die Fortpflanzung immer das Gleiche
reproducirte , würde auf das Veränderungselemeut und mithin auf
eigentliche Entwicklung verzichten müssen. Eine verschiedene
Mischung vermöge der Doppelheit der Individuen würde die einzige,
alsdann übrig bleibende Variation st;in. Nun ist aber mit der grössten
Wahrscheinlichkeit, im wissenschaftlichen Sinne dieses Worts, an-
^V^^M*-,.- /V.v^-Vtf. . _ 123 —
zunehmen, dass schon die elementaren Gebilde, in denen das künftige
Wesen präformirt ist, bei jedem Individuum in sehr verschiedenen
Schematismen auftreten und innerhalb einer schwer bestimmbaren,
aber doch weit gezogenen Grenze eine Welt von Individualtypen
enthalten. Das höhere Problem bestände also für das Verständniss
der Fortpflanzung darin, nicht die Identitäten, sondern die Diffe-
renzen und zwar unabhängig von dem Antheil der blossen Mischung
zu erklären. Wenn jemals das eigentlich Schöpferische in der Ent-
wicklung begriffen werden soll, so muss ausser der Fixirung, welche
die erworbenen Eigenschaften in Vererbungsanlagen erfahren, auch
jener entlegenere Hergang aufgedeckt werden, vermöge dessen ein
inneres und selbständiges Princip der Veränderung die gleichzeitige
Mannichfaltigl?:eit der in demselben Individuum gegebenen Elementar-
gebilde der Zeugung oder Fruchtbarkeit hervorzubringen vermag.
Allem Ansehein nach ist die Verschiedenheit der Composition inner-
halb desselben individuellen Organismus bereits ein Grund für diffe-
rente Saamenbildung; denn wenn die einzelnen Bestandstücke in
selbständiger Weise ihre Antheile zu der Saamen- oder Eibildung
liefern, so muss ein bedeutender Spielraum in der Art der Zusammen-
setzung entstehen. Auch wäre es durchaus keine wissenschaftliche
Ungeheuerlichkeit, hiebei an einen ähnlichen Vorgang zu denken,
wie er ursprünglich dem Werden der verschiedenen Generationen zu
Grunde gelegen haben muss. Warum sollte der Saame nicht eine
so zu sagen historische Seite haben und in der Mannichfaltigkeit
seiner Elemente eine Menge von Formen darstellen, die mit der Ver-
gangenheit und der allmäligen Productionsart des jetzt vorhandenen
Individuum in Beziehung stehen. Selbstverständlich müsste jedes
Saamenelement für sich das besondere Schema eines künftigen Wesens
darstellen; aber die Variationen solcher Schemata würden in der
Vielheit solcher Elemente zu suchen sein.
Nun liegt freihch das Verständniss für eine erbliche Fixirung
der im Laufe der Entwicklung erworbenen Eigenschaften weit näher,
als irgend welche Voraussetzung über das innere Princip der diffe-
renten Chancen, die bei dem Einzeluen vor aller geschlechtlichen
Combination für die Möglichkeit einer mannichfaltigen Ausprägung
von Individualcharakteren vorgebildet werden. Aus diesem Grunde
hat sich der Darwinismus jener offenliegenden Fixirungen bemächtigt,
um die sogenannten Instincte in eine historische Composition all-
mälig erworbener Eigenschaften aufzulösen. Wäre er hierin voll-
."^Kri^Jfl., . 1. 124 —
kommen consequent gewesen, so würde er überhaupt die dunkeln
Vorstellungen von räthselhaften Natuiinstincten über Bord geworfen
haben. Statt dessen hat eben Darwin mit den Instincten so operirt,
als wenn es ausser den bekannten Trieben, die wir in ihre Elemente
zerlegen und stets in irgend einem Analogon an ims selbst auch
subjectiv studiren können, noch eine zweite, dunkle Gattung von
Anregungen der Thätigkeit geben müsste. Er hat die alte Ueber-
lieferuug von Instincten überhaupt beibehalten und sich darauf be-
schränkt, sie zum Theil als etwas Gewordenes anzusehen. Daneben
ist aber der alte Zwitterbegriff von einer Fähigkeit, die weder Ver-
stand noch Trieb und auch kein Zusammenwirken von beiden, son-
dern eine eigenartige, halb mystisch gedachte Function sein soll,
ruhig stehen geblieben, und dieses Misch- und Missgebilde einer
voreiligen, eben nur die Unwissenheit verkörpernden Imagination
zeugt noch mehr, als die gröberen Beengtheiten der fraglichen Denk-
weise, von dem Mangel einer tieferen, echt philosophischen Durch-
dringung der subjectiven Gesetze der Naturaction. Man könnte das
Wort Instinct mit der zugehörigen täuschenden Vorstellung getrost
aus der gesammten Wissenschaft streichen und überall da, wo man
sonst von Instincten redet, die ganz gewöhnliche Triebform mit eben
so gewöhnlichem Verstände voraussetzen, ohne irgend etwas für die
wirkhche Einsicht einzubüssen. Im Gegentheil würde man, wenn
man z. B. die sogenannten Kunsttriebe der Thiere auf einfache Ver-
standesoperationen nach Analogie der unsrigen zurückführte und
hiebei als Gnmdlage nur solche Triebe wirken Hesse, die auch uns
subjectiv aus unserm eignen Innern als blosse Triebe verständlich
sind, radical und im eigentlichen Sinne des Worts bis an die Wurzel
mit den instinctiven Nebelhaftigkeiten aufräumen.
9. Wir haben in dem Bisherigen die Schwächen biosgelegt,
welche dem specifischen Darwinismus im Unterschiede von den bes-
sern Elementen der neusten Denkweise, nämlich im Gegensatz zu
den annehmbaren Lamarckschen Vorstellungen anhaften. Es hat sich
hiebei gezeigt, dass eine durch den Kampf um das Dasein vermittelte
Züchtung die einzige Eigenthümlichkeit ist, durch welche sich die
breiten, unbehülfUchen und bis zur Langen weile ermüdenden Aus-
fiihnmgen der Darwinschen Schriften principiell von den Lamarck-
schen Grundlagen unterscheiden. Es steht ferner fest, dass diese
Eigenthümlichkeit in ihrer einen Hälfte, nämlich in Rücksicht auf
den Kampf um das Dasein, nichts als eine Verallgemeinerung der
— 125 —
falschen Malthusschen Theorie von dem Gedränge der Bevölkerung
nnd von der Ausgleichung der schwierigen Yerhältnisse durch gegen-
seitige Vernichtung ist. In der andern Hälfte, nämlich insofern es
sich um die Häufung und Steigerung von Eigenschaften durch Ver-
erbung handelt, ist die Weisheit des Züchters die einzige Mitgift,
deren sich der Engländer Darwin in hohem Grade rühmen kann.
So wäre denn der ganze Kreis von Ansichten, der in der gegen-
wärtigen Modesaison des animalischen Wissens von Thier und Mensch
ein so breites Gebiet in Anspruch nimmt, in unterscheidbare Theile
von sehr abweichendem Werth zerlegt, und es könnte hiedurch be-
sonders denjenigen Mystificationen ein wenig gesteuert werden, die
durch die Vermischung des Wahren mit dem Falschen ihren ver-
führerischen Reiz entwickeln. Indessen wird man wohl auf die Ueber-
sättigung mit der Darwinistischen Manier warten müssen, ehe der
übrigens unausweichliche Rückschlag eintritt. Vorläufig zieht der
specifische Darwinismus seine Glorie aus einer Gattung von Angrei-
fem, die unmittelbar oder mittelbar auf priesterlichen oder überhaupt
religiösen Voraussetzungen fusst und die Abstammung des Menschen
vom Affen mit ihren jüdischen Mythen nicht zusammenreimen will.
Diese Verfechter der religiösen Fabeln finden es grausam, dass der
nach dem Ebenbilde ihres Gottes geschaffene Mensch ursprünglich
auf einer seiner Entwicklungsstufen Affe gewesen sein und in dieser
Gestalt von dem Wesen seines Urbildes Zeugniss gegeben haben soll.
Doch mögen sie sich beruhigen. Diese Affenstammväter des mensch-
lichen Geschlechts waren, wenn sie jemals in dieser Eigenschaft exi-
stirt haben, doch jedenfalls in der Entwicklung ihrer tieferen und
idealeren, auf die Zukunft angelegten Affennatur damals noch nicht
soweit vorgeschritten, um einen Gott nach ihrem Ebenbilde imagi-
niren zu können. Als ein späteres Entwicklungsstadium ihnen zu
Götterphantasien verhalf, waren sie eben nicht mehr Affen im eigent-
lichen Sinne des Worts, sondern schon höchst liebenswürdiges
Mensehenvieh, welches grade soviel Bewusstsein hatte, um sich für
gut genug zu halten, sein eignes herrUches Musterbild in grösserem
Maassstabe zu copiren.
Ein besonderer Unfug ist mit dem Wort Entwicklung dadurch
getrieben worden, dass man geglaubt hat, unter der Maske dieses
Ausdrucks theils die Unwissenheit verhüllen, theils die abgelebten
und superstitiosen Nebelhaftigkeiten halbtheologischer Begriffe und
zugehöriger Dogmen einer dienstbaren Metaphysik wieder einschwärzen
— 126 —
zu können. Auch in dieser Richtung haben sich besonders Eng-
länder hervorgethan; aber es ist hier nicht der Ort, sich mit Namen
zu befassen, die höchstens in einer Geschichte der Philosophie und
für eine Kennzeichnung des gegenwärtigen Zustandes der Missphilo-
sophie eine den Abweg signalisirende Erwähnung finden können.
Wir lassen daher die psychologischen Accompagnements und die
sonstige Darwinismusspielerei, wie sie unter Leuten von der Art des
Herrn Herbert Spencer auch philosophastrisch grassirt, vollständig auf
sich beruhen. Wir bemerken nur ganz im Allgemeinen und zwar
weit mehr im Hinblick auf die möglichen Wendungen der Zukunft,
als auf die Niaiserien der Gegenwart, dass man sehr vorsichtig ver-
fahren muss, wenn man nicht mit dem Jahrhunderte alten Entwick-
lungsbegriff, den die moderne Naturwissenschaft und besonders die
Physiologie zum markirten Bewusstsein gebracht hat, durch Ent-
fremdung von der Erfahrung in ganz gemeine Emanationsvorstel-
lungen gerathen will.
Im rationellen Sinne ist der Begriff der Entwicklung nur soweit
gültig, als sich Entwicklungsgesetze wirklich nachweisen lassen,
üebrigens bleibt er für Vergangenheit und Zukunft eine pure Ima-
gination, die nur insoweit Recht behalten kann, als in ihr ein un-
ausweichliches Denkschema enthalten ist. Die Entwicklung umfasst
nun da, wo wir sie erfahruugsmässig kennen, nicht blos die Gestal-
tung, sondern auch die Auflösung der Gebilde. Diejenige Weisheit,
welche auf besonders tiefe Einsichten über Ursprung und Entstehung
der Arten pocht, sollte, wenn sie überhaupt philosophischen Sinn
hätte, doch auch consequent genug sein, die Welt mit den zuge-
hörigen Auflösungsperspectiven zu erfreuen. Der universelle Unter-
gang der Arten wäre ein reizendes Ziel für diejenigen, denen die
theilweise Ausmerzung und eine Zerstörung, die blos zum grossem
Ruhm der überlebenden Vollkommenheiten vor sich geht, nicht Ge-
nüge thut. Indessen hier gehen die Wege der imaginativen Wissen-
schaft auseinander. Die Glorie der Vollkommenheit muss gewahrt
werden, damit die Vollkommenheit der Glorie fortbestehe. Obwohl
die Entwicklung in dieser Art von zoologischer Wissenschaft fast
nur ein Anschauungsbild ist, bei welchem wenig gedacht wird, so
bleiben doch die specifischen Liebhaber dieser Intuition nicht bei der
einfachen Reihe der Vorgänge stehen. Sie richteu sich nicht nach
der universellen Gesetzmässigkeit mit der Doppelthätigkeit des Schaf-
fenden und des Zerstörenden im Antagonismus, sondern beruhigen
-^ 127 —
ihre Jünger mit dem nächsten Stadium des in Aussieht stehenden posi-
tiven Fortschritts. Da die in dieser Nebelhaftigkeit concipirte Entwick-
hmg für die Phantasie einen grossen Spieh'aum verstattet, so können
sogar die mystischen Conceptionen hier eine letzte Zuflucht finden.
Wir fragen nun, ob es nicht besser wäre, lieber alle Dunkel-
heiten, die der gewöhnliche Begriff einer Entwicklung mit sich
bringt, dadurch zu beseitigen, dass man diesen Begriff insow-eit auf-
giebt, als er sich nicht durch denjenigen der Composition von Ele-
menten decken lässt. Die gemeine Schöpfungsvorstellung war stets
etwas Unwissenschaftliches; warum sollte nicht auch der heutige ge-
meine Entwicklungsbegriff, der sich fast in Nichts von der unmoti-
virteu Metamorphosenvorstellung unterscheidet, als ein Hinderniss
des strengen Denkens und einer richtigen Welfcauffassung fungiren?
Mindestens sind drei Viertel seiner Bestandtheile verwerflich, und
was übrig bleibt, muss auf Hergänge der Zusammensetzung und
Trennung zurückgeführt werden, wenn es einen klareren Sinn er-
halten soll. Erinnern wir uns noch einmal der Voraussetzungen,
vermöge deren die Chemie eine wirkliche Wissenschaft ist, und be-
denken wir, dass alle Entwicklungsschematismen, soweit sie mehr
als äusserliche Anschauungsbilder der unmittelbaren Erfahrung sein
sollen, die Bearbeitung eines atomistischen Materials aufweisen müs-
sen. Nur in diesem Sinne können wir Entwicklungsgesetze als letzte
Instanzen der Rechenschaft anerkennen, und nur in dieser Richtung
kann es eine zergliedernde und hiemit erst wahrhafte Wissenschaft
von der Entwicklung geben. Der reine Mechanismus hat in dieser
Beziehung denselben Anspruch zu machen, und die Entwicklung
muss in der rein mechanischen Composition sogar ihre erste Stelle
haben. Das Organische ist mithin eine zusammengesetzte Form
selbständiger mechanischer Entwicklung, und hiedurch wird das phy-
sikalische Universum mit dem specifischen Leben und den Empfin-
duugsvorgängen zu einer fundamentalen Einheit verbunden.
Dritter Abschnitt.
Elemente des Bewusstseins.
Erstes Oapitel.
Empfindung und Sinne.
JJenken wir aus dem System der Dinge alle Subjectivitäten hinweg,
so bleibt der Mechanismus der objectiven Welt als eine zwar zweck-
lose, aber doch selbstgenugsame Einheit übrig. Das Dasein empfin-
dender Wesen ist keine Voraussetzung für den Kosmos; aber wohl
ist der letztere eine unerlässliche Vorbedingung der Existenz von
Bewusstseins Vorgängen. Das Reich der Empfindung besteht in der
Vereinzelung einer Vielheit empfindender Wesen, und es scheint in
diesem Gebiet zunächst jede einheitliche Verbindung zu fehlen.
Während sich das objective Sein sofort als ein Gesammtsystem dar-
bietet, durch dessen Einzelheiten der Faden der Materialität und der
allgemeinen Naturkräfte hindurchleitet, lässt sich etwas Aehnliches
von der Mannichfaltigkeit der Bewnsstseinssphären nicht behaupten.
Der Verkehr zwischen den Vorstellungen der verschiedenen Wesen
ist ein äusserst partieller. Jedes Bewusstsein ist an sich selbst ein
mehr oder minder abgeschlossenes Bereich von Empfindungen und
Vorstellungen, die sich nur in secundärer und unterbrochener Weise
an andere Bewusstseinsbereiche mittheilen können. Das auf den
ersten Blick Merkwürdigste ist der Umstand, dass der Einheit des
objectiven Seins zwar die Einheit eines jeden einzelnen Bewusstseins,
aber nicht die Vereinigung alles Bewusstseins in einem einzigen
Subject gegenübersteht. Die Imagination hat es allerdings an der
Erdichtung eines solchen universellen Bewusstseins nicht fehlen las-
sen; aber sie hat auch eben mit dieser Ungeheuerlichkeit nichts als
ein Etwas producirt, welches allen Gesetzen der Wirklichkeit wider-
— 129 —
spricht. Die relative Vereinzelung gehört zum Wesen des ßewusst-
seins, und der Reichthum dieses Gebiets ist eben darin zu suchen,
dass die Form des Sichselbstempfindens so vieler Wiederholungen
und Variationen fähig ist.
Das Bewusstsein ist ein mehr oder minder flüchtiger Vorgang
und mithin ein producirter Act, welcher innerhalb desselben Wesens
regelrechte Unterbrechungen aufweist. Im traumlosen Schlaf und in
einigen abnormen Zuständen ist nicht das mindeste Bewusstsein vor-
handen, wenn auch immerhin die Disposition zu seiner Hervor-
bringung besteht. Man darf aber die Anlage, vermöge deren auf
bestimmte Reize die Empfindung hervorgerufen werden kann, nicht
mit dem Act des subjectiven Empfindens selbst und dem zugehörigen
Gefiihl verwechseln. Was wir nicht subjectiv inne werden und wobei
wir nicht den Unterschied von Lust und Schmerz wahrnehmen kön-
nen, das gehört gar nicht der Wirklichkeit des Bewusstwerdens an,
sondern muss als ein ausserhalb des actuellen Ich belegenes Element
betrachtet werden. Dieser Sachverhalt ändert natürlich nichts an
der eben so sichern Thatsache, dass die Dispositionen zum Bewuäst-
sein dem individuellen Schematismus und insofern auch demjenigen
Ich angehören, welches man uneigentlich so nennt und als das ob-
jective Band einer Individualgestalt ansieht. Dieses uneigentliche Ich
wird nun freilich meist zu einer eben solchen Chimäre gemacht, wie
es die beliebten empfindungslosen Empfindungen, unvorgestellten
Vorstellungen und ähnliche, von einer sogenannten Wissenschaft
ausgebome Ungeheuer sind. In Wahrheit ist das bindende Schema,
vermöge dessen vor allem Bewusstsein ein künftiges Bewusstsein de-
terminirt wird, zwar ein nothwendiger Begriff; aber man muss zu
den grössfcen Ungereimtheiten gelangen, wenn man die unempfan-
denen und mithin objectiven Ursachen der Empfindungen ebenfalls
Empfindungen nennt. Leider ist es aber nicht blos ein nachlässiger
Sprachgebrauck, sondern eine Verkennung der Hauptsache, was zu
den fraglichen Absurditäten geführt hat. Wer die Kluft verkennt,
die zwischen Empfinden und Nichtempfinden besteht, mag allerdings
die Ursachen oder Kräfte, aus deren Medium das subjective Fühlen
producirt wird, mit diesem Fühlen selbst als einerlei ansehen und
die Bestimmungen des objectiven Gebiets mit den Bewusstseins-
bestandtheilen wirr durcheinanderlaufen lassen. Wer jedoch irgend
einmal des gewaltigen Unterschiedes inne gewordeu ist, der zwischen
dem Bewusstlosen und dem Bewussten eine durch keine quantitative
Dühring, Cursus der Philosophie. ^
- 130 —
Allmäligkeit zu verwischende Grenze zieht, der wird es sich nicht
mehr einfallen lassen, die völlige üngleichartigkeit der beiden Seins-
formen in den Nebeln eines zweideutigen Sprachgebrauchs und einer
unexacten Denkweise verhüllen zu wollen.
Die Vereinzelung des Bewusstseins in bestimmten Wesen ist
jedoch nicht blos eine Elrfahrungsthatsache, sondern auch, soweit
sich hier überhaupt deduciren lässt, eine innere Nothwendigkeit.
Das Ueberraschende, was der Mangel eines Universalbewusstseins zu-
nächst an sich hat, muss verschwinden, sobald man erkennt, dass
ein solches einziges Universalbewusstsein ein in sich widersprechendes
und mithin real unmÖghches Gebilde ist. Alles Bewusstsein setzt
ein Sein voraus, dessen es sich bewusst zu werden hat. Es beruht
mithin auf einer Trennung und einem Gegensatz. Die Empfindung
ist nicht denkbar ohne eine Differenz der Kräfte. Sie ist sogar
überall das Ergebniss einer mechanischen Arbeit. Wenn nun das
Bewusstsein zeitlich und räumlich nur eine in jedem Fall beschränkte
Summe von Elementen der Wahrnehmung zu sein vermag, so kann
es zwar in seiner Grundform den Schematismus der Welt der blossen
Anlage nach enthalteni muss aber in jeder seiner Wirklichkeiten be-
grenzt ausfallen. Da nun die Anlage zum Bewusstsein gar kein
eigentliches Bewusstsein ist, so begreift sich, warum das Bewusst-
sein nur in einer Vielheit von Standpunkten der Aufgabe der höch-
sten Steigerung und der weitesten Ausdehnung seines Umfangs ent-
sprechen könne. Die nothwendige Beschränktheit des einzelnen
Bewusstseinsvorgangs hat ihre Ergänzung in der Mannichfaltigkeit
der verschiedenen Acte, und die unvermeidliche Enge der Individua-
lität des Empfindens erweitert sich zu der in diesem Gebiet über-
haupt möglichen Universalität durch die zusammenbestehende Vielheit
und durch die Aufeinanderfolge der Wesen. Wäre diese Isolirung
der subjectiven Welt nicht gleichsam ein Stück realer Logik oder,
mit andern Worten, eine aus der Artung der neuen Seinsgattung
selbst entspringende Nothwendigkeit, so würde man sich allerdings
wundern müssen, dass die universelle Zusammenfassung der Welt
nicht vollendet in einem einzigen Subjecte dasteht. Der allgemeinen
Grundform nach trägt jedes Subject gleichsam die Anweisung zu
einer einheitlichen Auffassung der Dinge in sich; wie viel aber in
den Rahmen dieser Einheit eingespannt werden könne, hängt nicht
nur von dem niedern oder hohem Schematismus des Wesens, son-
dern auch von der zeitlichen und räumlichen Situation ab, zu welcher
— 131 —
es mit seinen besondern Eigenschaften gehört. Die Versetzung in
neue Lagen ist das grosse Mittel, durch welche das Spiel der Be-
wusstseiusphänomene variirt wird. Die Einheit in diesen Variationen
wird aber dadurch gewahrt, dass für jedes Bewusstsein nur eine ein-
zige Welt existirt, wie wenig oder wie viel auch von derselben in
Empfindung tibersetzt oder nicht übersetzt werden mag. Auf diese
Weise ist jedes vereinzelte Bewusstsein gleichsam eine Welt für sich
und nichts weiter als der Ausdruck einer bestimmten Situation, in
welcher sich das Sein in einer seiner Thatsachen und in einem seiner
Verhältnisse befindet. Auf der andern Seite ist es aber zugleich ein
selbstgenugsamer Beziehungspunkt der einheitlichen und einzigen
objectiven Welt auf sich selbst und leistet mithin alles das, was
man rationeller Weise von einem Universalbewusstsein nur irgend
verlangen könnte. Der falsche Begriff eines üniversalbewusstseins
wäre die Confusion einer Unzahl unverträglicher subjectiver Elemente
zu der Nacht des unterscheidungslosen Nichts . und fährte mithin zu
der verworrenen Verwischung alles Bewusstseins in den Nebeln des
Unbewusstseins , also zum universellen Erlöschen des Bewusstseins
selbst. Das Ergebniss des Suchens nach jener Chimäre ist das Gegen-
theil von dem, was der Sucher wünscht; denn er strebt mit seinem
vermeintlichen Ideal nach einem übergreifenden actuelleu Wissen von
Allem, und er gewinnt nur die Verneinung eines jeden, wenn auch
noch so beschränkten Wissens.
2. Die Einheit und kosmische Gemeinschaft, welche in der Wirk-
lichkeit des Bewusstwerdens unmöglich ist, findet sich dagegen so-
fort unzweideutig und klar vor, sobald wir das Gebiet des subjectiv
Empfindbaren verlassen und uns nach den objectiven Vorgängen um-
sehen, welche in den Individuen allen Bewusstseinsregungen voran-
gehen und als die producirenden Factoren alles Empfindens und Vor-
stellens zu betrachten sind. Diese Einheit ist nicht im Bewusstsein
an sich selbst, sondern nur in solchen Ursachen vorhanden, die dem
Gebiet des Empfindungslosen angehören. Wie alle gravitirenden
Atome mit einander in allseitiger Beziehung stehen, so wirkt auch
die allgemeine mechanische Causalität der verschiedensten Naturkräfte
auf die individuellen Wesen ein und afficirt das Material, dessen
Veränderungen auch Modificationen des Empfindungsspiels mit sich
bringen. Besonders auffallend sind die Wirkungen der verschiedenen
Gradationen und sonstigen Mengeverhältnisse der Wärmezustände.
Die Abwechselungen im Gebiet des Meteorologischen wirken weit
— 132 —
weniger durch den Eindruck der höheren und erkennenden Sinne,
als durch die tief innerlichen Affectionen, welche alle Theile der
Materie ergreifen. Das Mitleben mit der umgebenden Natur ist da-
her im letzten Grunde ein Miterzittem in und mit dem allgemeinen
Mechanismus der Naturkräfte. Von dieser Seite besteht eine durch-
gängige Determination aller Vorbedingungen des Bewusstseins, und
in dieser Richtung ist die Schranke der Individualität, die in dem
isolirten Bewusstwerden der einzelnen Situation ihren Ausdruck findet,
offenbar nicht vorhanden. Die Antriebe, vermögen deren das Licht
des Bewusstseins aufblitzt, sind selbst völlig dunkel, und sie müssen
von uns als Theile einer universellen Mechanik vorgestellt werden.
Die grösste Thorheit würde darin bestehen, die Empfindung bereits
vor ihrer subjectiv gefühlten Wirkb'chkeit als Empfindung denken
zu wollen. Sie tritt vielmehr erst mit jener Differenz ins Leben,
die es möglich macht, das Objective als solches von einem rein sub-
jectiven Innewerden der Zustände eines Wesens zu unterscheiden.
Hienach giebt es eine doppelte Causalität, nämlich einerseits
diejenige, welche ausserhalb der Sphäre des Bewusstseins und gleich-
sam in den Tiefen wirkt, aus denen es aufleuchtet, und andererseits
diejenige, welche auf der bewussten Uebertragung der Empfindungen
und Vorstellungen von Wesen zu Wesen beruht. Dieser letztere
Verkehr hängt von den Wahrnehmungen der erkennenden Sinne ab
und vermittelt sich, da diese Sinne nur vermöge materieller Medien
zu Wahrnehmungen gelangen, ebenfalls am Leitfaden der Materia-
lität. Kein Wesen kann in das andere ohne diese materielle Brücke
wirken, und nur die chimärischen Erdichtungen der Superstition
wollen noch andere Wege des Einflusses kennen. Hier ist aber
wieder einmal ein Merkzeichen der Wirklichkeitsphilosophie vorhan-
den ; denn wer in dem psychischen Verkehr die Nothwendigkeit des
materiellen Leitfadens leugnet, stellt sich hiemit ausserhalb aller
strengen Wissenschaft und überlässt sich einem wüsten Köhlerglauben.
Die materielle und mechanische Brücke ist das einzige Kriterium der
wirklichen Causalität, und jede andere Vermittlung bleibt ein will-
kürliches Mährchen der unrationellen Phantastik. Wie sogenannte
Geister in Berkeleyscher oder sonst spiritistischer Manier auf ein-
ander wirken sollen, ist ausser in Mährchenform gar nicht angebbar,
und die Hallucinationen des thierischen oder, besser gesagt, viehischen
Magnetismus gehören sammt dem Amerikanischen Spiritismus mit
seinem Geisterspuk und der seinen Wundern entsprechenden Euro-
— 133 —
päischen Metaphysik spiritualistischer Art theils in die grosse Kinder-
stube der Menschheit, theils auf den Schwindelmarkt der vielgestal-
tigen Charlatanerie. Es sind dies Angelegenheiten, in denen die
grossen Kinder und die grossen Gauner ihren gegenseitigen Bedürf-
nissen entsprechen, nur dass schliesslich die letztere Gattung dabei
doch besser ihre Rechnung findet.
Die sogenannte Psychologie, die schon in ihrem Namen eine
unwissenschaftUche Vorstellung verkörpert hat und unter diesem
Namen, soweit meine Literaturkenntniss reicht, noch niemals ratio-
nell und kritisch behandelt worden ist, war bisher vorherrschend
eine Ablagerung von halb metaphysischen, halb empirischen Crudi-
täten über Handlungen und Verhältnisse, die man einer erdichteten
Entität, nämlich einer Psyche, d, h. einem in Cartesischer Manier
für sich getrennt existirenden und in einem Leibe zeitweilig hausen-
den Seelendinge zuzuschreiben beliebte. Diese Psyche ist für die
Psychologie ungefähr dasselbe, was der Theos für die Theologie.
Nur ist der erstere Pseudobegriff zäher als der letztere, weil ihm
ein weit grösserer Schein der Realität zur Seite steht. Der dichte-
rische Sprachgebrauch kann nämlich mit Fug und Recht von etwas
Seelenvollem reden, ohne der Wahrheit etwas zu vergeben ; denn die
figürhche Sprache bezeichnet hiemit nur den hohen Grad der Be-
wegung, des Lebens und der innem Erregungsfähigkeit. Wenn aber
die grammatische Substantivirung noch heute dazu verleitet, eine
Substanz d. h. etwas dinglich zu Grunde Liegendes zu erdenken,
was man Seele zu nennen habe, so ist dies der gröbste L-rthum, in
den man nur irgend verfallen kann. Das iadividuelle Princip der
innern Erregungen und Bewusstseinsphänomene ist seinem Wesen
nach eine Action und mithin etwas durchaus Vergängliches. Es ist
das Gegentheil aller Substantialität, und man kann sich daher in
der Form seiner Auffassung nicht ärger vergreifen, als wenn man,
getäuscht durch den in Wahrheit nur relativen und ephemeren Be-
stand seiner Wirksamkeit, aus dieser sehr bemessenen Beständigkeit
nicht nur ein Ding, sondern sogar eine der Materie analoge Wirk-
lichkeit macht. Der einem solchen Dinge beigelegte Charakter der
Unvergänglichkeit, neben welchem derjenige der Unentstandenheit
aus guten Gründen nur selten figurirt, stammt nun freilich aus einer
Sphäre von Erdichtungen, die nicht in einer blossen Selbsttäuschung
des Verstandes, sondern in dem betrügerischen Spiel der Affecte und
der Eitelkeit ihren Halt hat. Seine Besprechung gehört daher in
— 134 —
das praktisch Moralische, und wir haben an dieser Stelle von der
Nach Weisung, dass die edlere Moral mit einer solchen Annahme
nicht verträglich sei, noch Abstand zu nehmen.
Was man nothgedrungen im Hinblick auf die Schulgewohnheiten
und den auch sonst im Publicum eingewurzelten Sprachgebrauch
Psychologie nennen muss, ist nichts weiter als eine Lehre von den
Bewusstseinsvorgängen als solchen. Wenn man die Elemente des
Bewusstseins an sich selbst betrachtet, ihre Beschaffenheiten, Be-
ziehungen und gesetzlichen Verbindungen oder Trennungen feststellt,
und wenn man schliesslich sogar die Bedingungen ihrer ursprüng-
lichen Entstehung aus dem Bereich der mechanischen und physio-
logischen Antriebe untersucht, so thut man Alles, was eine ratio-
nelle Theorie von der menschlichen Innerlichkeit nur irgend mit
sich bringen kann. Die Vorstellung von einer Seele ist nicht nur
ein überflüssiger, sondern auch ein schädlicher Vennittlungsbegriff,
den man in Wort und That ausmerzen muss, um den reinen Gehalt
der Bewusstseinslehre in sauberer Absonderung zu gewinnen. Auch
wird man nur zu einem wirklichen Wissen in diesem Gebiet ge-
langen, wenn man, anstatt mit dem Unwesen einer Seele nichts-
sagende und nichtsnutzige Erklärungen zu prätendiren, die mensch-
liche Innerlichkeit gleich von vornherein als ein thatsächlich gege-
benes Feld der Beobachtung und speculativen Untersuchung betrachtet.
Die Bewusstseinsvorgänge sind eine Seite der Natur, und sowenig
man zu den Naturvorgängen noch ein besonderes Wesen braucht,
um sie verständlich zu machen, ebensowenig hat man für das Be-
wusstsein einen besondem Götzen nöthig, um es in einer Einheit
zusammenzuhalten. Die reale Logik reicht auch hier aus, und das
Reich der empfindenden Subjectivitäten ist ja überdies keine abso-
lute Selbständigkeit, sondern auf der Grundlage der übrigen Natur
ein causales Gebilde zweiter Ordnung.
3. Die vorher gekennzeichneten Gewohnheiten der Superstition
finden sich nicht blos in der rein spiritistischen Psychologie, son-
dern auch in den zwitterhaften Unternehmungen, die Bewusstseins-
lehre durch eine sogenannte Physiologie der Seele zu ersetzen und
so einem Publicum annehmbarer zu machen, welches schon den
blossen Namen naturwissenschaftlicher und physiologischer Erkennt-
niss zu achten gesonnen ist. In Wahrheit sind aber diese Misch-
bildungen, entsprechend ihrem ungeschickten Titel, voll von meta-
physischen llohheiten, und man glaube daher gar nicht, dass die
— 135 —
Einmischung physiologisclier Kenntnisse das Ragout einer sogenann-
ten Seelenlelire für den bessern Geschmack erträghch zu machen
vermöge. Es giebt sogar Arten von Pseudomaterialismus, in denen
sich ein kaum za überbietendes Ungeschick in den logischen Vor-
stellungsformen und eine vulgäre Unfähigkeit zu eigentlich philoso-
phischen .Begriffen derartig verräth , dass man diesen naiven Stoff-
denkern getrost den Rath geben kann, sich nur sofort mit den
Mystikern und Spiritisten zu vergesellschaften. Da sie nämlich aus
der Gemeinheit der Pöbelbegriffe thatsächlich gar nicht herauskom-
men, sondern diese Pöbelbegriffe nur ins Materialistische zu über-
setzen suchen, so berühren sie sich von dieser Seite unmittelbar mit
dem SpirituaUsmus, den sie zu verabscheuen vorgeben, und arbeiten
thatsächlich dem krassesten Spuk in die Hände. Sie befördern die
Möglichkeit jener bewussten und oft vöUig gaunerischen Mischungen,
vermöge deren die alte Superstition mit einer naturwissenschafthchen
Ausstattung von Neuem auf den Markt gebracht wird.
Ernster, aber nichtsdestoweniger unhaltbar sind diejenigen An-
sichten, welche mit der alten Psychologie überhaupt jede Bewusst-
seinslehre aus der Philosophie hinausgewiesen und als Thorheit
geächtet wissen wollen. Die Vertreter dieser Anschauungsweise
wollen sich auf eine reine Physiologie der Organe des Empfindens
und Denkens beschränken und übersehen hiebei, dass die subjectiven
Vorgänge als solche und in ihrer empfundenen Innerlichkeit nie
durch die äussere Betrachtung der Function der Werkzeuge gedeckt
werden können. Die Zergliederung und Beobachtung der Organe
und ihrer äusserlich sichtbaren Thätigkeiten muss auch über die
Verhältnisse der subjectiven Empfindungsformen bedeutende Auf-
schlüsse liefern; wenn man aber die unmittelbare Aufmerksamkeit
auf die Elemente- und Gestalten des Bewusstseins als völlig gleich-
gültig oder auch nur als untergeordnete Nebensache ausgiebt, so
bekundet man hiemit nur, dass man von dem Wesen einer ratio-
nellen Bewusstseinslehre keine Ahnung hat. Letzteres war z. B. bei
A. Comte der Fall und pflegt sich ausserdem bei denjenigen Phy-
siologen zu bestätigen, welche die grössten Anstrengungen machen,
der Seelensuperstition zu entgehen, ohne doch im Stande zu sein,
ihre objectiven Anschauungen mit einer entsprechenden Einsicht in
die zugehörigen subjectiven Vorgänge zu verbinden. Die Physiologie
der unmittelbaren Organe des Empfindens und Denkens ist für die
eigentliche Bewusstseinslehre eine blosse Hülfs Wissenschaft, und eine
— 136 —
besondere Theorie der subjectiven Elemente des Bewusstseins wird
solange eine berechtigte Forderung bleiben, als man nicht etwa auf
alle genauere und systematische Erkenntniss der menschlichen Inner-
lichkeit verzichten will.
Allerdings hat bis jetzt die Richtung auf diese Innerlichkeit in
der schlechten Form der bisherigen Psychologie vorherrschend den
Charakter der Beschränktheit, Pedanterie und selbstbeschaulichen
Eitelkeit an sich getragen. Sogar durch die bessern Erscheinungen,
wie sie in und seit Locke eine breite und selbstgefällig behagliche
Vertretung fanden und sich bei Kant sogar in das Hochmetaphy-
sische verwandelten, ist die objective Philosophie auf eine Zeit lang
suspendirt und die grosse Welt mit der kleinen vertauscht worden.
Ja die heutigen Tageserscheinungen beweisen im vollsten Maasse,
dass eine Art Bomirtheit in der Auffassung von Welt und Leben
dabei herauskommt, wenn die sogenannte Psychologie irgendwo in
den Vordergrund tritt oder sich etwa gar als eine leitende Wissen-
schaft geltend machen will. Thatsächlich ist es, auch von aUen
Superstitionen abgesehen, mit der sogenannten Psychologie heute
derartig bestellt, dass man grade diejenigen, die sich fiir Psychologen
ausgeben, überall als die zur ernsteren Philosophie Unfähigsten be-
trachten muss. Dies gilt nicht etwa blos für Deutschland, sondern
auch für England, Frankreich und die sonst betheiligten Cultur-
gebiete.
Dieser ungünstige Sachverhalt erklärt sich zum Theil daraus,
dass eine echte Bewusstseinslehre nur die gelegentliche Frucht hö-
herer Probleme sein kann, in deren Dienst die einzelnen Einsichten
gewonnen werden, während die grundsätzliche Fixirung der Gedanken
auf die durch keinen hohem Zweck geadelte Selbstuntersuchung ein
ansehnliches Maass von persönlicher Eitelkeit und Selbstbespiegelung
voraussetzt. Eine abgesonderte Bewusstseinslehre kann nur zwei
anerkennenswerthe Zwecke haben, und beide liegen ausserhalb der-
selben. Entweder will sie die subjectiven Täuschungen in der Auf-
fassung der Dinge wegräumen oder die Gesetze biosiegen, nach denen
der Mensch auf den Menschen zu wirken vermag. Die erstere rein
speculative Aufgabe bleibt hiebei eine untergeordnete Angel^enheit,
weil die Meinung, die Probleme der objectiven Welt mit der Psy-
chologie lösen zu können, eine Verkennung der Tragweite der Be-
wusstseinszergliederung einschliesst. Der zweite Gegenstand ist von
weit grösserer Bedeutung; denn hier kann eine rationelle Bewusst-
— 137 —
seinslehre in der That die Gesetzmässigkeit aller Motive des Ver-
haltens auch innerlich beleuchten und aus dem Mittelpunkt der Em-
pfindung die nothwendigen Ergebnisse construiren helfen. Aber auch
hier würde die Bewusstseinslehre ihre eigne Natur YÖllig verkennen,
wenn sie sich einbildete, ein für sich allein zulänglicher Factor des
Verständnisses menschlichen Individuallebens oder gar der Collectiv-
gestaltungen sein zu können. Von Allem, was vorgeht, bilden die
Bewusstseinsphänomene nur einen äusserst beschränkten Theil und
sind zunächst weit mehr Wirkungen, als selbst wirksame Ursachen.
Oft verhält sich das Bewusstsein nur wie ein zufälHger Durchgangs-
punkt von Realitäten, die auch ohne diese Beleuchtung ihren Erfolg
gehabt haben würden. Wo man aber in eminenter Weise auf die
schöpferisch vermittelnde Wirksamkeit des Bewusstseins zu zählen
hat, da sind es weniger die psychologischen Eigenschaften als die
logischen Ausstattungen desselben, die praktisch in Frage kommen.
In jeder Richtung wird man also gewahr, welche bescheidene Rolle
selbst die echte Bewusstseinslehre, die man als Kern der übrigens
falschen Psychologie gewinnen mag, im Ganzen der Philosophie und
Wissenschaft zu spielen habe. Sie liefert eben nur einige Elemente,
die man freilich an die Spitze stellen kann, wenn man das Reich
der empfindenden Wesen betritt, aber auch ebensogut nach Bedürf-
niss den besondern realen Problemen an den verschiedenen Oertem
hätte beiordnen können. Diesen letzteren Weg wird man sogar unter
allen Umständen für die Aesthetik einschlagen müssen; denn das
Wenige, was eine bessere Bewusstseinslehre auch in dieser Richtung
dürfte bieten können, schliesst sich so innig an die besondere ästhe-
tische Art und Weise der Gesichtspunkte an, dass man es von der
Eigenart des künstlerischen Verhaltens nicht trennen kann. Hiezu
kommt noch, dass die wahre Aesthetik eine durchaus objective
Wissenschaft ist, in welcher die Kunst der Natur und das Eben-
massige in der Verfassung des Universums oder in dem Spiel der
Naturkräffce ebensogut eine Stelle haben müssen, wie die gestalten-
den Mächte der menschlichen Vorstellungskräfte.
4. Die Empfindung ist uns ein Vorgang, mit welchem nicht
nur eine neue Welt erschlossen, sondern auch das objective Sein
erst in seiner Bedeutung vollendet wird. Sie ist daher etwas All-
gemeines und Universelles, was sich in wesentlich gleichartiger Weise
da entwickelt finden oder noch entwickeln muss, wo die Zurüstung
der sonstigen Naturkräfte einen Schauplatz darbietet. Unabhängig
— 138 -
von der gewöhnlichen psychologischen Beschränktheit sehen wir da-
her die Empfindung als ein kosmisches Phänomen an und setzen
sogar voraus, dass sie überall im Universum dieselben Grundformen
und Elemente, wenn auch in veränderter Zusammensetzung, aufweise.
Wir folgen hierin nur derjenigen Analogie, an die wir schon öfter
erinnern mussten, nämlich dem Leitfaden der chemischen Einheit
der Weltcomposition. Ausserdem nöthigt uns aber auch zu dieser
Annahme die allgemeine Nothwendigkeit einer durchgängigen Syste-
matik des Daseins. Eine solche Systematik würde sich verleugnen,
wenn es nicht ein einziger Schematismus wäre, aus dem alles be-
wusste Leben in mannichfaltigen Variationen stufenweise hervor-
getrieben wird. Schliesslich giebt es aber auch noch einen objectiven
Grund, welcher uns die Universalität der Empfindungselemente ver-
bürgen kann. Die Beschaffenheit der Elementarempfindungen wäre
eine willkürliche und sinnlose Thatsache, wenn sie nicht eine reale
Bedeutung hätte und nach Innen oder nach Aussen eine Auslegung
sachlicher Verhältnisse repräsentirte. Li der Empfindung ist objective
Wahrheit. Sie ist eine Interpretation desjenigen Seins, welches an
sich selbst sich nicht empfindet, sondern eben zu diesem Act eine
specielle Function abgesondert hat. Die Empfindung ist niemals
blos etwas an sich selbst, sondern sie ist zugleich ein Ausdruck ob-
jectiver und realer Verhältnisse, an dessen Wahrheit auch dadurch
nichts geändert wird, dass die nächste und unmittelbarste Beziehung
des Empfindens die Einrichtung und die Zustände des individuellen
Organismus zum Gegenstande hat. Dieser Organismus bildet stets
nur die Brücke zur umgebenden Aussenwelt, und seine Zustände
sind so gut wie die des Thermometers ein Maass für die realen Vor-
gänge ausser ihm. Es ist eine herkömmliche Einseitigkeit, wenn
man die Empfindung nur als Ausdruck innerer Zustände gelten lassen
will und die objective Wahrheit in ihr verkennt, weil die Ueber-
setzung aus dem Objectiven in das Subjective durch eine Maschinerie
vermittelt wird, die bei den verschiedenen Wesen ein so abweichen-
des Aussehen hat. Im letzten Grunde ist auch diese Maschinerie
trotz aller Variationen durch neue Theile doch stets einheitlich an-
gelegt, und das System der Mittel, durch welche ein an sich un-
empfandener Vorgang in die Natursprache der Empfindung übersetzt
wird, ist durchgängig dasselbe.
Hieraus folgt nun, dass schon die unterste Grundlage aller
menschlichen und sonstigen Einsicht in der Welt der Empfindungen
— 139 —
anzutreffen sein muss. In der That wiederholt sich hier auch nur
das Grundschema der objectiven Welt, nämlich der Antagonismus
der Nafcurkräfte. Die Widerstandsempfiudung ist das Element aller
übrigen; sie tritt in sinnenmässiger Deutlichkeit da hervor, wo die
eignen Kräfte des individuellen Organismus die mechanische Wirkung
eines ihnen widerstrebenden Körpers erproben. Indessen müssen wir
voraussetzen, dass auch in jeder innerlichen oder sonst auf molecu-
lare Ötoffverhältnisse bezogenen Empfindung das subjective Inne-
werden eines mechanischen Widerstandes die letzte schematische
Grundform bildet. Wenn die Wärmezustände oder die chemischen
Mischungsverhältnisse des Leibes in Empfindungen einen Ausdruck
erhalten, so kann man nicht umhin, auch hierin auf das Grund-
schema zurückzuschliessen. In demselben Sinne, in welchem alle
objectiven Naturactionen in letzter Form mechanische Antagonismen
aufweisen, müssen auch die Empfindungen auf diesen ursprünglichsten
Typus zurückzufuhren sein. Die Einheit der Naturkräfte ergiebt
auch eine entsprechende Einheit der Empfindungen. Der Gegensatz,
der in jenen die Hauptrolle spielt, muss auch in diesen die Grund-
lage aller weiteren Composition und Entwicklung werden. Wir
wollen uns nicht sofort darauf berufen, dass Lust und Schmerz den
unausweichlichen Antagonismus innerhalb des Empfindungsbereiches
verrathen. Jede bestimmte Lust und jeder bestimmte Schmerz be-
ruhen bereits auf der Zusammensetzung von Empfindungsbestand-
theilen, die wir unmittelbar und ohne Weiteres nicht zu sondern
und nicht rein oder elementar zum Bewusstsein zu bringen oder,
mit andern Worten, nicht aus der Mannichfaltigkeit der Neben-
gebilde und Verwicklungen auszuscheiden vermögen. Dagegen kön-
nen wir von den Elementen der Lust sowohl als des Schmerzes mit
vollem Recht behaupten, dass in diesen einfachen Theilempfindungen,
aus denen sich die volle Empfindung zusammensetzt, kein andereä
Grundschema möglich sei, als dasjenige, welches dem Fundamental-
typus der objectiven Welt entspricht. Dieses ist aber der mecha-
nische Antagonismus.
Es ist nicht erst die besondere Einrichtung eines empfiudenden
Organs, sondern schon die ganze objective Welt, welche auf die Her-
vorbringung von Lust und Schmerz angelegt ist. Aus diesem Grunde
nehmen wir an, dass der Gegensatz von Lust und Schmerz und zwar
genau in der uns bekannten Weise ein universeller sei und in den
verschiedenen Welten des Alls durch wesenthch gleichartige Gefühle
— 140 —
vertreten sein müsse. Diese Gleichartigkeit kann sich aber nur auf
die Elemente des Fühlens beziehen und keine grössere Uebereinstim-
mung ergeben, als sie etwa auch zwischen der Bewusstseinsregung
des niedrigsten Thieres und derjenigen des Menschen besteht. Diese
Uebereinstimmung bedeutet aber nicht wenig; denn sie ist der
Schlüssel zu dem Universum der Empfindungen. Absolut fremd ist
uns daher der allgemeinen Art nach Nichts. Unsere eignen Gefühle
mögen sich in andern Wesen gesteigert finden ; aber sie werden we-
nigstens nothwendige, wenn auch zu neuen Zusammensetzungen ver-
werthete Bestandtheile jedes Ich bilden müssen. Uns ist mithin die
subjective kosmische Welt nicht viel fremder als die objective. Die
Constitution beider Reiche ist nach einem übereinstimmenden Typus
zu denken, und hiemit haben wir die Anfänge zu einer Bewusstseins-
lehre, die eine grössere als blos terrestrische Tragweite hat.
Es ist kein müssiges Spiel der Speculation, das Bewusstaein in
seiner kosmischen Allgemeinheit zu betrachten und die Universalität
der Elemente von Lust und Schmerz zugleich objectiv und subjectiv
begreifen zu wollen. Nur durch das Grosse und Umfassende dieser
Wendung gelangen wir über die Beschränktheiten der gewöhnlichen
Auffassungsart hinaus. Das Zufällige und Willkürliche verschwindet
auch im subjectiven Reich, und die Phantasie, die sich so gern in
die dunkle Wüste leerer Möglichkeiten begiebt und mit den Vor-
stellungen des völlig Andern und absolut Charakterlosen ein nichts-
sagendes Spiel treibt, wird an bestimmte Elemente gebunden und
auf typische Charaktere hingewiesen, in deren Combination sie sich
einigermaassen positiv bethätigen kann.
5. Die Begriffe Leben und Empfindung decken sich insofern
nicht, als die subjectiv gefühlte Regung gänzlich fehlen und dennoch
das, was wir Leben nennen und dem Tode entgegensetzen, sehr wohl
vorhanden sein kann. Erstens hört mit den Unterbrechungen der
Empfindung und des Bewusstseins bei den thierischen Wesen be-
kanntlich das Leben nicht auf; aber man könnte einwenden, dass
wenigstens die Anlage zur bewussten Empfindung hier immer vor-
handen sein müsse. Dagegen sind die Pflanzen gänzlich und für
immer ohne die leiseste Spur von Empfindung und auch ohne jede
Anlage dazu. Dennoch reden wir von ihrem Absterben und schreiben
ihnen mithin eine Art Leben zu. Der eigenthümlich complicirte
Process der Bewegung von Säften sowici eine eigentliche Ernährung
und Fortpflanzung bilden hier mit dem Erlöschen der Wirksamkeit
— 141 -
des Organisationsschema das sichere Merkmal des eigentlichen und
nicht blos metaphorisch so genannten Lebens. Der Stoffwechsel, der
sich vermöge einer plastisch bildenden Schematisirung vollzieht, bleibt
stets ein auszeichnender Charakter des eigentlichen Lebensprocesses.
Wollte man nämlich die chemischen und physikalischen Hergänge,
wie sie sich in der Kjrystallbildung zeigen, in ihren einheitlichen
Ursachen mit den Principien des Aufbaus der Pflanzenkörper ver-
gleichen, so würde mindestens die selbständige Ausscheidung von
Stoffen nicht aufzufinden sein, und auch die Aufaahme derselben
könnte immer nur als äusserliche Ansetzung begriffen werden. Ganz
besonders aber würde man die Fortdauer eines Wechsels von Bildung
und Zerstörung im Innern stets vermissen, und demgemäss Hesse sich
auch für das, was wir bei den Pflanzen den Tod nennen, kein Ana-
logon auftreiben. Die rastlose Zersetzung oder Composition, welche
vornehmlich an den Oberflächen der Körper vor sich geht, ist ein
Act von rein chemischem Charakter und repräsentirt zwar die all-
gemeine Bewegung oder Regsamkeit im System der Dinge, darf aber
nicht mit dem specifischen Leben im engeren Sinne dieses Worts
irgend confundirt werden. Auch die unorganische Welt ist ein
System sich selbst vollziehender Regungen; aber erst da, wo die
eigentliche Gliederung und die Vermittlung der Circulation der
Stoffe durch besondere Canäle von einem innern Punkte und nach
einem an ein kleines Gebilde übertragbaren Keimschema beginnt,
darf man im engem und strengern Sinne von eigentlichem Leben
zu reden unternehmen. Andernfalls versteht es sich nämlich von
selbst, dass der Ausdruck Leben nur eine figürhche Rolle spielt und
nichts weiter als die Selbständigkeit aller Bewegungen der Natur
oder aber eine besondere Steigerung irgend eines Bewegungsspiels
bedeuten kann.
Das zur Empfindung beanlagte Leben wird sich in dieser Eigen-
schaft dadurch bekunden, dass die Anlage auch wirklich mehr oder
minder hervortritt und in subjectiven Gefiihlsformen erkennbar wird.
Geschähe dieses nicht, so würde man ja willkürlich eine Ursache
vorausgesetzt haben, deren Wirkung regelmässig ausbliebe, und die
Annahme einer Anlage zur Empfindung, die sich nie bethätigte,
wäre eine der willkürlichsten Phantasieausschweifungen. Physiolo-
gisch ist die Empfindung au das Vorhandensein irgend eines, wenn
auch noch so einfachen Nervenapparats geknüpft. Es ist daher das
Charakteristische aller thierischen Gebilde, der Empfindung d. h. einer
— 142 -
subjectiv bewussten Auffassung ihrer Zustände fähig zu sein. Die
scharfe Grenze zwischen Pflanze und Thier liegt da, wo der Sprung
zur Empfindung vollzogen wird. Diese Grenze lässt sich sowenig
durch die bekannten Uebergangsgebilde verwischen, dass sie viel-
mehr grade durch diese äusserlich unentschiedenen oder unentscheid-
baren Gestaltungen erst recht zum logischen Bedürfniss gemacht
wird. Der Umstand, dass eine Ellipse mit sehr kleiner Excentricität
für die sinnenmässige Auffassung vom Kreise nicht zu unterscheiden
ist, berechtigt keinen streng denkenden Mathematiker, den begriff-
lichen Sprung zu verkennen, der den völligen Wegfall von dem Da-
sein einer wenn auch noch so kleinen und nach Belieben unbeschränkt
klein zu setzenden Excentricität trennt. In dem einen Fall haben
wir den Kreis, in dem andern ein dem Begriff nach gänzlich ver-
schiedenes Gebilde, nämlich die Ellipse mit ihren ungleichen Axen.
Aehnlich verhält es sich nun auch mit allen realen Gattungen in
der Natur. Aus dem Reich der Empfindungslosigkeit tritt man in
dasjenige der Empfindung, trotz aller quantitativen Allmäligkeit, nur
mit einem qualitativen Sprunge ein, von dem wir, wenn wir uns
nicht den poetischen Gebrauch des Worts versagt hätten, behaupten
könnten, dass er sich unendlich von der blossen Gradation einer und
derselben Eigenschaft unterscheide. Keine Darwinistische Halbpoesie
und Metamorphosenfertigkeit mit ihrer grobsinnlichen Enge der Auf-
fassung und Stumpfheit der Unterscheidungskraft kann hier auf die
Dauer die Wesensverschiedenheit der beiden Gebiete verhüllen, und
man sollte sich doch erst an der Entstehung der Arten mathema-
tischer Gebilde orientiren, ehe man dem Vorwitz nachgiebt, funda-
mentale Trennungen in den Elementen der Gattungen mit sinnlichen
Oberflächlichkeiten verwischen und aus Allem Eins oder vielmehr
aus Allem Jedes machen zu wollen. Sicherlich sind Leben und Em-
pfindung nur Combinationen der allgemeinen Naturkräfte, aber eben
solche Combinationen, die derartig unter besondem Bedingungen
hervortreten, dass ihre specifische Artung nicht mit den andern For-
men der Natur verwechselt oder als blos quantitative Variation eines
sonst identischen Etwas ausgegeben werden darf. Verwahren wir
uns nicht gehörig gegen diese leichtfertigen Metamorphosen der
Empfindungslosigkeit in Empfindung, so könnten wir schliesslich
noch dazu gelangen, uns die spiritistische Wiederaufweckung der
Todten gefallen lassen zu müssen.
— 143 --
Wie die lebendige Anlage zur Empfindung zur actuellen Em-
pfindung werde, erproben wir jeden Augenblick an uns selbst; denn
jede neue Empfindung, die in uns auftaucht, kann uns über diesen
Punkt belehren. Die Empfindung entsteht, wie wir schon oben ge-
sagt haben, nicht nothwendig und niemals unmittelbar aus einer
andern Empfindung, sondern aus unempfimdenen Productiousfactoren.
Sie entspringt vermöge eines Mechanismus, der an sich selbst eben
keine Empfindung ist; aber dieser Mechanismus muss bereits objectiv
das Leben enthalten. Die Stufenfolge von den letzten mechanischen
Kräften bis zum Ergebniss des Bewusstseins muss daher eingehalten
und die vegetative Sphäre des Pflanzlichen eingeschoben werden,
wenn der thierische Organismus entstehen und Empfindung produ-
cirt werden soll. Die nächste Beziehung aller Empfindung auf einen
Gegenstand kann mithin nicht zweifelhaft bleiben. Es sind die
Hauptfunctionen des pflanzlichen Lebens, die im thierischen Orga-
nismus zur Selbstwahrnehmung gelangen und gleichsam in die Sprache
der Empfindung übersetzt werden. Hieraus ergeben sich nach Innen
gekehrte oder vielmehr zunächst auf innere Erregungen beschränkte
Gefühle, die den Ernährungszustand des betreffenden Wesens inter-
pretiren. Da nun das rein Theoretische hier immer zugleich mit
dem Praktischen verbunden ist, so mischt sich in die Kunde, die
durch das Gefühl von den Zuständen des objectiven Lebens gegeben
wird, zugleich der Trieb oder, genauer gesagt, die Triebempfindung.
Die Emährungsverhältnisse werden durch das Gefühl von Hunger
und Durst oder von Sättigung sowie auch durch den Mangel solcher
Empfindungen, also durch die Indifferenz, angezeigt. Ist in dem je-
weiligen Zustande des Bluts eine derartige Störung der Mischungs-
verhältnisse eingetreten, dass eine Ausgleichung durch Wasserhaltiges
objectiv nothwendig ist, so übersetzt sich diese Tendenz oder Span-
nung in die Empfindung des Durstes. So werden die im Gaumen
und auf der Zunge localisirten und grade dort vornehmlich in Em-
pfindungen subjectivirten Regungen gleichsam zu Boten, welche von
dem Gesammtzustand des Leibes Nachricht geben. Indessen sind es
nicht blos Boten, sondern auch zugleich thätige Gewalten, die sich
bei der Erledigung der von ihnen gemeldeten Angelegenheiten mit
Kraft und Einsicht betheiligen. Sie spielen nicht nur eine zu Hand-
lungen aufstachelnde Rolle, sondern wenden die Kenntniss, die sie
mitbringen, auch nach Aussen, um über die Zuträglichkeit der sich
darbietenden Objecte zu entscheiden. In dieser Function specialisiren
— 144 —
sie sich zu besondem und zwar vornehmlich chemischen Sinnen.
Geschmack und Geruch sind Beurtheiler der äussern Objecte, die mit
ihnen durch materielle Absonderung oder Zersetzung in innige Be-
rührung kommen. Die Aufnahme des zur Ausgleichung Passenden
und die Fernhaltung des Störenden sind hier in Rücksicht auf die
intimsten, nicht blos äusserlich mechanischen oder physikalischen,
sondern chemischen Eigenschaften der Materie und ihrer individuellen
Theilchen die charakteristischen Functionen. Diese Art von Sinnes-
causalität enthält nun aber schon etwas mehr, als die einheitliche,
den Unterschied des Innern und Aeussern noch nicht besonders unter-
scheidende allgemeine Empfindung.
6. Von der Empfindung kann man die Vorstellung unterscheiden,
und alsdann braucht man letzteres Wort in einem engeren Sinne als
gewöhnlich. Es ist nämlich das Auszeichnende der eigentlichen Vor-
stellung, dass sie eine räumhche oder zeitliche Beziehung in bestimmter
Weise ausdrückt. Wir stellen die Körper vor, indem wir die blossen
Empfindungserregungen, welche durch die Farbe gegeben sind, nicht
nur im Zusammenhang mit der Gestaltung, sondern auch in be-
stimmter Lage und Entfernung denken. Dieser Act des Vorstellens
beschränkt sich keineswegs auf äusserliche Wirklichkeiten, sondern
ist in ziemlich gleicher Weise auch bei der Erzeugung der Traum-
bilder im Spiele. Die anschauliche Vorstellung von einer Entfernung
ist aber weit davon entfernt, ein realer und messbarer Abstand zu
sein. Ebenso ist die Form des Anschauens, die wir Vorstellungs-
raum nennen, und in welcher sich uns die Traumbilder gleich den
Wirklichkeiten präsentiren, nicht mit der mechanischen Ausdehnung
der Materie zu verwechseln. Das blosse Bild der Materie und ihrer
örtlichen Verhältnisse ist weit davon entfernt, die Materie selbst zu
sein. Auch ist die Vorstellung von den mechanischen Kräften, also
z. B. die Widerstandsvorstellung, wie wir sie ja auch im Traume
haben können, sorgfältig von der objectiven Realität mechanischer
Beziehungen zu unterscheiden. Die Verwechselung der blossen For-
men und Eigenschaften des Bewusstseins mit derjenigen Wirklich-
keit, zu deren Ausdruck in Bildern und Gedanken sie wesentlich
bestimmt sind, ist der metaphysische Idealismus. Jedoch wäre die
Bezeichnung dieser höheren Wahnsinnsgattung als Idolismus besser
am Platze; denn das Wort Idealismus hat für das praktische Gebiet
nicht nur einen zu guten Klang, sondern auch thatsächlich eine zu
hohe Bedeutung, als dass man den Missbrauch und die Entehrung
— 145 —
desselben im theoretischen Gebiet der Wahnmetaphysik als etwas
Gleichgültiges hingehen lassen könnte.
Man hat in der Physiologie der Sinnes Werkzeuge und in der
zugehörigen innem Zergliederung des Vorgangs der Sinnesanschauung
viel Gewicht darauf gelegt, dass die unmittelbaren Erregungen^, die
sich zunächst als Empfindungen geltend machen, erst durch eine Art
von Verstandesthätigkeit zu eigentlichen Vorstellungen umgearbeitet
werden müssen. Die blosse Empfindung des Hellen ergiebt noch
keinen eigentlichen Gegenstand, und man kann auch allenfalls von
der Farbe sagen, dass die in ihr vertretene Empfindung noch nicht
die Vorstellung der farbigen Ausdehnung selbst sei. Im Ton haben
wir das strengste Beispiel von etwas, was sich der reinen Empfin-
dung als solcher am meisten nähert, insofern es am wenigsten von
eigentlichen Vorstellungen, also von Voraussetzungen über Oerter
und dingliche Gegenstände begleitet zu sein braucht. Unterscheidet
man nun das innerlich und unmittelbar Empfundene von den be-
gleitenden Orientirungsmitteln der angedeuteten Art, so wird man
allerdings in den Fall kommen, das ürtheil über die Räumlichkeit
auf einen besondern Mechanismus des Denkens zurückfuhren zu müs-
sen. Indessen hat man sich hier doch sehr ernstlich vor der Ver-
tauschung von zwei äusserlich leicht coufundirbaren Ansichten zu
hüten. Die Thatsache, dass man in einem gewissen Sinne sehen
lernen und überhaupt den richtigen Gebrauch aller Sinne erst durch
Erfahrung gleichsam einschulen muss, berechtigt noch nicht im Ent-
ferntesten zu der Annahme, dass in den Sinnen von vornherein kein
Schema gegeben sei, welches die wesentlichen Möglichkeiten des Vor-
stellens einschliesst. Es ist besonders die dritte Dimension, die bei
der Anschauung der Körper auf Rechnung eines speciellen Verstandes-
actes gesetzt wird. Nun sind alle Schätzungen der Raumg rossen,
und zwar diejenigen des Umfangs ebensogut als diejenigen der di-
recten Entfernung, im besondem Fall stets auf Vergleichungen und
irgend welche vorgängige Messungen bekannter und erprobter Ver-
hältnisse zurückzuführen. Allein die Beschaffenheit der Anschauungs-
bilder wird hiedurch nicht verändert, und diese Anschauungsbilder
selbst sind zwar auch bei dem Kinde nicht sofort in gleicher Ge-
stalt fertig, wie bei dem bereits weiter entwickelten Menschen, müs-
sen aber doch als unmittelbare Erzeugnisse der Sinnesbethätigung
betrachtet werden. Es ist nicht erst ein Ürtheil oder ein sogenannter
Schluss, welcher uns von dem Dasein einer Entfernung Kunde giebt ;
Du bring, CurBus der Philosophie. 10
— 146 —
es ist vielmehr der Mechanismus des sinnlichen Vorstellens selbst,
durch welchen die räumlichen Verhältnisse verbürgt werden. Nur
die Bestimmtheit der Messung oder Schätzung hängt von der Aus-
bildung, Uebung und Erfahrung ab. Die Einmischung des über-
legenden Verstandes ist etwas Nachträgliches, wovon die ursprüng-
liche Entstehung der Anschauungsbilder und die Vorstellung derselben
nach drei Dimensionen keineswegs abhängig ist. Will man nun etwa
das Unwillkürliche in den orientirenden Eigenschaften des Spiels der
Sinneskräffce Verstand nennen, so würde sich der Streit nicht mehr
um das Tiefere der Sache, sondern nur um die Angemessenheit des
Wortgebrauchs bewegen können. In einer weiteren Fassung des Be-
griffs haben wir ja selbst bereits der Empfindung eine Rolle zuge-
schrieben, vermöge deren sie die Auslegerin objectiver Verhältnisse
ist. Warum sollte diese Art Verständniss nicht noch weit leichter
in den orientirenden VorsteUungsthätigkeiten anerkannt werden? In
dieser Richtung läge also kein Hindemiss, die Anschauung als einen
Vorgang gelten zu lassen, durch welchen die mechanischen Aus-
dehnungsverhältnisse der Materie interpretirt werden. Jedoch grade
in diesem scheinbaren Zugeständniss liegt die Widerlegung der un-
haltbaren Ansicht, dass die räumlichen Verhältnisse nicht durch die
Sinne aufgefasst, sondern vermöge einer von den Sinnen verschiede-
nen Macht erst zu der an sich unausgedehnten ReaUtät raumloser
Dinge hinzugedacht würden. Was die Physiologie als solche be-
hauptet, ist wenigstens zum Theil ohne Bedenken annehmbar. Was
aber zu Gunsten des metaphysischen Idolismus hinzugefügt wird,
hat mit den Erfahrungsnothwendigkeiten und mit den logischen
Erfordernissen der Sinneserklärung nichts zu schaffen.
7. Die objective Bedeutung und systematische Beschaffenheit
der specialisirten Gruppe der eigenthchen und nach Aussen gekehr-
ten Sinne begreift sich leicht, sobald man die für das tiefere Denken
unumgängliche Voraussetzung macht, dass die eigenthümlichen Ge-
staltungen der einzelnen Sinnesthätigkeiten sämmtlich eine und die-
selbe Grundoperation einschliessen. Es ist die Wahrnehmung irgend
eines materiellen uud mechanischen Widerstandes sowie der Grössen-
änderungen desselben, was wir auch da als Grundform der Sinnes-
empfindung voraussetzen müssen, wo kein eigentliches Muskelgefiihl
im Spiele sein mag. Das Getast ist offenbar die unterste, aber hie-
mit auch zugleich fundamentalste Grundform der Sinnesbethätigung.
Es entspricht den grob und gleichsam massenhaft mechanischen
— 147 —
Verhältnissen der objectiven Welt, insofern dieselben durch unmittel-
bare Berührung constatirbar sind. Es gesellt sich zu ihm aber als
gleichartig alles das, was man direct als mechanischen Kraftsinn be-
zeichnen könnte. Die Empfindung des Gewichts und der Spannung,
möge sie nun von ausserleiblichen Gegenständen oder von den Leibes-
gliedem und ihren Verhältnissen selbst herrühren, ist in der ganzen
Gattung eine wesentliche Form. Der mechanische Kraftsinn ist mit-
hin die Grundlage alles Tastens, so dass die Wahrnehmung der Figur
der Körper durch tastende Umschreibung ihrer Oberflächen und
schätzende Bemessung ihrer Dimensionen bereits als ein secundärer
Act, nämlich als ein zugehöriges Vorstellen, im engeren Sinne dieses
Worts, kenntlich wird.
In der That wäre es auch ein arger Widerspruch, wenn der
Aufbau und die Einrichtung der Sinne nicht mit der Constitution
der Welt in der Artung und in den Be stand theilen zusammenträfen.
Wie die mechanischen Verhältnisse der Materie das durchgängige
Grundschema der objectiven Existenz sind und wie alle besondem
Kräfte gleichsam aus dem einen mechanischen Kraftfond schöpfen,
so muss auch die mechanische Widerstandsempfindung das letzte
Element aller Sinneswahrnehmung sein. Die Realität ist in ihrer
letzten Grundform eine mechanische. Die Auffassung dieser Realität
muss sich dadurch vollziehen, dass eine mechanische Wirkung in
Empfindung übersetzt wird. Die mechanische Gausalität der Natur-
kräfte wird in der Fundamentalempfindung so zu sagen subjectivirt.
Die Thatsache dieses elementaren Subjectivirungsvorgangs kann offen-
bar nicht weiter erklärt werden; denn irgendwo und unter irgend
welchen Bedingungen muss die bewusstlose Mechanik der Welt zum
Gefühl ihrer selbst gelangen. Es geschieht Letzteres bekanntlich
vermöge der Nerven, und Alles, was nicht Nervensystem ist, kann
als ein physikalisches Aussenwerk zur Beschaffung bestimmter me-
chanischer Erregungen betrachtet werden, die im Nervensystem selbst
ihre letzte, ebenfalls mechanische, aber sich mit Empfindung ver-
bindende Form gewinnen. Es giebt also kein Theilchen des Leibes,
welches nicht mechanisch afficirt würde. Mit der Wirklichkeit aller
Dinge hängt unser organisirter Körper dadurch zusammen, dass sein
mechanischer Zustand stets ein Theilzustand der universellen Mechanik
des Kosmos ist. Die Bewegungen innerhalb des grossen Körpers,
den wir Natur oder Welt nennen, gestalten sich in dem kleinen
Körper, welcher der unmittelbare Träger unseres Bewusstseins ist,
10*
— 148 —
zu einer besondern Actionsgruppe, und die Zustände gewisser Theile
dieser letztem Gruppe finden sich mit einem subjectiven Gefühl ihrer
selbst ausgestattet. Der Krafteinheit muss nun, wie gesagt, eine
Sinneseinheit gegenüberstehen, und wie sich die volle Wirklichkeit
durch reale Kräfte charakterisirt, so wird auch die Wahrnehmung
des Wirklichen nicht blos von dem finiher erwähnten Leitfaden der
Materialität, sondern direct von der Kette der mechanischen Causa-
lität abhängen.
Diese letztere. Nothwendigkeit drängt uns eine Vorstellungsart
auf, die in der Physiologie bisher noch nicht vertreten war. Wir
müssen nämlich auch bei den höchsten Sinnesoperationen etwas dem
Tasten Analoges annehmen und in ihnen als Grundform einen me-
chanischen Kraftsinn in der strengsten Bedeutung des Worts zu-
lassen. Es ist nicht genug, dass man von Erzitterungen der Nerven-
enden und von deren Fortpflanzung rede; es ist nicht genug, dass
man z. B. die mechanischen Affectionen der Netzhautgebilde als Wir-
kungen der Aetherbewegung ansehe; — man muss auch in subjec-
tiver Hinsicht einen entsprechenden Schritt thun und sich vorstellen,
dass der Act des Sehens mit dem des tastenden Fühlens gleichartig
ist und eben nur über ein besonderes Gebiet der universellen Me-
chanik Aufschlüsse ertheilt. Auch in dem Sehact ist die Widerstands-
empfindung die Grundform, und der Umstand, dass sie für das Be-
wusstsein einen andern Charakter hat, als die Ergebnisse des Wagens
und der eigentlichen Muskelaction, darf uns nicht überraschen. Das
Specifische der Sinnesenergien, auf welches sich einige Physiologen
an Stelle einer wahren Erklärung der Zusammensetzung berufen, ist
nichts als ein Ausdruck der Unkunde bezüglich des einheitlichen
Systems, welches durch alle Sinnesformen hindurchgeht. Uebrigens
beruht aber die wahre Specification auf der Einrichtung der Sinnes-
organe für einzelne materielle Medien. Die Tonempfindung bezieht
sich unmittelbar auf Erzitterungen, die normaler Weise von der Luft
her übertragen werden, oder, genauer ausgedrückt, die Erzitterungen
im Bereich des Luftmeeres sind der eigentliche Gegenstand, zu dessen
Wahrnehmung das Gehör bestimmt ist. Hieraus folgt unmittelbar
die geringe Tragweite dieses Sinnes, der für das Verständniss der
Wesen unter sich und für die Aufmerksamkeit auf die nächste Um-
gebung Alles, übrigens aber für die umfassendere Welt Nichts ist.
Die falsche physikalische Vorstellung, als wenn diejenige Ma-
terie, deren mechanischer Beweguugszustand das Licht und dessen
— 149 —
kosmische Allgemeinheit ergiebt, etwas völlig Eigenartiges wäre, was
den Gesetzen der übrigen Materie nicht unterworfen werden dürfte,
hat auch die Ansichten über das Sehen nach der Seite des Idolismus
hin gefälscht. Die Berkeleyschen Cruditäten würden, ich will nicht
sagen in der Philosophasterei (denn dorthin gehören solche Unge-
reimtheiten nach altem und neuem Recht), sondern in der Optik
keine Liebhaber finden, wenn nicht die physikalische üeberlieferung
noch einigermaassen an den Nachwirkungen unmaterieller und unme-
chanischer Vorstellungsarten kränkelte. Namentlich ist es das meta-
physisch etwas anrüchige Zwittergebiet der physiologischen Optik,
was den logischen oder vielmehr unlogischen Pfuschereien bequeme
Handhaben darbietet.
8. Besässen wir bereits eine hinreichende Kenntniss von der
Stufenfolge im Kräftesystem der Natur, so würden wir auch die Be-
sonderheiten in der Lagerung und Schichtung der verschiedenen
Sinnesgebilde näher angeben können. Für jetzt müssen wir uns mit
der Voraussetzung begnügen, dass keine besondere Sinnesgattung
existirt, der nicht eine Kraftform oder materielle Eigenschaft in der
Natur entspräche. Der umgekehrten Annahme, dass sich jede we-
senthche Grundform der Naturschematik in einer Sinnesgattung sub-
jectivirt finden müsse, können wir uns insofern nicht entziehen, als
vollkommene Wesen und eine vollkommene Erkenntniss in Frage
sind. In der That können diejenigen Kräfteformen, die sich in
einem universell erkennenden Wesen, wie es der Mensch ist, nicht
mit besondern Auffassungsorganen ausgestattet finden, nur von
zweiter Ordnung und nicht von elementarer sondern erst von indi-
recter Wirksamkeit sein. Jedoch dürfen wir in dieser Richtung die
besondem Fälle nicht zu rasch entscheiden wollen; denn wie wenig
wissen wir z. B. über den Wärmesinn in der Haut? Niemand kann
bis jetzt angeben, wieweit die elektrischen Kräfteformen und Zustände
der Natur in der Fundamentalmechanik der dumpferen oder auch
der höheren und höchsten Sinneswahrnehmungen eine Rolle spielen,
oder wieweit überhaupt das Grundphänomen aller Empfindung von
jenen antagonistischen Regungen abhängig sei.
Die Function der Sinne ist in der streng wissenschaftlichen Be-
deutung des Worts eine mechanische Arbeit. Die Vermittlung der
Erkenntniss durch diese Arbeit hängt davon ab, dass der ganzen
objectiven Schematik der Natur ein subjectives Vorstellungssystem
entspreche, welches sowohl in den Elementen als in den zusammen-
— 150 —
gesetzten Gebilden mit der äussern Wirklichkeit in Beharrung und
Veränderung zusammenstimmt. Es braucht nicht in jedem niedrig-
sten Wesen Alles in Vorstellung verwandelbar zu sein; aber was
irgendwo und irgendwie in ein subjectives System übergeht, muss
auch äusserlich in der Natur eine in sich zusammenhängende und
selbstgenugsame Gruppe von Grundlagen alles Seins bilden. Es ist
nicht ausgeschlossen, dass sich über diesen Grundlagen noch höhere
Gebilde aufrichten, deren volles Wesen nicht in die Wahrnehmung
niederer thierischer Bewusstseinsformen eingehen kann. Hieraus folgt
aber nur, dass der subjective Apparat einer Steigerung fähig ist, die
der Stufenfolge der Wirklichkeiten entspricht. Im absolut Funda-
mentalen müssen die Auffassungen aller Wesen einheitlich und ge-
meinschaftlich sein, wie es die Natur selbst ist. Die Schematik der
Sinne wird daher stets ein Ausdruck der Stufenfolge der Natur-
schematik und mithin der Grundeigenschafteu aller wirklichen und
möglichen Existenz sein müssen. Ja sogar das, was eine oberfläch-
liche Beurtheilung blos als willkürliches Merkzeichen der objectiven
Elemente ansehen könnte, nämlich die rein subjective, äusserlich
nicht noch einmal vorhandene, also ausschliesslich empfundene oder
vorgestellte Beschaffenheit des Erscheinens der einzelnen Bewusst-
seinsbestandtheile darf nicht wie ein zufälliges Alphabet angesehen
werden, das sich in andern Wesen mit einer fundamental abweichen-
den Schreibart vertauscht finden könnte. Wie Lust und Schmerz in
der Innerlichkeit der Empfindung überall und durchgängig die näm-
Hchen Gefühlsbestimmungen sind, und wie es thöricht sein würde,
das leere Wort und die völlig hohle Begriffschaale einer andern
Empfindungsspaltung oder eines andern fundamentalen Gefühl sinhalts
für eine Einsicht oder auch nur für die Anweisung auf eine mög-
liche Einsicht ausgeben zu wollen, so ist es auch eine arge Gedanken-
losigkeit, zu meinen, die subjective Vorstellung von der Bewegmigs-
erscheinung oder von einem Sinneseindruck könnte in audera
Subjectivitäten durch beliebige, für uns unbestimmbare Mittel der
Bewusstseinsgestaltung ersetzt werden. Wie uns zu Muthe ist und
wie uns die Dinge erscheinen, kann freilich in der Specialisiruug
des Bewusstseins anderer Wesen für die besondem Züge und Zu-
sammensetzungen nicht unmittelbar maassgebend sein; allein die
Elemente alles innerlichen Befindens und aller Beschaffenheiten des
subjectiven Vorstellens müssen sich als einerlei erweisen. Fehlt ims
auch in der bisherigen Wissenschaft noch das allgemeine Gesetz,
— 151 —
nach welchem der reale Vorgang unter bestimmten Bedingungen
zur Bildung der Subjectivität und der einzelnen subjectiven Elemente
führt, so ist doch die zwingende Nothwendigkeit offenbar, um der
einheitlichen Systematik willen das Reich des Subjectiven nicht blos
in sich überall mit sich selbst analog, sondern auch als eine einheit-
liche Hervorbringung aus dem allgemeinen Natursein zu denken.
Diese einheitliche Hervorbringung muss nun aber das Sein vollständig
decken, und dies wäre nicht möglich, wenn es noch einen zweiten
Weg der Natur gäbe, zur Selbstempfindung ihrer Elemente zu ge-
langen. Der Unterschied zwischen zwei Arten, denselben elemen-
taren und schematischen Vorgang in ein Bewusstseinselement zu
verwandeln, würde nur darauf beruhen können, dass für das eine
Mal etwas subjectiv weggelassen wäre, was in dem andern Fall zum
Ausdruck gelangt ist. Eine solche Voraussetzung widerspräche aber
der absoluten Einfachheit, die wir für das objective wie für das sub-
jective Element angenommen haben und die in dem Begriff des Ele-
mentes selbst liegt. Es kann sich also zu dem elementaren Schema
der Wirklichkeit auch nur ein einziges Elementargebilde der Sub-
jectivität gesellen. Diese elementare Verbindung selbst muss aber
als Fundamentalthatsache gleich einem realen Axiom gelten.
Z-^^eites Oapitel-
Triebe und Leidenschaften.
Wenn die Sinneswerkzeuge vornehmlich auf die Vermittlung
der Erkenntniss eingerichtet sind, so hat das System der Triebe
und Leidenschaften in seiner äussern Bestimmung wesentlich solche
Functionen, die auf das Handeln abzielen. Die theoretische und die
praktische Verrichtung mischen sich indessen in irgend einem Ver-
hältniss in jeder Empfindung. Es giebt nämlich unter den im Be-
wusstsein vorhandenen Gattungen keine einzige, welche uns nicht
Etwas über bestimmte reale Beziehungen unseres eignen oder des
Körpers der Welt lehren könnte, oder mit welcher sich nicht auch
irgend eine treibende Kraft zu irgend einer, sei es blos organischen
oder nach Aussen gerichteten Thätigkeit verbunden finden müsste.
In den eigentlichen Sinnen, wie z. B. im Sehen, kann ein Trieb zur
— 152 —
Bethätigung derselben nicht geleugnet werden, und mit den eigent-
lichen Triebempfindungen ist zugleich in einem und demselben Ge-
fühl die Erkenntniss von einem Mangel und von dem, was natur-
gemäss sein soll, innig verbunden. Man könnte in der letzteren
Beziehung nicht etwa blos behaupten, dass in den Trieben ein ge-
wisses Maass unmittelbarer, nicht auf Ueberlegung beruhender Ver-
nunft sei, sondern sogar, dass die Vernunft in ihren höheren
Steigerungen gar keine andere Grundlagen und für ihren Inhalt
keinen andern Ausgangspunkt habe, als die triebförmigen Noth-
wendigkeiten. Die letzteren sind nun allerdings nie ohne innere
oder äussere Reize vorhanden, und so muss man denn sagen, dass
die Energie der Sinne, die nach Bethätigung verlangt, nur an und
mit den Reizen wahrnehmbar werde. Hören diese Reize völlig auf,
so muss das Spiel der Sinne auf die Dauer ebenfalls zurücktreten,
gleichsam einschlafen und schliesslich absterben. Die Functionen
sind es also, vermöge deren das ganze System der Fähigkeiten, auf
die Natur zu wirken und deren Verhältnisse zu deuten, in leben-
diger Leistungsfähigkeit erhalten wird. Sinne, die nicht gehörig
bethätigt werden, müssen mit der Zeit verkümmern und in der Ab-
folge der Generationen fast zu einem Nichts einschrumpfen. Triebe
und Leidenschaften, für welche keine objective Erregungen statt-
haben, werden im Laufe der Zeit nicht blos in den Hintergrund ge-
drängt, sondern gradezu entwurzelt werden müssen.
Nun haben allerdings die äussern oder innem Reize, die nichts
als eine Art der allgemeinen Naturcausalifcät sind, ihre unverbrüch-
liche Gesetzmässigkeit und ein gewisses Maass normalen Bestandes.
Auch die Einrichtung der die Triebe empfindenden Wesen ist so be-
schaffen, dass deren wesentliche Natur selbst untergehen müsste,
wenn das System der erforderlichen triebförmigen Determinationen
verschwinden sollte. Es ist mithin dafür gesorgt, dass die objective
Welt mit ihren Reizen und die subjective Welt mit ihfer Vielheit
strebender Wesen stets einen gemeinsamen Bestand an Erregungen
und Erregbarkeiten aufweisen. Was innerhalb dieses Bestandes an
Wandlungen mit der allgemeinen Constitution der Welt und den
maunichfaltigen Ichbildungen verträglich ist, mag sich in der Ent-
wicklung vollziehen und sowohl in Ausmerzungeu als in Bereiche-
rungen von Triebformen und Leideu Schaftsgattungen zeigen. Wir
dürfen aber hieraus nicht den Schluss ziehen, dass wir ganze Classen
von Trieben und Leidenschaften, die von einer kurzsichtigen und
— 153 —
beschränkten Moral in scheinheiliger Weise geächtet werden, aus
der menschlichen Natur verbannen oder aus irgend einer analogen
Wesensform im Kosmos wegdenken könnten, ohne die unumgäng-
lichen Nothwendigkeiten alles Lebensspieles zu verleugnen.
Die Triebe sind nichts weiter als Triebkräfte, zu denen sich
eine Empfindung und zwar derartig gesellt, dass diese Empfindung
selbst das Mittel wird, durch welches die Natur zu einer bestimmten
Function antreibt. Als Grundlage mag man sich also immerhin
einen bewusstlosen Mechanismus denken; die eigentliche Leitung der
weiteren Thätigkeit wird trotzdem durch das rein Subjective des Ge-
fühls bewirkt. Hierin liegt die Kluft zwischen der Nacht eines aus-
schliesslich objectiven Vorgangs und dem Licht einer subjectiv be-
wussten Thätigkeit. Das Empfindungsgefuhl hat selbst alle diejenigen
Eigenschaften, durch welche die Wesen zu dem ihrer Natur ent-
sprechenden Thun augetrieben werden. Der Antrieb liegt also in
der Empfindung und nicht vor der Empfindung; denn diejenige
Triebkraft, welche vor der Empfindung ins Spiel gesetzt wird, um
die noch nicht vorhandene Empfindung oder den noch erst hinzu-
zuftigenden Bestandtheil derselben hervorzubringen, gehört dem rein
objectiven Mechanismus an und unterscheidet sich ftmdamental in
nichts von den motorischen Mitteln unserer Maschinenmechanik,
lieber die Art, wie der gesammte Naturmechanismus zu denken sei,
ohne nach der Analogie unserer Maschinen die Hineinlegung eines
ft-emden Verstandes voraussetzen zu müssen, lässt sich bei dieser Ge-
legenheit in Kürze an nichts weiter erinnern, als dass ohne Empfin-
dung dennoch in den Dingen eine Selbstbestimmung zur mechani-
schen Action vorhanden sein müsse. Wenn sich ein bewusstes Ding
vermöge der Empfindung zu bestimmten Bewegungen angetrieben
findet, so kann bei dem bewusstlosen Dinge eine in der Form über-
einstimmende aber nicht durch Empfindung vermittelte, trotzdem
aber aus ihm selbst oder überhaupt aus dem System der Dinge ent-
springende mechanische Action völlig rationell vorausgesetzt werden.
Wenn die Welt oder das Ganze des Seins nicht etwa als eine schliess-
lich ablaufende und in das absolute Nichts mündende und sich selbst
sammt ihrem Material zerstörende Maschine gedacht werden soll,
was eine offenbare Absurdität sein würde, so muss nicht blos das
heutige Dasein, sondern der ursprünglich mit keinem zählbaren
Wechselspiel behaftete Zustand der Materie die Kräfte in sich ge-
tragen haben, vermöge deren die zeitliche Abfolge mechanischer
— 154 —
Rhythmen zur SelbstvoUziehung gelangt ist. Uebrigens würde zu
einer absoluten Selbstzerstörung, die das Material mitbeseitigte, nicht
weniger eine ursprünglich und radical eigne Kraft der einzelnen
Dinge und ihres Systems gehören, als zu der ähnlichen Widersinnig-
keit einer absoluten Selbstschöpfung aus Nichts. Die den Dingen
eigne Selbstmechanik, die von ausserhalb des Systems nichts bedarf,
geht über die bisherigen Analogien der menschlichen Maschinen-
mechanik hinaus und muss dies auch, da jede Construction, die wir
entwerfen, in ihrer Möglichkeit nur darauf beruht, dass sie ein Theil
in dem universellen System ist, in welchem sowohl die gewöhnlichen
Naturkräfte als unser technischer Verstand die Rolle von blossen
Mitteln spielen. Wir legen also den individuellen Theilchen der
Materie vor allen übrigen Actionen auch die Trägerschaft aller me-
chanischen Beziehungen und die Eigenschaft bei, der zureichende
Ausgangspunkt eines universellen Selbstmechanismus zu sein, der in
den empfindenden Wesen auch diejenigen Triebkräfte liefert, die wir,
insofern sie von Empfindung begleitet sind, im eigentlichen Sinne
des Worts Triebe nennen.
Bei der Besprechung der Empfindung und der Sinne konnte
uns, da es sich mit Rücksicht auf die Sinne zunächst um Erkennt--
niss handelte, die Naturmechanik nur insoweit eine Aufklärung ver-
schaffen, als sich auch im Subjectiven der durchgängige Antagonis-
mus von Kräften als Grundgestalt zeigte. Jetzt haben wir es mit
einem Gegenstand zu thun, welcher der praktischen Mechanik weit
näher liegt, da nicht blos die Erkenntniss sondern die Wirksamkeit
in Frage kommt. Was die Wesen nach Maassgabe ihrer Empfin-
dungen thun können and müssen, das wird durch die triebförmigen
Anregungen bestimmt. Wir bedürfen also, wie schon bei Erörterung
des Darwinismus angeführt wurde, nicht der nebelhaften Vorstellun-
gen von sogenannten Instincten ; sondern es wird im Gegentheil jede
Erklärung illusorisch werden, die sich auf Instincte benift, wenn
der mit diesem Wort verbundene Begriff sich nicht klar und deut-
lich in objectiven Mechanismus und in eine ausserdem vermittelnde
Triebempfindung subjectiv bekannter Art auflösen lässt.
2. Solange man zwischen Thier und Mensch die Gemeinschaft^
lichkeit eines Grundschema in der Einrichtung des Bewusstseins
leugnete, war es eine Art Fortschritt, wenn man eine instinctive
Thätigkeit auch bei dem Menschen anzuerkennen anfing. Das Thema
von dem Instincte im Menschen war in der That sehr geeignet, über
— 155 —
den unterbau des überlegenden Verstandes zu erheblichen Auf-
schlüssen zu fuhren. Vollständig können aber derartige Einsichten
erst werden, wenn man die thierischen Instincte, die man im Men-
schen nachgewiesen hat, nun auch selbst wiederum aus dem mensch-
lichen Wesen deuthcher, und hiemit die unbestiromten Vorstellungen,
die sich bisher an das Wort Instinct und an die entsprechende Gruppe
von Thatsachen geknüpft haben, ganz und gar entbehrlich macht.
Die Wirkungen aller Instincte, seien es eigentliche Kunsttriebe,
blosse Wahrnehmungen oder sonstige Anregungen des Verhaltens,
müssen darauf beruhen, dass in einer Empfindung, also in der Ge-
stalt eines Reizgefühls, Richtung und Weg der Thätigkeit unmittel-
bar vorgeschrieben werden. Die Unmittelbarkeit dieser Anregungen
zu einem bestimmten Verhalten wird darin bestehen, dass die Ver-
mittlung durch ideelle Conceptionen fehlt, die sich in der Form des
überlegenden Verstandes auf etwas in der Zukunft oder in räum-
licher Entfernung Liegendes beziehen. So kann das sogenannte
Wittern einer Wetterveränderung, die z. B. erst nach einem Tage
oder einer Anzahl Stunden eintritt, offenbar nicht als eine Vorweg-
nahme des Zukünftigen nach Art der Voraussicht durch Anschauungs-
vorstellungen, also nicht durch eine auf Erfahrung beruhende Ver-
knüpfung ideeller Conceptionen, sondern nur als eine Auslegung
gegenwärtiger meteorologischer Vorgänge erklärt werden. Das Zu-
künftige wird hier gar nicht erschlossen, weil es überhaupt selbst
nicht den Gegenstand bildet, der in Empfindung übersetzt wird. Es
sind nur die Vorbereitungen des zukünftigen Zustandes, die sich in
den subjectiven Erregungen ankündigen. Es sind die ersten, übrigens
nicht weiter wahrnehmbaren Einleitungen einer sich später vervoll-
ständigenden Veränderung, durch welche die Sphäre der allgemeinen
Empfindung oder besondere animale Organe in Mitlei deuschaft ver-
setzt werden. Auch der Antrieb, den die Zugvögel empfinden, die
Klimate regelmässig zu vertauschen, ist als ein Empfindungsreiz zu
denken. Wieviel Antheil hiebei die bewusste, auf Erfahrung be-
ruhende Vorstellung habe, kann dahingestellt bleiben; denn selbst
die Auflösung dieses Instinctes in eine Vergesellschaftung von Er-
fahrungsanschauungen würde die Grundwahrheit nicht umstossen.
Diese fundamentale Wahrheit besteht in dem Satze, dass es stets
nur das unmittelbar, nämlich zeitlich und räumlich Gegenwärtige
ist, was den Reiz ausübt und in eine Empfindung übersetzt wird.
Eine Wirkung aus der Zukunft in die Gegenwart wäre die wider-
— 156 —
sinnigste Ungereimtheit, und dennoch verfallen diejenigen, welche
die Vorgefühle in roher und leider noch immer populärer Weise
auffassen und auslegen, regelmässig in jene Absurdität.- Das Zu-
künftige muss, um für ein empfindendes Wesen in der vorwegnehmen-
den Anschauung dasein zu können, erst aus einer Wirkung, die sich
in der Gegenwart vollzieht, als Vorstellung construirt werden. Es
kann daher keinen Verkehr mit der Zukunft geben, der nicht aus
einer Anregung stammte, die bereits zum Theil vergangen sein muss,
ehe sich daran eine Voraussicht knüpfen kann. Das Vorstellen ist
es also, was uns die möglichen Züge der Zukunft erschliesst, indem
es mit den Bildern nicht blos der thatsächlichen Vergangenheit,
sondern auch mit den Elementen dieser Bilder operirt. Die Phan-
tasie reicht mithin in die Zukunft, indem sie das leitende Empfin-
dungsmaterial aus der Gegenwart, die entsprechenden Elementarbilder
aber auch aus der Vergangenheit entnimmt. Sieht man von der
bewussten Vorstellung ab, so bleibt die vorstellungslose Wirklichkeit
übrig, und diese ist an sich selbst und fär uns stets nur eine Gegen-
wart. Alle Causalität und mithin auch diejenige, aus welcher die
Vorstellungen entspringen, muss in einem solchen Gegenwartspunkte
concentrirt sein; denn wäre sie dies nicht, so würde sie überhaupt
gar nicht etwas Reales sein können. Ja selbst das Ideelle, welches
seinem Gegenstande nach eine Beziehung auf die Zukunft oder Ver-
gangenheit hat, wurzelt an sich selbst in einer unmittelbar gegen-
wärtigen Erregung, die als solche eine volle Wirklichkeit hat, wäh-
rend das Zukünftige oder Vergangene stets nur den Charakter einer
phantasiemässigen Vorstellungswelt aufweisen kann. In den soge-
nannten Instincten kann hienach nie etwas hegen, was nicht in der
Form der Gegenwärtigkeit verursacht oder motivirt wäre. Es ist
eine superstitiose Einbildung, wenn man eine reale Wirkung aus
zeitlicher Ferne annimmt. Die Vermittlung durch die Vorstellungs-
bildung ist der einzige Weg, auf welchem sowohl das Reich der
ideellen Rückerinnerung als die Sphäre der Zukuuftsanticipationen
zu Stande kommt.
In der Bewusstseinslehre können besondere Instincte, die sich
nicht auf die schematischen Elemente aller Empfindung und Vor-
stellung zurückführen lassen, nur als willkürliche Einbildungen gelten,
die sich bei strengerer Untersuchung als unmögliche Ungereimtheiten
erweisen. Die Sphäre unserer inneni Gefühle ist der Schlüssel für
alle Elemente animalischer Subjectivität. Was sind nun die sog©-
— 157 —
nannten Instincte in uns selbst? Offenbar nur Anregungen in Trieb-
form oder, wenn es sich um das instinctive Wissen handelt, solche
Wahrnehmungen, deren Inhalt und Bedeutung nicht wesentlich von
der gewöhnlichen Sinnesauffassung und verstandesmässigen Ueber-
legung herzurühren scheint. Sobald wir die sinnenmässigen En*e-
gungen in ihrer ganzen Weite und Feinheit genauer untersuchen,
werden wir stets finden, dass es in uns keine Antriebe oder Erkennt-
nissformen giebt, die räthselhafter wären, als Hunger und Geschlechts-
trieb oder als Sehen, Hören und Lust- oder Schmerzgefühl. Was
man sich als dämonisches Element unbestimmbaren und dunklen
Ursprungs vorgestellt hat, ist nichts weiter als das Ergebniss einer
schwerer bioszulegenden Zusammensetzung bekannter Triebe uad
Affecte. Auch die dunklen Regungen von scheinbar grundlosen und
oft mystisch gedeuteten Sympathien und Antipathien lassen sich in
entlegene Verknüpfungen von Empfindungen und in einen Trieb-
schematismus auflösen, der uns in seinen gröberen Gestalten völHg
geläufig und kein Gegenstand superstitioser Verwunderung oder Ge-
heimnissthuerei zu sein pflegt. Neigung und Widerwille sind meist
vorhanden, ohne dass man sie in ihre Bestandtheile zergliedert, auf
ihre besondern Theilursachen zurückfuhrt und sich ein mit Unter-
schieden bereichertes Bewusstsein davon bildet. Wenn man die Ab-
neigung gegen eine Person oder die Besorgniss vor der Einlassung
auf eine bestimmte Handlung instinctiv nennt, so kann man ratio-
neller Weise hiemit nichts Anderes sagen wollen, als dass man im
Bereich der Gefühle einen Antagonismus verspürt, dessen besondere
Mechanik zu verwickelt und dessen constitutive Bestandtheile zu ge-
mischt und verhüllt sind, um für das unmittelbare Bewusstsein ohne Wei-
teres in den Einzelheiten und Gründen verständlich werden zu können.
3. Es giebt im animalischen Wesen überall und durchgängig
einen Unterbau von nothwendigen Trieben, über dem sich die Affecte
als eine besondere Gruppe von Gebilden aufgeführt finden. Jenes
Fundament zeigt zwei Hauptgestalten, nämhch einerseits die Triebe,
welche das Ernährungsbedürfniss ausdrücken, und andererseits jene
Reizempfindung, durch welche zur Fortpflanzung angeregt wird.
Hunger und Durst sowie der Geschlechtstrieb bilden die unumgäng-
Hchen Attribute aller uns innerlich in ihrer Empfindung verständ-
lichen Animalität. Die hohe Veredlung, deren besonders die Ge-
schlechtsempfindungen in dem höher entwickelten Menschenwesen
fähig sind, darf uns auf der untersten Stufe der Werthschätzung
— 158 —
nicht irre machen. Auch Angesichts der leidenschaftlichen Geschlechts-
liebe haben wir es dem Kerne nach mit jenem fundamentalen Triebe
zu thun, und selbst der Enthusiasmus, mit welchem die am edelsten
gestalteten Geschlechtsaffecte auftreten, ist nur eine Form, in welcher
die auf die idealere Seite des Menschlichen gerichteten Geschlechter-
beziehungen empfunden und vorgestellt werden. Wenn schon zwi-
schen Trieb und Trieb in der rein animalen Bedeutung, also nament-
lich in den Variationen und Veredlungen des unmittelbaren Lust-
gefühls, ein gewaltiger Unterschied herrscht, so müssen die dem
Geschlechtsact femerliegenden Affectionen um so mehr die mannich-
faltigsten Schattirungen annehmen und die wichtigsten Bereicherun-
gen durch idealere Erregungen erfahren können. Die Compositions-
methode, welcher hier die Natur in der Hervorbringung der höchsten
Lebensgefühle folgt, lasst sich zwar noch nicht anatomisch sichtbar
machen, ist aber in ihren Ergebnissen hinreichend angedeutet. Der
blosse Trieb in seiner untersten Gestaltung bildet immer die Grund-
lage, mit deren Wegziehung auch alles Uebrige zusammenfällt.
Wir betrachten die Triebe meistens als Veranstaltungen der
Natur zur Sicherung solcher Thätigkeiten , deren Bewerkstelligung
den Weg durch ein Bewusstsein nehmen und von dem Wollen eines
empfindenden Wesens abhängig werden soll. Nun lassen sich Er-
nährung und Vermehrung, wie das Pflanzenreich zeigt, auch ohne
eigentlichen und mithin empftindenen Trieb sehr wohl vermitteln.
Hieraus folgt, dass nicht blos das Empfinden überhaupt, sondern
auch speciell das Empfinden der Triebe um seiner selbst willen vor-
handen ist. Wäre nämlich nur die Erzielung einer äussern Ver-
richtung, wie des Stoffwechsels oder der Vervielfältigung, der ent-
scheidende Grund zu den Einrichtungen, so hätte sich die Natur
den Luxus der Triebempfindungen erlassen können, zumal mit dieser
neuen Schöpfung des Subjectiven auch die lästige Nothwendigkeit
eintritt, in die zu empfindenden Antriebe zu einem wesentlichen
Theil unangenehme Erregungen aufzunehmen. Wir können daher
mit aller Bestimmtheit davon ausgehen, dass die Triebempfindungen
nur nebenbei auch zu Mitteln für einen sonst auch ohne sie erreich-
baren Zweck gemacht, in der Hauptsache aber um der Befriedigung
willen geschaffen worden sind, die mit ihrem Spiel verbunden ist.
Die mit ihnen verbundene Lust ist der offenbare Selbstzweck und
die sie begleitende Unlust muss als ein unumgänglicher Bestand theil
der nothwendigen Verfassung einer solchen Empfindungssphäre an-
— 159 —
gesehen werden, wie sie sich unter Voraussetzung des zu Grunde
liegenden empfindungslosen Schematismus der Dinge construiren
liess. Warum aber dieser Schematismus und die Natur überhaupt
den antagonistischen Charakter haben und ein Stufensystem des
Mangels darstellen musste, dafür dürfte wiederum der Schlüssel weit
leichter in dem nofch wendigen Wesen der Triebempfindung selbst,
als irgendwo anders, gefunden werden. Die Reize eines Lebens-
spieles lassen sich, wie wir unsere Phantasie und unser Denken auch
wenden mögen, nie und nirgend anders hervorgebracht denken, als
durch die entsprechende Schöpfung von Bedürfnissen und Befriedi-
gungskräften. In den empfundenen Antrieben haben wir nun die
Grundlage von Beidem; wir haben den Mangel und den Sporn zur
ausgleichenden Thätigkeit. Bedürfniss und Arbeit gehen Hand in
Hand ; denn schon die Functionen der Organe, die den Stoff aneignen
und umbilden, können als Leistungen von Arbeit, nämlich von phy-
siologischer Arbeit, angesehtn werden. Weiterhin darf man aber
nicht bei dieser ersten Verbindung des Bedürfnisses mit der Arbeit
stehen bleiben, sondern muss von dem Grundgerüst der gemeinsten
Triebe aus die Arbeits- und Machtentfaltungen verfolgen. Die Natur
hat es in ihrem grossen Arbeitssystem überall auf die Ueberwindung
von Hindernissen abgesehen, die Befriedigungen und Genüsse aber
offenbar nicht ohne die vorgängigen Bedürfhisse und diese wiederum
nicht ohne das Dazwischentreten eben jener Hindernisse und Tren-
nungen erzeugen können.
4. Wenn die Triebe um der sie begleitenden Empfindung willen
hervorgebracht sind, so folgt hieraus keineswegs, dass ihre Bezie-
hungen zu den ausser ihnen liegenden Naturzwecken nur eine geringe
Bedeutung haben. Die Natur ist eine Art Kreissystem. Sie entwirft
die gegenständlichen und empfindungslosen Vorbedingungen einer
empfindenden Wesensgruppe. Sie vollzieht gleichsam den Bau der
gegenständlichen Welt, um in gewissen Körpern empfindende Punkte
und ein subjectives Reich aufleuchten zu lass'en. Wenn nun auch
dieses letztere ihr höchster Zweck ist, so muss sie doch immer wieder
von Neuem die gegenständhche Welt in Ordnung halten, und dies
kann nicht anders geschehen, als indem auch die Empfindungen
selbst den äusseren Zwecken durch Anregung bestimmter Verrich-
tungen dienstbar werden. Die Aeusserlichkeit der Erfolge ist hiebei
nur ein Durchgangspunkt, um die innere Welt der Empfindung zu
fördern. Die Triebe sind daher im Allgemeinen nur Mittel für solche
— 160 .—
Zwecke, die wiederum Mittel zur Bereicherung der Empfindungswelt
werden. Man muss sich daher des Vorurtheils entäussern, als wenn
Hunger und Durst oder Geschlechtstrieb nur dazu dawären, das che-
mische Gleichgewicht der Blutmischung oder die Forterhaltung der
Art zu sichern. Man darf jedoch mit der Ablegung dieses Vorurtheils
nicht etwa wähnen, über die hochwichtigen Zweckbeziehungen hin-
wegsehen zu können, vermöge deren jeder besondere Trieb nach
Aussen eine entscheidende Function zu üben hat. Angesichts der
Einheit und Einstimmung des objectiven und subjectiven Systems
wird man sogar die Natürlichkeit der Triebgestaltung nach der Art
und dem Grade beurtheilen können, in welchem die äusseren Natur-
zwecke gesichert sind. Man wird diejenigen Triebgebilde als Ver-
irrungen bezeichnen, bei denen eine Entfernung von dem Naturzweck
unverkennbar ist, wie z. B. bei dem Cultus von Geschlechtsempfin-
dungen und entsprechenden Leidenschaftsregungen zwischen Personen
desselben, sei es des männlichen, sei e» des weiblichen Geschlechts.
Der tiefere Grund für die Verwerf Hchkeit solcher, sogar selbst in
einem gewissen Sinne naturwüchsiger Triebgebilde, liegt jedoch
keineswegs in ihrer gegenständlichen Nutzlosigkeit; vielmehr ist
diese Nutzlosigkeit oder Schädlichkeit nur ein Merkmal, dass von
derjenigen Ordnung der Dinge abgewichen ist, die allein dauernd
auch die subjective Befriedigung der Empfindung sichern kann. Die
Technik der Natur würde an sich selbst eine theilweise Störung ver-
tragen ; aber es stehen hier höhere Interessen auf dem Spiele, indem
die Harmonie der Empfindungen selbst durch solche fehlerhafte Ab-
schweifungen beeinträchtigt und schliesshch in unerträglichen Wider-
streit verwandelt werden muss. Allerdings sind die fraglichen, vor-
zugsweise als griechisch und antik bekannten, übrigens aber bei
allen Völkern und zu allen Zeiten mehr oder minder vorgekomme-
nen eingeschlechtigen Regungen offenbar selbst sehr begreifliche
Naturerzeugnisse; aber eben hieraus können wir die Compositions-
schwächen oder, mit andern Worten, die Nothwendigkeitsschranken
in den Operationen der Natur um so besser kennen lernen. Die
Ablenkung des Geschlechtstriebes in seinen niedern Gestaltungen
sowie der leidenschaftlichen Geschlechtsaffecte in ihren höheren enthu-
siastischen Formen auf Individuen gleichen Geschlechts lässt sich
rein ursächlich als eine Wirkung der gewöhnlichen geschlechtlichen
Anordnungen der Natur erklären. Die Triebempfindung musste an
bestimmte äussere Reize geknüpft werden, und es war nicht zu ver-
— 161 -
meiden, dass sich etwas den normalen Reizen Gleichartiges unter
besondem Umständen für die körperliche und geistige Beschaffen-
heit beider Geschlechter verwirklichte, zumal wenn man die Unter-
schiede der Altersstufen und der Charaktere in Anschlag bringt.
Auch die Verzerrungen, die in diesem Gebiet entstehen, sind als
Fehlgriffe anzusehen, die der Natur selbst nicht völlig fremd bleiben.
Schliesslich ist die Natur selbst in ihrem Gesammtentwurf auch die
entferntere Ursache aller Ab- und Ausschweifungen, und wo wir
vom Widernatürlichen reden, haben wir uns schon einen normalen
Typus gebildet, der allerdings den allgemeinen Verfahr ungsarten
der Natur entspricht, aber wohlgemerkt derjenigen Natur, die schon
durch unsem Verstand von zufälligen und missliebigen That Sachen
entkleidet und aus dem Gesichtspunkt des harmonischen Wollens
aufgefasst ist.
Diejenigen Triebe, von denen in der Menschen weit die wichtig-
sten Geselligkeitsbeziehungen ausgehen, erinnern uns auch am leb-
haftesten an die Irrthümer und Fehlgriffe, die sich in ihrem Reiche
vollziehen. Wollten wir nun diese falschen Ausgriffe ausschliesslich
dem menschlichen Wesen zuschreiben und die äussere Natur ge-
wohntermaassen von aller Fehlbarkeit lossprechen, so würden wir
die einheitliche Systematik des Gesammtreichs aller Dinge verleugnen.
In einem gewissen Sinne ist die Fehlbarkeit eine Mitgift aller Stufen
der Existenz. Im Menschen ist sie nur darum grösser, weil er ein
zusammengesetzteres und voUkommneres Wesen ist, als die sonstigen
Bestandtheile und Einrichtungen des Daseins. Die Natur im Men-
schen und die Natur ausser dem Menschen sind nicht zwei so un-
gleichartige Dinge, um ein völlig verschiedenes Princip haben zu
können. Ein bewusstes Fehlgreifen gehört nur den thierischen Ge-
bilden und unter ihnen im höheren Grade dem Menschen an; aber
eine Verwirklichung des Unzweckmässigen oder ein Nichterreichen
der angelegt gewesenen schematischen Ordnurjg ist in der ganzen
Natur überall da erkennbar, wo man überhaupt die Uebereinstim-
mung oder den Widerstreit innerlich und gegenständlich zu beur-
theilen vermag. Mit demselben Recht, welches uns gestattet, die
eigentlichen Missgeburten als falsche Compositionen zu betrachten,
dürfen wir auch überhaupt fehlgreifende Synthesen der Natur in
allen Richtungen annehmen , wo eine gehörige Zusammenstimmung
der Theile bewirkt oder verfehlt werden kann. Der Mensch ist nicht
das einzige Ding, welches irrt; er ist nur dasjenige, welches auch
Dühring, Cursus der Philosophie. 11
— 162 —
mit deutlichem Bewusstsein und eben durch dieses* Bewusstsein in
einem höheren Grade und in einer besondem Ai*t zu irren vermag.
Wenn daher seine Triebe noch stärker und verkünstelter in die Irre
gerathen, als dies bei den Tendenzen der bewusstlosen Natur der
Fall zu sein pflegt, so müssen wir diese Eigenschaft als eine beson-
dere Ausstattung unserer Vollkommenheit, aber nicht als ein hassens-
werthes Privilegium ansehen. Wir können uns in dem System un-
serer Triebe getrost als einig und gleichartig mit der übrigen Natur
betrachten ; wir können diese Einigkeit und Gleichartigkeit im Guten
und Schlimmen, im Erreichen und Verfehlen, in Wahrheit und Irr-
thum voraussetzen. Es giebt keine Grenze, wo etwa die Unfehlbar-
keit und der völlige Maugel eines Irrthums, im gegenständlichen
Sinne dieses Worts, für die aussermenschhche oder auch für die
nichtbewusste menschliche Natur beginnen müsste. Wir werden der
Natur keine Vorstellungen unterlegen; aber wir werden uns an die
Thatsachen halten und uns hüten, mit der Existenz unserer Triebe
die allgemeine Gleichartigkeit im Stufensystem des Weltbaues zu
unterbrechen und den Widerstreit des Zutreffenden und Unpassenden
erst in uns beginnen zu lassen. Die Würde des Menschen steigt
durch diese Betrachtuugsart; der letzte Rest falscher Naturverehrung
weicht zurück, und auch die Gesammtanschauung wird nicht ge-
schädigt; denn es ist mit der allgemeinen Thatsächlichkeit des frag-
lichen Gegensatzes die Idee nicht ausgeschlossen, dass jenes objectiv«^
und subjective Verfehlen selbst sich als eine nothwendige und heil-
same Einrichtung, ja sich gleichsam als ein in der Gesammt Verfassung
des Seins Gewolltes und als unumgängliches Mittel zum Zwect des
mannichfaltigen und losgebundenen Lebensspieles erweisen müsse.
5. Wo die Natur in dem, was sie anlegt, rückständig oder un-
zulänglich bleibt, kann eine mannichfaltige Elntwicklung des die
Empfindungen mit Bewusstsein sichtenden und veredelnden Menschen
eine wichtige Ergänzung oder auch bisweilen eine Berichtigung
schaffen. Wir sind selbst Natur und haben die endgültige Ent-
scheidung grade über das Letzte und Höchste, was allen Vorstufen
des niedrigeren Seins der Folge und dem Range nach überlegen ist.
Wir sind in unserm Empfindungsleben oder, wenn das Wort besser
zusagt, in unserm allgemeinen ästhetischen Verhalten derartig eine
beurtheilende und gestaltende Macht, dass wir die Bestrebungen der
Natur, die sich in uns Ijethätigen, zwar als gesetzgebend, al)er nicht
als den Inbegriff aller Gesetzgebung und auch nicht als in jeder
— 163 —
Beziehung unabänderlich zu betrachten und zu behandeln haben,
unsere Vollkommenheit soll sich über diejenige der Natur um eine
neue Entwicklungsstufe erheben, und mit dem Spielraum für diese
Erhebung ist eben auch das tiefere Versinken unter bestimmten
Voraussetzungen unvermeidlich gemacht. Dem Ideal gegenüber findet
sich die Verzerrung und Verkünstelung, welche tief unter das Niveau
des naiv Natürlichen gehört und der Zurückrufung zur einfachen
Natur eine Berechtigung und einen Reiz verleiht, der sonst nicht
begreiflich wäre. Wie verschränkt, verzwickt und verkünstelt müssen
nicht die menschlichen Empfindungen, die den Abirrungen de5* Cultur-
geschichte und dem Raffinement ihr eigenthümhches Dasein ver-
danken, in der That geworden sein, ehe der Natürlichkeitsenthu-
siasmus nach Art eines Rousseau einen hohen Werth erhalten und
an Stelle kühnerer Ideale die erdrückte Menschlichkeit befriedigen
kann! Wir wollen uns vor nichts niederwerfen und mithin auch
nicht vor jener Natur, die in ihrem Stufensystem von mechanischen,
physikalischen und physiologischen Einrichtungen eben nur das Pie-
destal für unsere eigne überragende Wirklichkeit bildet.
Wenden wir unsern allgemeinen Gedanken m bestimmterer
Richtung auf die Triebe an, so werden wir uns über deren Fehl-
barkeit ebensowenig wie über die gelegentlichen Vergreifungen der
thierischen Instincte wundern. Mit dem Vermögen zur Wahrheit
ist auch immer dasjenige zum Irrthum in irgend einem Maass ver-
bunden, und alle gegenständliche Bedeutung, welche das im Triebe
enthaltene Urtheil in Anspruch nehmen kann, ist so gut wie die
Fähigkeit zur mathematischen Einsicht mit jenem Gegensatz behaftet.
Die Emährungstriebe, also Hunger und Durst, zeigen uns einen
innem Zustand an, der sich verschiedentlich, besonders aber chemisch
kennzeichnen lässt. Ein Mangel an Flüssigkeit bei der nothwendigen
Mischung des Bluts und der andern Säfte wird auf der Zunge durch
einen eigenthümlichen Reiz verkündet, und die treibende Kraft dieser
Spannungsempfindung setzt die Sinne und den Vorstellungsapparat
sowie die dienstbaren Thätigkeiten in Bewegung, um die Gegenstände
zu erkennen und anzueignen, welche die Ausgleichung der Spannung
bewirken können. Wenn sich Hunger und Durst vereinigen, pflegt
der letztere derartig zu überwiegen, dass er erst befriedigt sein muss,
ehe die auf feste Nahrung gerichtete Bedürfnissempfindung stärker
hervortritt. Dies hat seinen Innern Grund; denn die hydrodynamische
Ordnung ist in der Oekonomie des Emährungsprocesses die Vorrtus-
11*
— 164 —
Setzung von allem Andern. Eine bedeutendere Störung derselben
will daher auch zuerst ausgeglichen sein.
Die Triebe sind, unbeschadet der uns stets offenstehenden Kritik,
bald in roherer bald in feinerer Weise unsere Lehrmeister und zwar
nicht blos im Allgemeinen, sondern auch im Besondem und Ein-
zelnen. Sie zeigen uns, was wir anzustreben und was wir zu fliehen
haben, und der hiebei mögliche Irrthum ist, wie schon vorher ge-
sagt, allen Mitteln der Erkenntniss und allen Motiven der Thätigkeit
von dem niedrigsten bis zum höchsten gemeinsam. Die Appetite
sind in ihrer unverkünstelten oder überhaupt wohlgeordnd;en Ge-
staltung vortreffliche Verkünder von dem, was dem Körper der Regel
nach sowie in besondern Zuständen zuträglich ist. Es ist nicht Bru-
talität, sondern mehr als das, nämlich ein unter das Thier sinkendes
Verhalten, wenn die feineren oder roheren Anzeigen, welche die ge-
wöhnlichen oder durch Ausbildung wohl gar besonders urtheilsfähig
gemachten Appetite liefern, in Gesundheit und Kj*ankheit völlig
verachtet und nicht einmal einer Prüfung werth gehalten werden.
Die Verbindung dieser Art von Fingerzeigen mit der gegenständ-
lichen Beurtheilung kann Ausserordentliches leisten. Ein Mangel an
den Eisenbestandtheilen des Bluts wird sich durch Vorliebe für eisen-
haltige Nahrungsmittel verrafchen. Ein Theil der Heilmittel, der
ursprünglich in Volksmitteln bestand, muss zuerst auf irgend welche
Appetitgestaltungen hin versucht und erprobt worden sein. Auch
die besondern Appetite der Schwangern lassen sich ähnlich auffassen
wie das Kalkverzehren der Hennen, deren Neigung sich aus dem
Bedürfniss von Material zur Bildung der Eierschaale erklärt.
Zu der vorläufig nur das innere Bedürfniss ausdrückenden Trieb-
empfindung tritt die Beurtheilung und Messung des Gegenstandes
auf seine befriedung versprechenden Eigenschaften. Der Sinn und die
Vorstellung, die mit dem Triebe verbunden sind, wägen die Wir-
kungen im Voraus ab, und diese Vorwegnahme durch die Empfin-
dung ist eines der wichtigsten Hülfsraittel der Erhaltung und För-
derung des eignen Wesens. Wo, wie bei dem Geschlechtstriebe, ein
zweites Wesen mit seinem Urtheil in Frage kommt, ist grade diese
Doppelseitigkeit des Gefählsurtheils von der grössten Bedeutung;
denn sie allein kann die Ebenmässigkeit und Zuträglichkeit der Be-
ziehungen sichern. Die Mannichfaltigkeiten , die schon ohnedies im
Gebiet der Geschlechtsaffectionen herrschen, werden hiedurch noch
gesteigert. Der Geschlechtstrieb ist schon an sich selbst und ein-
— 165 —
seitig vieler Variationen fähig, und man könnte in dieser Beziehung
seine Natur sogar mit den gewöhnlichen Appetiten vergleichen. Die
Mannichfaltigkeit liegt aber hier weniger sichtbar in den Zuständen
des Subjects, als in der individuellen Vielheit der Objecte. Fügt
man hiezu noch jene Doppelcombination, so wird die passende Her-
stellung des Gleichgewichts eine Angelegenheit, die von Seiten der
Natur mehr Subtilität erforderlich macht, als man gewöhnlich zu-
gesteht.
6. Eine Veränderung, Gewöhnung und Entwicklung der Triebe
ist in geringerem Grade für das Einzelleben und in bedeutendem
Umfang für die Geschlechterabfolgeu, am meisten aber für das ganze
Menschengeschlecht vorhanden. Die Phantasie ergeht sich hier zwar
allzu leichtfertig in der Nichtachtung wesentlicher Schranken; aber
die Bestimmung des Spielraums, innerhalb dessen sich die mensch-
hchen Antriebe umzugestalten und zu veredeln vermögen, mag lieber
zu weit als zu eng vorgestellt werden; denn der letztere Irrthum
ist dem Ideal hinderlicher, als der erstere. Die Kritik der Triebe
nach dem Wohlthätigen oder Unzuträglichen ihrer thatsächlichen
und äusserlich verkörperten Wirkungen ist nur indirect und jeden-
falls nicht das ausschliessliche oder letzte Maass ihres Werthes. Wie
sollen wir aber die Wahrheit, Berechtigung oder Schönheit der Em-
pfindung durch die Empfindung selbst feststellen? Hierauf giebt es
nur eine einzige Antwort, die aber den Vortheil hat, uns ein ähn-
liches Licht wie in den strengsten Wissenschaften in einem Gebiet
zu schaffen, wo man das Dunkel natürlich findet und wohl gar von
der täppischen Bauernregel ausgeht, dass sich über den Geschmack
nicht streiten lasse. Wären die Empfindungen und Gefühle voll-
kommen einfach, so müsste über sie durch unmittelbares axiomati-
sches Urtheil in verwandter Art entschieden werden, wie über einen
mathematischen Grundsatz oder über den Schöuheitseindruck einer
reinen Spectralfarbe. Die Art von Beifall oder Einstimmung, die
eine völlig einfache Erregung mit sich brächte, würde eben auch
eine nicht missverständliche Thatsache sein und in ihrem Gebiet
ebenso gelten müssen, wie eine geometrische oder physikalische Noth-
wendigkeit. Nun aber sind die Empfindungen und Gefühle nicht
einfach, sondern mannichfaltig nach Art und Grösse zusammengesetzt.
Schon das Mehr und Minder beruht auf einer Composition von Ele-
menten; der Gattung nach ist aber schon die Mischung der Lust
mit dem in irgend einem Maasse Peinlichen ein Ausgangspunkt von
— 16(J —
Mannichfaltigkeiten. Der gelinde Anreiz, der Stachel und die grau-
samste Pein oder überhaupt der ausschliessliche Schmerz auf der
einen Seite und die Skala der unser Wesen bejahenden Lust oder
Freude auf der andern Seite ergeben in ihrer Verbindung äusserst
verschiedene Ausprägungen des Gesammtgefähls. Hiezu kommt noch,
dass auch die Specialformen der Triebempfinduugen noch nicht so-
fort als einfach angesehen werden dürfen. Mindestens muss man in
der Zergliederung hier ebensoweit gehen, wie wenn man Töne und
Farben oder überhaupt Gehör- und Gesichtsein drücke in ihre Be-
standtheile sondert. Wird nun ein unmittelbares Empfindungsurtheil
über die Empfinduugselemente oder reinen Empfindungsgattungen
als solche zugestanden, so beruht alle Wahrheit sowie aller Irrthum
auf der richtigen oder falschen Würdigung der CoUectivgebilde, und
diese Würdigung, die zunächst fertig und unwillkürlich in der Wahr-
nehmung des vorherrschenden Charakters des Empfindungsgebildes
zu Tage tritt, kann durch nähere Aufinerksamkeit auf die ßestand-
theile bestimmter geprüft und durch Vergleichung mit andern oder
auch blos variirten Empfindungszu ständen rein subjectiv geschätzt
werden. Im letzten Grunde sind es offenbar die einfachen der Ver-
fassung unseres Strebens und Vorstellens angehörigen Elemente, die
sich an sich selbst als souverain geltend macheu. Da indessen das,
was befriedigt und wohlthätig oder das Gegentheil davon ist, überall
in der ganzen empfindenden Natur den Grundbestandtheilen nach
dasselbe sein muss, so haben die Empfiudungs- und Gefühlsurtheile
eine ernsthaft wissenschaftliche Tragweite, und ihre Verrufung rührt
einerseits von der Unkenntniss ihres Wesens, andererseits aber aucli
von der verhältnissmässigen Rohheit und Ungenauigkeit her, mit
welcher sie sich zunächst wegen der vielfachen Zusammengesetztheit
ihres Materials behaftet finden. Jedoch sind sie auch häufig genug
äusserst fein und ausgebildet, ohne dass deswegen mit ihnen auch
die Fähigkeit verknüpft zu sein brauchte, vermöge deren sich das
urtheilende Individuum der Entscheidungsgmnde deutlich bewusst
werden und zur Rechenschaftsableguug darüber oder zur systemati-
schen Anwendung des Erkamiten im Stande sein müsste.
Wenn wir auf die eben angegebene Weise die edle von der
unedlen Compositiou unterscheiden lernen und sogar dazu gelangen,
dem Empfindungs- und Gefiihlsgebiet eigentliche Ideale oder, mit
andern Worten, vollkommnere Constructionen, die dem besseren und
schöneren Typus entsprechen, nach und nach abzugewinnen, so sind
— 167 —
hier offenbar wiclitige Hebel zur Gestaltung des innem und äussern
Lebens einzusetzen. Wie die Musik eben in der subjectiven Ton-
empfindung ihre Werthschätzung erfährt und wie überhaupt jede
Kunstgattung zunächst auf die Unmittelbarkeiten der den Eindruck
messenden und wägenden subjectiven Gesammtaffection angewiesen
ist, so muss auch die Ausbildung des Trieb- und Gefühlslebens die
nächsten energischen Förderungen von der freien Bethätigung der
eignen Elemente erwarten. Solange sich hier das freie Spiel durch
Vorurtheile und falsche Einschränkungen gehemmt findet, ist an eine
edlere Meuschhchkeit in diesem Bereich nicht zu denken.
Die ganz gewöhnlichen Triebe bieten für die Veredlung oder
für die Fernhaltung der Verzerrungen soviel Stoff dar, dass man
über die Wüstheiten und Thorheiten dieses Gebiets erstaunen müsste,*
wenn man sich nicht erinnerte, dass es Jahrtausende dem herrschen-
den Vorurtheil entsprochen hat, die sinnlichen Triebkräfte als un-
würdige Gegenstände in Verachtung zu bringen und dadurch erst
recht eine Verwilderung oder Verfälschung dieser sittlichen Mächte
zu befördern. Man hat in den Trieben die Gnmdlagen der mensch-
lichen Natur mit Füssen getreten, und es darf daher nicht über-
raschen, wenn wir in der höheren Cultur der Triebempfindungen
jetzt wieder einen neuen Anfang zu machen haben. Die alte Frucht
der Ausschweifungen und des Ekels, nämlich die Aechtung der
ganzen Sinnlichkeit, ist jetzt glücklich bei den letzten Stadien der
Fäulniss angelangt und wird uns nicht mehr mit ihren raffinirten
Ueber- und Widersinnhchkeiten an die Welt- und Lebenshallucina-
tionen des Fieberwahns der Religionen überliefern. Mit der Zer-
sprengung dieser Ketten ist nun aber auch der Freiheit eine neue
und edle Aufgabe gestellt. Sie hat die Verirrungen auszumerzen,
denen die Triebe unter dem alten Regime verfallen sind. Nicht blos
die Unnatur der künsthchen Unterdrückungen mit ihren widerwär-
tigen Folgen, sondern auch der Mangel positiver Gestaltung und
wahrhaft edler Zucht ist auszugleichen. Die Unsitte, Betäubung
\md Rausch aller Art, sei es durch Narkose, sei es durch die will-
kürliche Steigerung niederer oder höherer Affectionen jeglicher Rich-
tung hervorzubringen, muss nicht nur als Beeinträchtigung des in-
dividuellen und gesellschaftlichen Wohlseins, sondern auch als Ver-
derberin der Gattung und des Typus angesehen werden. Die Triebe
haben nicht nur ihre Naturgesetze, vermöge deren die maasslosen
Empfindungen zum Gegentheil und überhaupt der falsche Lebens-
— 168 —
genuss zum ebenso verkehrten Lebensüberdruss führt, sondern sie
sind auch der harmonischen Composition zugänglich. Sie und ihre
Voraussetzungen können sich nach dem Guten oder Schlimmen hin
umgestalten, und die Menge von thörichten, recht unästhetischen
und oft grob schädlichen Bedürfüissen , welche die Völker in sich
künstlich erzeugt und gepflegt haben, ist ein Beweis für den grossen
Spielraum der Veränderlichkeit dieses Gebiets. Sicherlich werden
bestimmte Grundverhältnisse immer bestehen bleiben, und die Un-
gereimtheit, den Geschlechtstrieb einmal in der Zukunft physiologisch
abstellbar zu wähnen, ist nicht geringer, als diejenige, eine Ab-
schaffung des Essens und Trinkens zu gewärtigen. Dennoch ist jene
Voraussetzung wenigstens annähernd in wissenschaftlichen Raisonne-
ments gemacht worden. Man hat geglaubt, dass die geistigen
Functionen in dieser Richtung absorbirend wirken und sogar in der
Breite der Gesellschaft die Bevölkerungsvermehrung hindern könnten.
Regelwidrige Ausnahmefälle, die sich immerhin auf ganze Gruppen
erstrecken mögen, sind allerdings denkbar; übrigens muss die Natur
aber mit allgemeinen Entwürfen und Gesetzen operiren, dergestalt
dass ihr eine Abweichung von dem Schema nur aus besondern oder
vereinzelt hinzutretenden Ursachen durch eine Art Hemmung der
sonst statthabenden Wirkungen möglich werden kann. Sie muss
entweder die Fortpflanzung aufheben oder ihr Schema, welches mit
Nothwendigkeit alle Individuen dazu treibt, bestehen lassen. Ein
Drittes ist nicht möglich, und diese Gebundenheit der Natur an die
Systematik, die in der unumgänglichen Herrschaft des Allgemeinen
und des durchgängig Gesetzlichen liegt, verbietet jede weitergreifende
Construction, die einen Widerspruch oder Verfassungsfehler enthielte.
Ein solcher Fehler würde aber jener Traummensch sein, der seine
Gattung fortpflanzen, aber mit einem Triebe behaftet sein sollte,
der nicht nach einem allgemeinen Gesetz treibt und keine Bürg-
schaft der durchschnittlichen und collectiven Unwiderstehlichkeit der
entsprechenden Functionen bietet. Ueberhaupt ist, ganz abgesehen
von diesem besondem Fall, die Lehre von Wichtigkeit, dass die
Natur bei der Geltendmachung von Regeln und allgemeinen Vor-
kehrungen dazu genöthigt wird, nicht nur allerlei nutzlose Wirkun-
gen mit in die allgemeine und schematische Thätigkeit einzuschliesseu,
sondern auch Vielerlei positiv einzurichten, wozu nur die nun einmal
für andere Effecte angenommene Wirkungsweise nebenbei zwingt.
In den Pflanzen vollziehen sich der Stoffwechsel und mithin auch
— 169 —
die Ausscheidungen ohne Empfindung. Sobald aber bei den thieri-
schen Wesen die Triebempfindung um ihrer selbst willen eingeführt
ist, können auch einige Ausscheidungsfunctionen nicht ganz der Will-
kür und der Vermittlung durch eine lästige Empfindung entzogen
bleiben. Nun ist die letztere Art von Triebempfindungen wahrlich
nicht danach geartet, einen Genuss zu ergeben, aber sie ist eine
Consequenz, die als Mitgift der an Bedingungen und Hindernisse
gebundenen Systematik der Natur gleichsam mit in den Kauf ge-
nommen werden muss. Erinnern wir uns noch schliesslich, dass
auch alles Peinliche oder dem Peinlichen auch nur entfernt Ver-
wandte, was sich in die Lust der Triebe mischt, insoweit unvermeid-
lich ist, als eine treibende Kraft, die das Wollen naturgesetzlich
und im Allgemeinen unwiderstehlich bestimmen soll, selbst als schein-
bar reinste und positivste Lockung etwas enthalten muss, was in
höheren Steigerungen die Nichterreichung des Ziels unleidlich, ja
unerträglich macht. Eine Natur, die so antriebe, dass sie im All-
gemeinen ihre Wirkungen verfehlen könnte, wäre eine Stümperin,
und die wirkliche Natur hat dafür gesorgt, dass keiner ihrer Trieb-
kräfte jener unumgänglich nothwendige Reiz oder Stachel fehle, ohne
den das ganze System für die reale Ordnung jeder Bedeutung er-
mangeln würde. Diese Zugabe aber ist eine constitutive Nothwendig-
keit, und wir dürfen sie daher nicht als direct, sondern nur als in-
direct gewollt ansehen. Diese und andere Nothweudigkeiten schreiben
nun auch der Culturentwicklung manche Bahn vor, an die sich einiger
Zwang heftet; aber sie schliessen die systematische Fortsetzung der
Arbeit der Natur in der Gestaltung des Reichs der Triebe nicht
aus, sondern gestatten sogar einen so weiten Spielraum, dass die
Jahrhunderte und Jahrtausende in ihm genug zu schaffen haben
werden.
7. üeber den gemeinen Trieben liegt gleichsam eine höhere Re-
gion von Erregungen, die man Affecte, Leidenschaften oder auch
wohl überhaupt Gemüthsbewegungen nennt. In diesem Bereich zeigt
sich die ganze Ohnmacht der bisherigen sogenannten Psychologie.
Nicht einmal eine der wichtigsten Eintheilungen ist zu ihrem Recht
gelangt. Es findet sich nämlich ein durchgreifender Unterschied
zwischen denjenigen Affectionen, die der Mensch ohne Beziehung
auf Seinesgleichen und blos der willenlosen Natur gegenüber haben
kann, und denen, die ein gleichartiges Wesen als Gegenstand oder
L^rsache voraussetzen. Freude und Trauer sowie Hoffuuug und Furcht
— 170 —
können den Menschen als völlig isolirtes Subject mannichfaltig be-
wegen, während Liebe und Hass, Dankbarkeit und Rache, Mitleid
und Neid, Wohlwollen und Eifersucht offenbar Gemüthszustände
sind, die sich auf ein wirkHches oder blos vorgestelltes gleichsam
intersubjectiv zu nennendes Verhältniss beziehen und daher auch
kurzweg als interhuman bezeichnet werden können. Selbstverständ-
lich ist die menschliche Natur auch in ihrer Vereinzelung auf alle
diese Affecte angelegt und kann von denselben nicht blos in der
Traiunvorstellung und Erinnerung, sondern auch auf innere Reize
hin bewegt werden, ohne dass ein anderer Mensch jedesmal that-
sächlich die Ursache sein müsste. Dieser Sachverhalt beeinträchtigt
aber den Werth unserer Unterscheidung so wenig, dass er ihn viel-
melu* erhöht; denn wir können durch dieselbe um so besser die
blossen Erdichtungen eines Willens oder gleichartiger Wesen durch-
schauen, die man den Naturthätigkeiten in falscher Poesie unterl^,
um sich dann gegen diese Fictionen in Liebe und Hass sowie über-
haupt in allen Erregungsarten des menschlichen Herzens zu ergehen.
Die Ausmerzung der persönlich doppelseitigen Affecte aus der Natur-
auffassung ist sogar für die einst zu entwickelnde rationellere Poesie
geltend zu machen. Auch die Dichter haben kein Recht, kindische
Albernheiten für alle Entwicklungsstufen des Menschengeschlechts
festzuhalten. Das Gemüth oder, mit andern Worten, die Gruppe
der Affecte bietet auch für die wahre Auffassung Spielraum genug,
und die schöpferische Poesie hat ihre Stärke in der Sichtbarmachung
eines besseren Typus der Leidenschaften und mithin in der Mitarbeit
an deren Veredlung oder Idealisiruug zu suchen. Es wird einst als
Merkmal des Mangels an eigner naturwüchsiger Kraft gelten, die
Aufstutzung mit den Fictionen abgestorbener Welt- und Lebens-
vorstelluugen in der Kunst nicht entbehren zu können. Lassen wir
es jedoch hier bei dieser Andeutung bewenden, die nur die Trag-
weite unserer Unterscheidung erläutern sollte.
Ein anderer Gegensatz, nämlich der zwischen Erregungen, die
ausschliesslich in der Förderung unseres Ich aufgehen, und solchen,
die wie das Mitleid und die aufopfernde Liebe ihren Schwerpunkt
in einem fremden Wesen haben, ist weniger für die Bewusstseins-
lehre an sich selbst als für die Anwendung in der Moral von Wichtig-
keit. Bereits als antike Eiueicht an den Namen des Auniceris ge-
knüpft, ist er in der Gegenwart von August (.'omte und mir wieder
selbständig in den Vordergnmd gebracht worden.
— 171 —
Die Leidenschaften sind die Hauptquelle für Wohl und Wehe
der Menschennatur, und die sich schon im Wort verrathende Wahr-
heit, dass wir uns in ihnen weniger thätig als leidend verhalten,
entscheidet über eJaien grossen Theil unseres Schicksals. Die Be-
wegungen des Gemüths werden uns vielfach auferlegt, wie das Er-
zittern einem Saitenspiel. Auch die Stimmungen entspringen da,
wo sie vornehmlich von Innen stammen, meistens aus einem Gebiet,
das unserer Herrschaft fast ebensowenig unterworfen ist, wie der
pflanzenartige Theil unserer Lebensfanctionen. Diese verhältniss-
mässige Ohnmacht verschuldet nun vielleicht grade jene theoretischen
Ausschweifungen, die uns in verschiedenen Epochen der Menschheit
belehren wollten, dass unsere Willkür völlige Meisterin der Gemüths-
bewegungen sei. Der letzte ebenso ausgezeichnete als thörichte Ver-
such in dieser Richtung ist von dem sonst in diesem Gebiet hoch-
verdienten Spinoza gemacht worden. Seine Voraussetzung, dass eine
genaue Kenntniss des Wesens der Leidenschaften die Gewalt über
dieselben verschaffe, ist nicht nur metaphysisch umnebelt, sondern
auch in ihren verständlichen Theilen völUg vei-fehlt. Auch die Natur-
gesetze der Leidenschaften lassen sich zutreffend nur unter Berück-
sichtigung des Mehr und Minder der Affectionen vorstellen, und die
meisten allgemeinen Schlüsse, die man rein qualitativ über die Me-
chanik der Affecte versucht hat, sind entweder unzulässig oder vor-
eihg, indem ihnen stillschweigende Quantitätsvoraussetzungen zu
Grunde liegen, die in ihrer Wesentlichkeit hätten erkannt und aus-
gesprochen werden müssen.
Steht einmal die allgemeine Gesetzmässigkeit aller Vorgänge bis
zu den Gedanken hinauf in allen Stufen des Seins fest, so hat die
besondere Bemühung um die Nachweisuug der Naturgesetzlichkeit
des Spiels der Leidenschaften nur noch ein Detailinteresse. Indem
wir daher davon ausgehen, dass die Gegenregung auf eine Reizung
mit der rein mechanischen Rückwirkung auf eine Einwirkung die
Unverbrüchlichkeit des an gegebene Bedingungen geknüpften Er-
folges gemeinhat, bekümmern wir uns weiter nicht um die üblichen
unwissenschaftlichen Einwürfe, sondern wenden uns einer Lehre zu,
mit der wir glauben, noch einen bedeutenderen Schritt über die
alten Vorurtheile hinauszuthun und auch in einigem Maass die Ge-
staltungsgründe der künftigen Schicksale der Gesellschaft zu erreichen.
Die Nebelhaffcigkeiten einer weder tief noch scharf angelegten Moral
haben es verschuldet, dass namentlich die Plattheiten der Schule
— 172 —
ohne Widerspruch eine Menge von Affecten als reine Schlechtigkeiten
zu brandmarken vermochten. Rache, Neid und Eifersucht sind als
Dinge angesehen worden, die nicht im Entferntesten ein Recht zur
Existenz hätten und nur zu den Uebelständen der menschlichen
Natur gehörten, die man wohl gar auf Rechnung einer verworfenen
Sündhaftigkeit setzen sollte. Aber nicht nur die neuere Zeit sondern
auch das in der naturalistischen Denkweise weniger gehemmte Alter-
thum hat sich nicht zu der Idee zu erheben vermocht, dass in der
Oekouomie der Natur alle Leidenschaften auf nützliche Verrichtungen
angelegt sind und im Haushalt der Gesellschaft ihre Rollen zu spielen
haben. So ist der von mir aufgestellten Lehre zufolge die Rache
die naturwüchsig rohe, aber auch in alle feinem Organisationen ein-
gegangene Hüterin der Gerechtigkeit, durch welche die verübten
Verletzungen nicht nur signalisirt sondern auch verfolgt werden.
8. Der Nachweis wichtiger Verrichtungen für bisher einseitig
verworfene und als hässlich in Missachtung gebrachte Erregungen
schliesst nicht aus, dass sich überhaupt in der menschlichen Natur
verwerfliche und zur Vernichtung bestimmte Gemüthsbestandtheile
finden. Viele Thiercharaktere mit der ihnen entsprechenden Gestal-
tung der Begierden und Affecte stehen in Widerspruch mit dem
höheren Typus eines veredelten Wesens. Blutdurst und Mordgier,
die offenbar im thierischen Reich vielfach nicht blos im Literesse
der Ernährung sondern offenbar auch als Gestalten des Selbsigenusses
der damit verbundenen Empfindungen entwickelt und gesteigert wor-
den sind, können sich auch im menschlichen Wesen als Mischungs-
bestandtheile verkörpert finden, und mit ihnen ist natürlich ein un-
eingescliräukter Vernichtungskrieg zu fuhren, der zur Ausmerzung
der Eigenschaften und, wo diese sich von den Personen oder vielmehr
die letztem von den (jrstern nicht trennen wollen, auch zur Unschäd-
lichmachung der Träger solcher ungeheuerlichen Attribute führen
muss. Ein verwandtes Beispiel ist die mit Päderastie oder andern
geschlechtlichen Raffinements gepaarte Schlächterwollust, die ihre
Opfer auch noch verstümmeln, zerlegen und überhaupt in ihren
höchsten Steigerungen mit besonderer Grausamkeit morden muss,
um die Bestandtheile zu dem niederträchtigen Gemisch von Kitzel
zu gewinnen, der ihren ungeheuerlichen und meist verlebten Trägem
allein noch zusagt. Diese scheusslichen Gebilde der Corraption kön-
nen natürlich kein Recht geltend machen, in der Oekonomie der
Natur auch nur als Gifte einen Platz zu behalten. Sie sind in dem
— 173 —
Spiel der Naturgesetze den Missgeburten zu vergleichen, und ihre
Thaten rauben ihnen das Recht auf Existenz. Wo ähnliche Miss-
gebilde auch nur in schwacher Annäherung vorhanden sind, müssen
wir die irrende Natur verbessern; aber es wäre eine Thorheit, vor-
auszusetzen, dass die Natur im Grundgerüst der wichtigsten Leiden-
schaften, wie in der Rache, dem Neide und der Eifersucht völlig
fehlgegrifiFen und verkehrte, bedeutungslose Gefuhlsfanctionen ge-
schaffen hätte, die noch überdies ihrem Träger peinlich sind. Der
Stachel, den diese Affecte enthalten, spielt im Haushalt der gegen-
seitigen Beziehungen von Mensch und Mensch, ja zum Theil schon in
demjenigen der Thiere, eine auf die Selbsterhaltung gerichtete Rolle.
Die Rache ist eine Rückwirkung auf wahre oder vermeintliche Ver-
letzungen. Die geschlechtliche Eifersucht ist ein Hass gegen die mit
der eignen Affection in Widerspruch stehende Einmischung eines
zweiten Geschlechtsverhältnisses und drückt ebenfalls irgend eine
wahre oder vermeinthche Verletzung besonderer Art aus. Die na-
türlichen Bedingungen des Neides sind da gegeben, wo in Wirklich-
keit oder einer falschen Vorstellung nach die in Anspruch genom-
mene Gleichheit oder Verhältnissmässigkeit verletzt ist und daher
etwas begehrt oder missgönnt wird, was der Andere besitzt, aber
nicht besitzen sollte. Es ist also auch in der zweideutigen Regung,
welcher der sprachbildende Verstand einen ebenfalls bisweilen ütc-
führenden Namen gegeben und der er ungleichartige Ideen associirt
hat, etwas von dem Triebe zur ausgleichenden Gerechtigkeit anzu-
treffen. Die plumpe Thatsächlichkeit , mit welcher die Natur die
Bedingungen dieser Affection in ihrer rohen Gestalt zunächst an die
blosse Wahrnehmung der Unterschiede und des Voraushabens ge-
knüpft hat, verschuldet es, dass der gemeine Neid in seiner Rich-
tung auf persönliche Naturvorzüge oder mühevoll erworbene Eigen-
schaften nicht blos regelmässig als ein elender Bursche von nieder-
trächtiger Gesinnung auftritt, sondern es auch wirklich im tiefsten
Grunde seiner Erzeugung ist. Hier hat der Schematismus der Natur
keine erträglichere Einrichtung treffen können, und man muss diesen
üebelstand um der bessern Functionen willen gelten lassen, die sich
sonst ergeben und auch in den unwillkürlich schlimmer gestalteten
Fällen auf Grund richtiger Einsichten oder durch Kreuzung mit an-
dern Affecten entwickelt werden können. Ein Stück Nemesis, welches
in den berechtigten Gestaltungen des Neides vertreten wird, ist die
Seite, die wir sozusagen als Oekonomie der socialen, wesentlich auf
— 174 —
Gleichheit angelegten Natur erkennen und als nützliche Triebkraft
vor der unterschiedslosen Verurtheilung in Schutz nehmen, üebri-
gens mag man mit vollem Recht den gemeinen Neid auf gerecht-
fertigte Vorzüge als das Merkmal und die Frucht einer doppelten
Schlechtigkeit betrachten. Zu dem eignen Mangel der bessern Eigen-
schaften und zu dem Steckenbleiben im Gemeinen gesellt sich noch
die positive Niedertracht, welche, unfähig zur Anerkennung, zur
Sympathie oder gar zur Verehrung, nur den Koth voraussetzt und
sieht, in dem sie selbst heimisch ist, und daher Alles zu ihrem
Pfiitzendaseiu hinabzuzerren und die Welt ausschliesslich mit ihrer
Sumpfexistenz einzunehmen sucht.
9. Die Reue ist das Beispiel einer Gemüthsbeweguug, deren
Doppelgestaltigkeit grosse Bedeutung hat. Entweder bezieht sie sich
auf eine Handlung, die ausschliesslich das eigne Wesen betrifft, oder
sie erfolgt auf eine Schädigung Anderer. Im letztem Falle kann sie
sich weit peinlicher steigern, als im erstem, weil der intersubjective
Schmerz und die Verletzung interhumaner Beziehungen die Lebens-
gefühle weit schlimmer angreifen, als es die Folgen des Schaltens
mit dem eignen Ergehen jemals vermögen. Was man ausschliesslich
gegen sich selbst gethan hat, büsst man zugleich auch selbst, und
der ünmuth über das aus eigner Schuld Verfehlte kann hier zwar
sehr stark werden, aber doch nicht in jene eigenthümlich quälende
Art übergehen, die nur eine Wirkung des Bewusstseins einer Dnthat
gegen Andere zu sein vermag. Die besondem Vorbedingungen der
Reue in beiderlei Gestalt zu erörtern, würde hier zu weit fuhren.
Dagegen dürfen Scham und Stolz nicht gänzlich mit Stillschweigen
übergangen werden. Die erster e setzt ein Verhältniss von Mensch
zu Mensch voraus, während der letztere nicht blos relativ ist, son-
dern auch absolut in der völligen Vereinsamung mit der leblosen
Natur als gesteigertes Selbstgefühl der Kräfte empfunden werden
kann. Ueberhaupt sind die nur auf die Vergleichung des eignen
Seins mit demjenigen Anderer gerichteten Affecte stets auf ihre ab-
solute Grundlage zurückzuführen; denn dort ist erst das R«cht und
Maass für die Selbsterhebung oder Selbstunterordnung anzutreffen.
Die Bewunderung ist ohne den Eindruck eines gewaltigen Unter-
schiedes und ohne die affective Hingebung an eine gleichsam erhabene
Thatsache oder Macht nicht denkbar. Das blosse Staunen der Ueber-
raschung, die Verwundemng oder das Befremden sind sicherlich mit
jener besondern Form der Begeisterung, die von einem überlegenen
— 175 —
Gegenstaude ausgeht, uiclit zu verwechseln. Das Beispiel des Ehr-
geizes kann uns ganz besonders lehren, wie die Leidenschaften,
welche die Steigerung des Lebensgefühls auf die Erhebung über an-
dere Wesen bauen und sich vorzugsweise auf den erzielten unter-
schied stützen, ihre Kehrseite in feindlichen Affecten haben müssen.
Die Einstimmung ist nämlich nur von der absoluten Grundlage aus
möglich, und um diese kümmert sich die eigentliche Ambition, möge
sie im Keinen oder Grossen hausen, so gut wie gar nicht. Ja sie
weiss meistens kaum davon, dass die Ehre, d. h. der Beifall Anderer,
Dur dann berechtigt ist, wenn auch nach absolutem Maasse und ab-
gesehen von aller Relativität und Differenz etwas Gutes als Gegen-
stand der Schätzung zu Grunde liegt, üebrigens ist der Affect als
Thorheitsgebilde trotz aller seiner gewaltigen Realität zu verwerfen,
und die im Neide enthaltene Nemesis folgt ihm alsdaun mit Recht
auf jedem Schritte und glücklicherweise nicht als blosser Sc];iatten
nach. Wenn das Streben auf etwas Heilsames oder an sich selbst
Vorzügliches gerichtet ist und hiebei, ohne die blosse Erzielung eines
günstigen Unterschiedes gegen Andere zum Beweggrund zu haben,
ganz von selbst eine vor andern hervorragende Gestalt erzeugt, so
ist dies nicht mehr jener oberflächliche und gemeine Ehrgeiz, son-
dern die Bethätigung einer direct auf den werthvollen Gegenstand
gerichteten Leidenschaft, bei welcher die Rücksicht auf echte und
begründete Ehre immerhin eine Rolle zweiter Ordnung, aber nie die
Hauptrolle spielen darf. Da die Gefühle zwischen Mensch und Mensch
die höhere Gattung sind, so kann auch in allen Dingen der Hinblick
auf das Urtheil der Menschen ein edles Motiv sein; aber es muss
sich alsdann um jenen naturgesetzlichen und ausserdem wahren Bei-
fall handeln, der selbst auf einer richtigen Würdigung der persön-
lichen Eigenschaften oder des sachlich Geschehenen beruht. Nun
wird aber eine solche Würdigung meist schon zuvor die Sache des-
jenigen sein, der sich auf eine nachträglich rühmenswerthe Bestre-
bung einlässt, und er wird daher vom eignen Urtheil abhängig sein.
In der That ist alles tiefgegründete und nicht blos abgeleitete Stre-
ben keine Wirkung einer Rechnung mit den Chancen der Ehre imd
mithin keines Ehrgeizes im engern und gewöhnlicHen Sinne dieser
Leidenschaft. ♦
Die Mannichfaltigkeit der Gemüthsbewegungen lässt sich nicht
so einfach ordnen, wie diejenige der niedriger belegenen Triebe. Im
Gebiet der letzteren hatten wir die Ernährung und Vervielfältigung,
— 176 —
also in einem gewissen Sinne das ausschliessliche Eigenleben auf der
einen und das Gattungsleben auf der andern Seite zu leitenden Ge-
sichtspunkten. Auch bei den Leidenschaften konnten wir einen ähn-
lichen Unterschied machen, der jedoch keine Verzweigungen von
derselben leichten Anschaulichkeit lieferte. Dennoch kann es fiir
das tiefere Verständniss nicht zweifelhaft bleiben, dass die Gemüths-
bewegungen Grundgestalten des hohem Lebensgefuhls sind und keine
andere Function haben, als den Werth der Lebensbeziehungen zum
Ausdruck zu bringen. Es ist schwierig, die natürlichen Ausgangs-
punkte und Grundgestalten dieser höheren Erregungen völlig sicht-
bar zu machen, weil ihre Specialformen, wie namentlich unsere
letzten Beispiele zeigten, künstlich mit den Lebenslagen und gesell-
schaftlichen Verhältnissen verwachsen sind. So denkt man bei dem
Ehrgeiz nicht sofort an die Trennung und Ausscheidung der ihm zu
Grunde liegenden natürlichen Affectbestandtheile, sondern nimmt ihn,
wie er sich unmittelbar giebt. Hiemit entfernt man sich aber bereits
von dem Boden des Einfachen in den Anlagen der Menschennatur.
Man darf sich daher nicht wundern, wenn die Hauptäste, in die sich
das Lebensgefiihl spaltet, nicht auf den ersten Blick erkennbar wer-
den. Mit der blossen Unterscheidung des Bejahens und Verneinens
ist nicht viel gethan ; denn sie ist schon für die allgemeine Empfin-
dung, die auch noch nicht entfernt das besondere Wesen der Leiden-
schaft deckt, ein ziemlich leerer Gesichtspunkt, dem gegenüber der
Antagonismus der Kräfte bereits ungleich mehr sagt. Förderung
und Verletzung, unmittelbar auf die menschlichen Bedürfnisse be-
zogen, sind dagegen viel vollere Vorstellungen, und wenn man mit
Rücksicht auf dieselben wiederum das Eigenleben und das Gattungs-
leben unterscheidet, so gewinnt man eine Art Stammbaum für die
vereinzelten oder gepaart aufzufassenden Affecte. Die der Selbst-
erhaltung dienstbaren Rückwirkungen beziehen sich stets auf wahre
oder vermeintliche Verletzungen; die positiv gearteten Regungen
drücken aber einen Ueberschuss von wohlthätigen Einwirkungen
aus, der über die blosse Erhaltung der Unverletztheit des Wesens
hinausreicht. In den verschiedenen Gestalten der Begeisterung gipfelt
die Positivität 'der Gemüthsbewegungen , und das höchste Lebens-
gefiihl, welches eine Mannichfaltigkeit von Gentüthserhebungen und
entsprechenden Affectformen unter der Vorherrschaft einer bestimmten
Richtung in eine Einheit zusammenfasst , ist auch nichts weiter als
ein natürlicher und universeller Aflfect. Dem ganzen Sein gegenüber
— 177 —
ist nun freilicli die falsche Poesie des persönlich doppelseitigen Affects
abzulegen; dies schliesst aber nicht aus, dass ohne die Einmischung
einer Personification der Natur erhebende und niederdrückende Ge-
müthsbewegungen statthaben. Der universelle Affect kann sich in
seinen rohen Formen optimistisch und pessimistisch spalten; in Wahr-
heit und durch umfassendere Einsicht bestimmt, kann er jedoch nur
das Gepräge der Ausgleichung und Befriedigung an sich tragen. Er
kann nichts Anderes sein, als die sich erhaltende Einheit in einer,
mit einem theilweisen Gleichgewicht verbundenen Bewegung der
Gemüthsverfassung. Auch er hat eine gegenständliche Bedeutung;
denn er nimmt das Wesen der Welt in sich auf und hängt in seiner
Harmonie von der allseitigen Erkenntniss ab. Für seine haltbare
Gestaltung und Gewöhnung wird mehr Einsicht und Wissenschaft
erfordert, als für diejenige irgend einer besondern Leidenschaft.
Die vorangehende Wüi'digung einer universellen Gestaltung des
Systems der Leidenschaften zu emer Auffassungsform der Welt und
des Lebens bestätigt sich, wenn wir bedenken, dass die Gemüths-
bewegungen von der Natur als nächster unmittelbarster Ausdruck
des thierischen und menschlichen Lebensinhalts geschaffen und schliess-
lich zu einem alles Wohl und Wehe in sich aufaehmenden höchsten
Empfinden aller Daseinsbeziehungen gesteigert worden sind. Dieses
Empfinden wird nun durch die geringere oder grössere Tragweite
der Einsicht mehr oder minder und ausserdem je nach Wahrheit
und Lrthum mannichfaltig in einer auf die Dauer haltbaren oder
unhaltbaren Richtung angeregt, und hiemit erwächst die Nothwendig-
keit, die Einwirkungen der gesammten, sei es unmittelbaren oder
erworbenen Yerstandeseinsicht auf die einzelnen Leidenschaften oder
auf das ganze Gemüth in Anschlag zu bringen. Die Affecte ent-
springen nicht aus dem Verstände und ergeben ihr animales Spiel
auch bei einer geringen Dosis von rein thierischer Erkenntniss ; aber
sie gelangen zu ihren höchsten Functionen erst durch die richtende
Kraft jener hohen Intelligenz, welche ihrer ursprünglichen Blindheit
und ihrem Streit mit der Klarheit einer freien Ordnung zu Hülfe
kommt und so ihre naturwüchsige Unzulänglichkeit zu heilsamen
Schöpfungen vollendet.
Du h ring, Curgus der Philosophie. 12
— 178 —
IDrittes Oapitel-
Verstand und Vernunft.
Das Vermögen der rationellen Einsicht wird am besten Vei-stand
genannt, während die Bethätigung des Verstandes in Handlungen
gewöhnlich Vernunft heisst. Hienach sind nicht zwei Arten der In-
telligenz, sondern wesentlich nur eine einzige Einsichtsform anzu-
nehmen. Das Erkennen der Gründe und das Handeln nach Gründen
bilden zusammen die Gesammtäusserung unserer höheren Einsicht.
Im Theoretischen noch eine besondere Vernunft annehmen, die vom
Verstände unterschieden wäre, ist unzulässig. Empfindung und Sinne
bilden gleichsam den Unterbau des Verstandes, während Triebe und
Leidenschaften den Gegenstand and Inhalt für die Vernunft d. h. für
die Anwendung des Verstandes auf das Praktische abgeben. Die
Vernunft entspringt aus jener Freiheit, die in der Fähigkeit der
Selbstbestimmung durch bewusste Vorstellungen enthalten ist. Die
Capacität zu Vorstellungen, die im Bewusstsein verglichen werden
können, ist die Vorbedingung zu jedem Grad von Verstandeseinwir-
kung auf die Handlungen. In der Vernunft ein Vermögen zu Schlüs-
sen, zu Schlussreihen und zu abschliessenden Zusammenfassungen
der Gedankenbestandtheile sehen wollen, ist ein ganz müssiges Unter-
fangen; denn warum sollen die einmahge und die wiederholte Ver-
standesthätigkeit auf eine Gedankenmacht verschiedener Qualität
zurückgeführt werden, oder warum soll die vollständige und ab-
schliessende Einsicht, welche die Kette der Elemente durchläuft, in
der erzeugenden Function anders geartet sein, als die partielle? Es
ist schädliche Scholastik, derartige Unterscheidungen, die weder für
die Geistesfanctionen nachweisbar, noch für die gegenständlichen und
als Ergebnisse wahrnehmbaren theoretischen Bethätigungen einen
zutreffenden Sinn haben, zu pflegen und dabei noch den Anspruch
zu machen, etwas über das Wesen unserer Geisteskräfte festzustellen.
Weder die bisherige Untersuchung des Gehirns noch die unmittel-
bare Prüfung des Bewusstseins ergiebt irgend eine Sonderung, die
uns zu einer vom Verstände unterschiedenen Vernunft als einer be-
sondem Function des theoretischen Erkennens zu verhelfen vermöchte.
Wohl aber können wir in den Antrieben aller Art die Wurzeln eines
praktischen Verständnisses und Verstandesgebrauchs antreffen, dem
wir mit Fug und Recht den besondern Namen Vernunft beilegen
— 179 —
mögen. Die Vernunft könnte hienach sogar als die durch den Ver-
stand erzeugte Einheit der Triebe und Leidenschaften angesehen
werden, so dass sie die Einigung des mannichfaltigen Strebens zu
einem nach bewussten Gründen bestimmten Wollen wäre.
Prüft man die gewöhnlichen Rechenschaften über die Verrich-
tungen unserer Einsichtsthätigkeit, so findet man, dass nur wenig
gesagt wird, was über die Fingerzeige des Sprachgebrauchs der ein-
schlagenden Wörter hiuausreichte. Ja die üebereinstimmung mit
den Ueberlieferungen der sprachlich fixirten Vorstellungsverbindungen
ist noch ein günstiger Fall ; denn häufig haben die Abwege der Ver-
schulung zu den launenhaftesten Aufstellungen willkürHcher Verzwickt-
heiten geführt. Man hat alle Ursache, in diesem Gebiet bescheiden
zu sein; denn an sich selbst kann man den Verstand in dem Rahmen
des Bewusstseins kaum sichtbar machen, und mittelbar in seinen
gegenständlichen Aeusserungen kann man zwar die Gattungen seiner
Ergebnisse sondern, aber hiemit noch nicht seine ursprüngHche
Functionsgliederung biosiegen. Um Letzteres zu können, reicht es
nicht hin, das innere Bewusstsein zu befragen, sondern man muss
die körperlich sichtbare Organisation des Organs zum Führer nehmen
können. Nun geben aber Anatomie und Physiologie des Gehirns
bis jetzt einen sehr unzulänghchen Führer ab. Das einzige Erheb-
liche, was sie in dieser Richtung geleistet haben, ist die Flourenssche
Nachweisung, dass ohne die grossen Hemisphären keine anschauliche
Vorstellung und mithin auch keine willkürliche Selbstbestimmung
nach Motiven vollzogen werden kann. So werthvoU diese Erkennt-
niss nun auch ist, so hefert sie doch keine Speciahsirung^der Ver-
standesthätigkeit. Sie gewährt nur die Ueberzeugung, wie das Vor-
stellungsvermögen hinter der Stirn sein Werkzeug hat und ohne
diese Gehirntheile, welche bei dem Menschen die obere, den ganzen
Vorderkopf einnehmende Masse formiren, nicht von Statten geht.
Dies ist nicht viel, aber doch, wie wir nachher sehen werden, genug,
um wenigstens von der psychologischen Freiheit einen richtigen Be-
griff zu gewinnen.
2. Der Verstand erkennt das Einerlei und die Veränderungen;
er bezieht sich mithin auf Gattungen und Ursachen, die jedoch beide
in einem einheitlichen Grunde ihren Halt haben. Die Gattung in
den Dingen ist nichts als ein Beharrliches oder eine Regel der Com-
position der Gebilde. Hiemit weist sie aber auf eine ursächliche
Gestaltungskraft hin, welche in der Mannichfaltigkeit der Gebilde
12*
— 180 —
die Theile nach einem Gesetz zusammenhält. Das Wesen der Gat-
tung ist also auch ein Gesetz, wie man sich ja mit grösster Klar-
heit an den selbstgebildeten Gattungen geometrischer Gestalten an-
schaulich machen kann. Wenn nun die Gattung nur die gleichzeitige
Sichtbarkeit und Nebenordnung des eine Mannichfaltigkeit beherr-
schenden Gesetzes ist, so wird das Wesen des Verstandes, nämlich
seine letzte und tiefgreifendste Function, überall und durchgängig
im Erkennen der Gründe oder, mit andern Worten, in der Wahr-
nehmung des Zusammenhangs bestehen. Die Art der Verknüpfung
der Wirklichkeitsbestandtheile wird in seinen niedrigen wie in seinen
hohen Bethätigungen der entscheidende Gegenstand bleiben. Die
Zurüstung der Sinne und Antriebe wird zu dieser Verrichtung bereits
eine erhebliche Vorbereitung liefern; denn über das Allgemeine wird
schon durch die sinnliche Auffassung und durch die triebförmige
Bestimmung eine vorgängige Entscheidung getroffen. Die Phantasie,
die schon im blossen Aufnehmen der Bilder eine gestaltende Thätig-
keit aus sich selbst übt, wird vollends in ihrem freien und absicht-
lichen Spiel zu einer construirenden Macht, von welcher das allge-
meine Gepräge der Erscheinungen nach Maassgabe der wirklichen
Eindrücke und Zusammenhänge entworfen wird. Sie findet sich von
den Antrieben beherrscht, und die Gewohnheit d. h. die beharrliche
Wiederkehr der einmal oder öfter fixirten Ansätze zum Vorstellen
nach Maassgabe irgend einer Periodicität spielt auch in der Imagi-
nation eine bedeutende Rolle.
Das Gedächtniss, welches gewöhnlich nur beschrieben, aber
nicht in seiner Allgemeinheit erkannt wird, ist nichts als der
Inbegriff der zur Wiedererzeugung hinreichend fixirten Vorstel-
Inngen. Es sind nicht die Ideen, Bilder oder Begriffe selbst, son-
dern die Fertigkeiten und Materialien, die zu ihrer Wiederhervor-
bringung dienen, was erworben und bei der Erinnerung zu wei-
terem Gebrauch für die construirende Phantasie verfugbar wird.
Wie man sich die Fähigkeit zu besondem Bewegungen der GHeder
aneignet, so gelangt man auch zu den Fertigkeiten der Vorstellungs-
organe. Es sind also nicht die Ideen selbst, sondern nur die Fähig-
keiten zu ihrer Bildung in uns mehr oder minder fixirt. Eine Vor-
stellung als solche ist stets nur mit ihrer jedesmaUgen Erzeugung
im Bewusstsein vorhanden, so dass Alles, was in den Rahmen des
Bewusstseins wahrnehmbar eintreten soll, durch innere oder äussere
Reize gleichsam erst erweckt und in der neuen eigentlichen Bewusst-
— 181 —
seinsform sogar erst geschaffen werden muss. Die ursprünglichen
allgemeinen Anlagen znr entsprechenden Bewegung müssen daher
in den Yorstellungsorganen vorhanden sein, ehe die äusseren Reize
das Bewusstsein ins Leben rufen und durch einmalige oder wieder-
holte Erregungen den Erwerb der Begriffe oder die Uebungen und
Gewohnheiten begründen, auf denen unsere unwillkürlichen Erinne-
rungen und Vorwegnahmen des Geschehens beruhen.
Die sogenannte Vergesellschaftung der Vorstellungen bezieht sich
auf Bewusstseinselemente aller Art und wurzelt selbstverständlich in
jenem Bereich, aus welchem heraus die Bewusstseinsgebilde bei den
einzelnen Gelegenheiten erst erzeugt werden müssen. In der That
ist die Ideenassociation bei Thier und Mensch die Grundlage und
hiemit die erste Stufe des Verstandes selbst. Die äusserlichen Typen
der Verknüpfung, um die man sich im Gebiet der zufälligen und
unwillkürlichen Gesellung und Gruppirung der Gedanken am meisten
gekümmert hat, sind von geringerer Bedeutung, als die tieferen Ur-
sachen und letzten Gesetze des ganzen Spieles. Man hat die Aehn-
lichkeiten und Contraste als Verknüpfangsgründe hingestellt; man
hat auch den Zusammenhang der vorbildlichen Wirklichkeiten als
maassgebend für die Verbindung ihrer Vorstellungsbilder anerkannt;
aber man hat sich durch das Blinde und Wüste, was die sich selbst über-
lassene Ideenassociation in Vergleichung mit einem völlig geordneten
Gedankengange aufweist, zu einer Verkenuung der unverbrüchlichen
Herrschaft der Naturgesetze und zwar besonders zur Uebersehung
derjenigen Gesetze verleiten lassen, welche trotz aller verhältniss-
mässigen Verworrenheit dennoch auf Zucht und Regel hinarbeiten.
Die Vorstellungsgeselluug vollzieht sich in einem Rahmen, in wel-
chem die Grund Verfassung aller Phantasie, nämlich eine räumliche
Grappirung, eine zeitliche Abfolge, die gegenseitige Anziehung des
Gleichartigen sowie die Unterordnung unter einen Trieb oder Affect
maassgebend ist. Indem der Zusammenhang der Vorstellungen durch
die Verbindung der Wirklichkeitsreize der äussern oder innern Natur
bestimmt wird, vollzieht sich grade in der gleichsam geselligen Grup-
pirung der verwandten Gedankenkeime eine Annäherung an die that-
sächliche und logische Systematik. Auch diejenigen Verknüpfungen,
welche einen völlig äusserlichen Zusammenhang wirklicher Eindrücke
für die Wiederhervorbringung festhalten, schliessen Wahrheit ein,
wie sie der Erinnerung nicht verloren gehen darf, wenn überhaupt
noch das Einzelne Gegenstand der Erkenntniss bleiben soll. Ein
— 182 —
Wissen aber und ein Verstand, die nur auf das Allgemeine gingen,
könnten weder praktisch noch theoretisch für vollständig oder brauch-
bar gelten. Wehren wir uns daher nicht gegen die Anerkennung
der Fundamente, die in der aniraalen, zugleich unwillkürhchen und
willkürlichen Yorstellungsgesellung anzutreffen sind, aus Rücksichten
einer falschen Yomehmheit. Ohne dieses Piedestal würde der Ver-
stand keinen Boden unter den Füssen haben.
3. Es ist leicht, den Verstand nach seinen Ergebnissen zu be-
messen; aber diese Bestimmungsart, welche uns z. B. ein mathema-
tisches Denken oder eine Fähigkeit zur Vollziehung der logischen
Operationen liefert, belehrt uns nur über gewisse Grundgestalten der
Ausübung der allgemeinsten Verstandeskräfte, jedoch nicht über das
volle Wesen der Sache in ihrer ganzen Reichhaltigkeit. Der Ver-
stand bethätigt sich in und mit den Sinnen sowie in und mit den
Trieben und Affecten. Er ist weit davon entfernt, sich mit blos
abstracten Thätigkeiten, also etwa mit der Orientirung im Räume
und in der Zeit nach Maassgabe regelnder Grundbegriffe zu er-
schöpfen. Wir brauchen nur an den Traum, in welchem der Ver-
stand nicht gänzlich abwesend ist, mit einiger Ueberlegung zu den-
ken, um einzusehen, dass es auf die Art und den Umfang ankommt,
in welchem die leitenden und ordnenden Begriffe zur Bethätigung
gelangen. Mit der blossen Möglichkeit, eine ursächliche Beziehung
vorzustellen, ist das Verständniss noch keineswegs gesichert; denn
an dem Denken ursächlicher Beziehungen und sogar an einem theil-
weise geordneten Zusammenhang braucht es auch im Traume nicht
zu fehlen. Nicht blos die spielende sondern auch die construirende
Thätigkeit der Phantasie ist den Zuständen des Träumens und
Wachens geraeinsam, und es fehlt im Traume nur an der Unter-
scheidung des durch innere Reize Hervorgebrachten von einer Vor-
stellungswelt, die nur auf äussere Reize hin entstehen kann. Bei
der Hallucination ist diese Unterscheidung ausfuhrbar; denn jene ist
nichts Anderes als ein Traumbild, welches sich in den übrigens wachen
Zustand einmischt. Es heisst also noch verstandesmässig verfahren,
wenn man die Hallucination d. h. das sich in seiner Vereinzelung
gleichsam gespenstisch ausnehmende blosse Gehimbild inmitten der
regelrechten Vorstellungen als rein subjective Projection erkennt.
Die ekstatischen Zustände schliessen den Verstand auch nicht völlig
aus, und die Fieberphantasien können als Steigerungen eines allge-
meinen Phantasierausches angesc^hcn werden, wie er sich in geringem
— 183 —
Graden und mannichfaltigen Gestaltungen in übrigens regelrechte
Zustände des Denkens und Vorstellens einmischt. Die Phantastik
einer falschen Poesie oder eines irregehenden Enthusiasmus mag den
Verstand in einer einseitigen Richtung beherrschen, hebt ihn aber
nicht auf. Die geistigen Berauschungen, namenthch die Ausschwei-
fungen in der ursprünglichen oder nachbildenden Erzeugung und
Wiederholung von Affecten, beeinträchtigen ebenfalls das regelrechte
Spiel der Y erstandeskräfte , lähmen aber doch noch weit mehr die
natürlichen Gemüthsf ähigkeiten , als dass sie die Wurzeln des Den-
kens selbst berührten. Sogar die Trunkenheit im eigentlichen Sinne
des Worts lässt in einigen ihrer Stadien noch immer einen ziem-
lichen Spielraum für die gehörige Ordnung der Vorstellungen und
für die üeberlegung offen.
Auch der Wahnsinn löst uns das Räthsel des Verstandes nicht;
denn er ist nur ein theilweiser Gegensatz zu ihm. Erst der eigent-
liche Blödsinn spricht deutlich; denn er lehrt uns die Abstumpfung
oder den Mangel der Unterscheidungskräfte kennen. Die Abwesen-
heit des Inbegriffs der unterscheidenden Fähigkeiten ist daher das
Merkmal der eigentlichen Verstandesschwäche. Im Wahnsinn sind
es dagegen oft nur die falschen Vor Stellungsmaterialien, welche den
übrigens richtig fungirenden Verstand in irgend einer Beziehung
fehlgreifen lassen. Viel Wahnwitz ist oft genug mit viel Verstand
gemischt, und wie sogar für die gemeineren Angelegenheiten des
Lebens das Irrenhaus keineswegs eine zuverlässige Scheidelinie zwi-
schen gesundem und gestörtem Verhalten bildet, so ist dies noch
viel weniger für die poetischen, philosophischen und wissenschaft-
lichen Geistesbethätigungen der Fall. Hier kann sich die krankhafte
Gesfcörtheit ungenirter als im gemeinen Geschäftsleben ergehen, und
bisweilen gelingt es ihr sogar, sich mit dem Heiligenschein des Ge-
nies zu verherrüchen. Die Möglichkeit dieser letzteren Vorgänge
beruht auf dem Schutz, den die Vorzüglichkeit in irgend einer Rich-
tung auch dem Verkehrten und offenbar Wahnsinnigen dadurch ver-
schafft, dass sie dasselbe theils beschattet theils für die Menge un-
glaublich macht. Der Unerfahrene sieht alsdann über die ärgsten
Thorheiten absichtlich hinweg und glaubt in ihnen nur nebensäch-
liche Sonderbarkeiten oder wenigstens nur misslungene Mitergebnisse
der dem hohen Fluge nun einmal anhaftenden Ueberschwenghch-
keiten vor sich zu haben.
Das Wesen des Wahnsinns könnte uns über das Wesen des
- 184 —
Verstandes auch dann nicht viel Aufschluss geben, wenn jenes selbst
besser ergründet wäre, als es wirklich ist. Man kann allerdings da-
von ausgehen, dass schon der gelinde Wahnsinn in seinen gering-
fügigsten Spuren eine Unterbrechung der Stetigkeit im Fluss der
Vorstellungen und in deren gegenseitigem Verkehr verräth. Die so-
genannten fixen Ideen beginnen mit jeder solchen Verrückung der
Aufmerksamkeit, die dauernd ein freies Ablenken ausschliesst und
so dem Bewusstsein einen Zwang auferlegt. Im übrigens gesundesten
Zustande sind die Ideen, die sich ausschliesslich geltend machen,
nicht weichen und gleichsam fest werden wollen, bereits bedenkliche
Anzeichen und können sich in eigentliche Wahnfixirungen verwan-
deln. Die allseitige Freiheit in dem Spiel der Kräfte ist auch hier
das Grundgesetz der Gesundheit. Keine erhebhche Gleichgewichts-
störung des Bewusstseinsinhalts darf den Charakter der Beharrlichkeit
annehmen, sondern muss durch Bewegungen in anderer Richtung
abgelöst werden, wenn nicht eine unzuträgliche Stauung und viel-
leicht gar nach und nach eine bedrohliche Fixirung eintreten soll.
Der freie Fluss der Ideen, welcher der Willensrichtung ohne Schwie-
rigkeit folgt, ist in der That das Merkmal eines normal thätigen
Verstandes.
Die Phantasie ist jene grosse Macht, durch die wir so viel ver-
mögen, aber auch in entsprechendem Maasse irren. Ihre freie Ge-
staltungskraft kann mit den Wirklichkeiten der Natur mehr als blos
Schritt halten. Die wirklichen Gebilde und die ideellen Entwürfe
entstammen einer und derselben Macht, so dass die Phantasiethätig-
keit zugleich eine Parallele und eine Fortsetzung der schaffenden
Natur wird. Das souveraine Wesen, welches die untern Stufen der
Natur zum Fussgestell hat und in sich alle Arten der Wirklichkeit
vereinigt, setzt mit seiner Phantasie auch mehr oder minder Ver-
stand ins Spiel. Die verhältnissmässige Losgebundenheit der Ima-
gination, deren Deutsche Bezeichnung als Einbildungskraft fiir den
Geist der Urheber dieses schielenden Wortgebrauchs nicht schmeichel-
haft ist und selbst wenig Phantasie verräth, — diese imaginative
Freiheit, die in allen bedingungsweise vorstellbaren Möglichkeiten
zu schweifen vermag, liefert den Spielraum für ein umfassendes Reich
von Wahrheit und Irrthum. Die Neutralität wird hier am meisten
durch die Triebe und Leidenschaften aufgehoben, welche in der Rich-
timg ihrer Erregungen diejenigen Möglichkeiten oder Wahrscheinlich-
keiten am meisten nahe bringen, welche dem jedesmal vorherrschen-
— 185 —
den Affect eine verstandesmässige Ausstattung gewähren. Furcht
und Hoffnung sowie Hass und Liebe lenken die Phantasie in ihrem
Dienst, und der Verstand, der auf eben diese Phantasie als auf sein
Werkzeug und auf die von ihr beschafften Materialien als Rohstoffe
hingewiesen ist, wird in seinen Ergebnissen Einseitigkeiten und
Combinationsfehler zeigen müssen, von denen er sich allerdings im
Allgemeinen, wenn auch nicht jedesmal in dem besondem Fall, durch
nachträgliche Veranschlagung der Affectwirkungen befreien kann.
Ungeachtet dieses theilweisen Widerstreits zwischen Verstand und
Phantasie darf man aber nicht vergessen, dass grade die Phantasie
ein unentbehrliches und überdies schöpferisches Organ des Verstandes
bleibt. Die schematischen Entwürfe zu einfachen räumlichen und
zeitlichen Gebilden beruhen auf der Verbindung der verstandes-
mässigen Regel mit der Durchmessung der phantasiemässigen Mög-
lichkeiten. Aehnlich verhält sich nun die Geistesthätigkeit in allen
Gebieten, und so wird es klar, dass ohne die theils nachbildende
theils frei entwerfende Imagination kein ürtheil und kein Schluss
über die Beziehungen thatsächlicher oder möglicher Gebilde gewon-
nen werden könnte. Die Ausschweifungen der Phantasie sind daher
eine begreifliche Mitgift der in ihr verwirklichten Freiheit. Auch
für den Verstand ist durch kein anderes Mittel die Entbindung von
der Pflege einer beengten Thatsächlichkeit und die Befähigung zu
bedeutenden Vorwegnahmen eines zukünftigen Geschehens möglich.
Die Natur componirt die Elemente, die Phantasie thut dasselbe mit
den elementaren Ideen und zugehörigen Functionen. Die Zeugungs-
fahigkeit des Verstandes würde nie zur Frucht gelangen, wenn sie
nicht ihre Kräfte im Schoosse der Phantasie bethätigen könnte.
4. Das Vorstellungsspiel oder überhaupt die Bewusstseinsthätig-
keit ist im Verhältniss zu allen bewusstlosen Wirkungen etwas Freies.
Vergleichen wir die Vorgänge im Zustande des tiefsten Schlafs oder
einer das Bewusstsein völHg verdunkelnden Ohnmacht mit derjenigen
Thätigkeitsart , die im wachen und regelrechten Zustande durch die
Bewusstseinselemente vermittelt wird, so sehen wir ohne Weiteres
die Kluft zwischen der rein mechanischen oder bewusstlos physiolo-
gischen Wirksamkeit der Reize und den Handlungen unseres die
Beziehungen der Aussen weit spiegelnden Vorstellungsvermögens.
Hiemit erkennen wir auch zugleich den Sinn der sogenannten psy-
chologischen Freiheit, die in der That nichts weiter ist, als die Em-
pfänglichkeit für Bewusstseinsmotive oder, mit andern Worten, die
— 186 —
Bestimmbarkeit durch Gründe d. h. durch vorgestellte Ursachen.
Wenn Flourens seinen Tauben die obem Schichten der grossen He-
misphären des Gehirns abgetragen hatte, so war hiemit die durch
das Yorstellungsvermögen vermittelte Bestimmbarkeit und zugleich
das freiwilHge Spiel der bewussten Selbstbestimmung ausgeschlossen.
Das Leben gestaltete sich fast pflanzenartig, und nur die unmittel-
baren Rückwirkungen auf Reize, wie die Flügelbewegung bei dem
Werfen in die Luft oder die Flüssigkeitseinnahme bei dem Eintauchen
des Schnabels, bekundeten noch die niedern Stufen der animalen
Regsamkeiten. Die Erhaltung eines solchen Lebenszustandes durch
Wochen beweist die verhältnissmässige Unabhängigkeit der leben-
digen Mechanik von der Vermittlung durch Ideen und von der
Unterstützung durch bewusste und mithin eigentliche Willensthätigkeit.
Von einem bewusstlosen Wollen kann man nur vergleichungsweise
oder bildlich reden, und grade hier, wo wir die selbständige und in
diesem Sinne freie Erhebung des Vorstellungsbereichs über den nie-
dern Stufen der sonstigen Naturgesetzlichkeit ins Auge fassen, dürfen
wir das vorstellungsmässige Wollen nicht mit jedem beliebigen Stre-
ben zusammenfallen lassen.
Das Wort Wille hat häufig zu einer falschen Verdinglichung
verleitet. In Wahrheit giebt es nur ein Wollen, und dieses ist ein
Erzeugniss der Zusammensetzung der antreibenden Kräfte des in den
Trieben und Leidenschaften enthaltenen Strebens mit den verstandes-
mässigen Richtungsbestimmmigen. Die Rolle des Bewusstseins ist
für das eigentliche Wollen entscheidend; denn je mehr die verstandes-
mässige Orienfciruug und richtende oder hemmende Einwirkung zurück-
tritt, um so weniger findet sich die Grenze des unwillkürlichen und
dunkeln Waltens der lebendigen Mechanik überschritten. Die Ver-
nunft besteht daher recht eigentlich in dieser Combination der all-
gemeinem, durch Verstandesvorstellungen erweiterten Beweggründe
mit denjenigen Antrieben, die uns unwillkürlich erregen. Wie sich
nun aber die doppelseitige Ursächlichkeit in der g^enseitigen Ein-
wirkung von Verstandesantrieben und unmittelbaren Triebbestimmun-
gen zu irgend einem Ergebniss entscheide, lehrt die besondere Er-
fahnmg. Im Allgemeinen lässt sich nur soviel behaupten, dass die
Natur keine triebförmige Bestimmung ohne die Macht gelassen hat,
sich der Regel nach durchzusetzen, und dass der Vernimft die Rolle
zugefallen ist, sich trotz der Unterwerfung unter jene Noth wendig-
keit in der besondem Anordnung und Anbequemung der Triebthätig-
— 187 —
keiten zu Gunsten der höheren Verstandeseinsicht geltend zu maclien.
Die Stärke der Erregungen wird auch in den meisten besondem
Fällen darüber entscheiden, ob eine verstandesmässige Hemmung
durch eine allgemeinere Vorstellung wirksam eingreifen werde oder
nicht. Dem quälenden Hunger wird durch eine Menge von Gründen,
die einem geringem Grade des Triebes gegenüber eine Ausschreitung
verhindern würden, nun nicht mehr die Waage gehalten, und sogar
der cPTÖsste Abscheu vor einem kannibalischen Verhalten wird unter
o
der Allmacht jenes grausamen Stachels überwunden. Selbst die Vor-
stellung des nahen und gewissen Todes würde hier die Macht des
Augenblicks nicht aufwiegen, und es giebt keinen Grad der Furcht,
der im Allgemeinen solchen Naturkräften gewachsen wäre. Es soll
hiemit die moralische Kraft edler Gesinnung nicht geleugnet werden ;
aber der hochgesinnte Mensch wird in solchen Fällen die übermäch-
tige Natur meistens nur durch das rechtzeitig angewandte Mittel der
Selbstvemichtung zur Ruhe bringen können. Von krankhaften Zu-
ständen, in denen ein selbstgewähltes Verhungern eintritt, ist natür-
hch nicht die Rede; denn in diesem Fall stellt sich der quälende
Stachel mit der ganzen Macht seiner rohen Naturwüchsigksit gar
nicht ein. Die Vernichtung geht unter dieser Voraussetzung vom
Gemüth aus und vollzieht sich gleichsam stetig durch eine allseitige
Störung der wesenthchen Lebensfunctionen. Der Ernährungsmecha-
nismus selbst wird angegriffen, und unter dem furchtbaren Druck,
der auf dem Gemüth lastet, versiegen allmälig auch alle Quellen des
physiologischen Lebensspiels.
An die Stelle aller falschen Freiheifcstheorien hat man die er-
fahrungsmässige Beschaffenheit des Verhältnisses zu setzen, in wel-
chem sich rationelle Einsicht auf der einen und triebförmige Bestim-
mungen auf der andern Seite gleichsam zu einer Mittelkraft ver-
einigen. Die Grundthatsachen dieser Art von Dynamik sind aus der
Beobachtung zu entnehmen und für die Vorausbemessung des noch
nicht erfolgten Geschehens auch, so gut es gehen will, im Allge-
meinen nach Eigenschaft und Grösse zq veranschlagen. Hiedurch
werden die albernen Einbildungen über die innere Freiheit, an denen
Jahrtausende gezehrt und genagt haben, nicht nur gründlich weg-
geräumt, sondern auch durch etwas Positives ersetzt, was sich für
die praktische Einrichtung des Lebens brauchen lässt. Der thörichte
Scheinkampf mit Antrieben, die ihre überlegene Gewalt dem Ver-
stände doch immer wieder von Neuem beweisen, wird auf Grund
— 188 —
der bessern Einsicht mit einer rationellen Ausgleichung und der
unerlässlichen Anbequemung an die Forderungen der Natur ver-
tauscht. Die frivole Leichtfertigkeit aber, mit welcher die falsche
Anwendung der Nothwendigkeitslehre sich über die wirklichen Mächte
der höheren Einsicht und Gesinnung täuscht, wird ebenfalls unmög-
lich gemacht; denn es wird erfahrungsmässig erkannt, wie das Wal-
ten der Bewusstseinskräfte neben den im Allgemeinen heilsamen
Schranken auch eine bedeutende positive Macht habe, auf die man
sich berufen und der man mit moralischen Zumuthungen beikommeu
kann. Uebrigens entspringt auch in anderer Richtung aus der Er-
kenntniss der Macht der Affecte die grosse Lehre, dass wir häufig
grade dadurch am edelsten handeln, dass wir uns Leidenschaften
hingeben, in deren Bethätigung wir oft genug das Eigenleben fiir
das Heil des allgemeineren Daseins opfern. Das Grosse, welches aus
der Leidenschaft entspringt, ist eine übergreifende Handlung jener
Naturmacht, der sich die nüchterne Vernunft ihrem Wesen nach so
gern widersetzt. Sein wir also zufrieden, dass jene Ausgeburten
einer überschwenglichen innem Willkür nichts als metaphysische
Fabelwesen von obenein unlogischer Art sind.
5. Die Ansichten über Verstand und Vernunft sind häufig durch
den Hinblick auf die Sprache verwirrt worden. Wie sich Logik und
Grammatik bis heute noch nicht gehörig auseinandergesetzt haben,
so gilt auch das blosse Werkzeug der Gedankenmittheilung noch
häufig genug für die Vorbedingung des Denkens selbst. Allerdings
ist in der Sprache viel Verstand verkörpert, und die Vernunft, als
praktische Anwendung des Verstandes, würde vereinsamt und ziem-
lich unentwickelt geblieben sein, wenn sie ihren Verallgemeinerungen
und Anschauungen nicht sprachliche, zur Festigung und Ueber-
licferung des Vorgestellten und Gewollten geeignete Zeichen zu geben
vermocht hätte. Hieraus folgt aber das völlige Gegen th eil von der
Annahme, dass die Sprache eine wesentliche Vorbedingung des Den-
kens an sich selbst sei. Es ist vielmehr umgekehrt das Denken eine
unerlässliche Vorbedingung der Spracherzeugung. Der Verstand ge-
staltet auf Grundlage der Triebe und Gemüthsbewegungen die Laute,
die sich mit den Empfindungen und Anschauungen nach Maassgabe
der verfügbaren Sprech Werkzeuge und der jedesmaligen Umstände
der Auffassung verknüpfen sollen. Weiss auch Niemand, wie sich
die anscheinend zufallige und willkürliche Bestimmtheit der Ur-
bezeichnungen grade so und nicht anders gebildet habe, so dürfen
— 189 —
wir doch voraussetzen, dass die heute in der grössten Mannichfaltig-
keit auseinandergehenden Sprachen keine geringere Gemeinschaft
hinter sich haben, als der Typus Mensch mit seinen Racen, Natio-
nalitäten und Stammesunterschieden. Da überdies die Sprache ihrem
Wesen nach eine Verallgemeinerung ist und sich durch den Verkehr
erst zu derjenigen Gleichmässigkeit entwickelt, mit welcher sich eine
grössere Tragweite für viele, sonst in Mundart oder gar Einzel-
gestaltung abweichende Gruppen verbindet, so hat man ein Recht
anzunehmen, dass die ursprüngliche Beschaffenheit der Sprach Werk-
zeuge zusammen mit den verschiedenartigen Anregungen der Um-
gebung und unter dem Eindruck der ebenfalls noch ungebunden
schweifenden Gemüthsantriebe, in strengster Naturgesetzlichkeit und
ohne Dazwiscbenkuaft einer launenhaften Willkür oder überlegten
Absichtlichkeit, die den Zuständen entsprechenden Wortgestalten er-
zeugt habe. Das auf üebereinkunft Beruhende muss einer spätem,
bedeutend höhern Entwicklungsstufe angehört haben ; denn diese Art
der Fortbildung setzt schon die sprachliche Mittheilbarkeit des Ver-
standes in einem hohen Grade voraus. Doch geht uns hier die Fern-
haltung der voreiligen Neigungen, das unwillkürlich Schaffende vor
der bewussten Einwirkung zu bevorzugen, nicht weiter an. Man
wird von dieser Thorheit des Jahrhunderts ablassen, sobald man für
das Verstandesmässige wieder selbst mehr Verständniss zur Ver-
fügung hat.
Wir können die strengsten Schlüsse über räumhche Verhältnisse,
über Zahlenbeziehungen und sogar über fremde Empfindungszustände
machen, ohne dass uns dabei irgend ein Wort dieser oder jener
Sprache als Leitfaden behülflich zu sein brauchte. Die Blitzesschnelle,
mit welcher der Gedanke seine Bahn durchläuft, ist nicht von den
Erschütterungen abhängig, in denen er sich nachträglich eine laute
Kundgebung verschafft. Auch der stummen Wortbilder bedarf man
zum Denken nicht wesenthch, und wenn sie auch immerhin als will-
konunene Erleichterungsmittel für einen schwerfälligen Verstand
dienen mögen, so leisten sie doch nicht im Entferntesten das, was
man dem geordneten Gebrauch der schriftlichen Zahlenbilder für das
Rechnen zu verdanken hat. Wer nur an der Hand der Sprache zu
denken vermag, hat noch nie erfahren, was abgesondertes und eigent-
liches Denken zu bedeuten habe. Gewohnheitsmässig übersetzen sich
uns die Gedanken wohl auch zur Unzeit in sprachliche Formen, und
dies ist ein sicheres Zeichen, dass wir in der Anspannung und Un-
— 190 -
mittelbarkeit des Verständnisses nachlassen. Wir greifen alsdann zu
einer Stütze, die nur für die Mittheilung geschaffen ist und allen-
falls noch einen Sinn hat, wenn es sich um ein aus der Leidenschaft
stammendes Selbstgespräch handelt. Üebrigens ist die Einmischung
der stillen Wortvorstellungen in die mit sich selbst beschäftigte Ver-
standesthätigkeit nur eine Belästigung, die man freilich nicht immer
gänzlich verscheuchen wird, weil die Gewohnheiten des Verkehrs die
fraglichen Verknüpfungen gewisser Vorstellungen mit ihrer Wort-
einkleidung uns geläufig und gleichsam zur zweiten Natur gemacht
haben.
In der immittelbarsten und vertrautesten Beziehung zu den
Wortwirkungen stehen die Gemüthsbewegungen. Das Ohr ist der
für Furcht und andere Erschütterungen des Genlüths empfänglichste
Botschafter. Wo unsere ünverletztheit; auf dem Spiele steht, da soll
jenes Organ die Gefahr verkünden. Allein in dieser Rolle muss es
oft zuviel thun, und in der That wird jeder starke und ungewöhn-
liche Angriff, der es trifft, zu einer aufstörenden Rüttelung. Die
Vernunft hat nun solchen Eindrücken, wie namentlich die aber-
gläubischen Völkerphantasien zeigen, nicht nur keine Förderung,
sondern gradezu eine Beeinträchtigung ihrer Eigenart zu verdanken.
Die auf diese Weise erregten Affecte sind die schwache Seite der
menschlichen Empfänglichkeit, und die Sprache, die sich an das Ohr
wendet, verkehrt durch einen Canal, der vorzugsweise der Träger
der die Vernunft oft genug betäubenden Eindrücke ist. Man könnte
mithin auf nichts Thörichteres verfallen, als in der Sprache die Bild-
nerin der Vernunft suchen zu wollen. Das Gefühlsleben, wie es sich
in der Musik ausdrückt, schliesst noch keine verstandesmässigen
Unterscheidungen ein. Erst die Sprache verkörpert dieselben, aber
sie ist im Interesse ihres Hauptzwecks, nämhch der Mittheilung, aus
Stoffen gewebt, welche die reine Gestalt des Gedankens nur zugleich
mit dem Nebenwerk der Verhüllimg sichtbar machen. Das Zeichen
ist nicht die Sache und das im Worte liegende Zeichen nicht einmal
immer ein hinreichend zuverlässiger Berichterstatter von dem eigent-
lichen Vorgang. Können wir nun aber auch die Sprache nicht als
Grundlage von Verstand und Vernunft betrachten, so ist in ihr doch
jedenfalls viel an Verstand und Unverstand niedergelegt, und die Ver-
breitung von Verständniss und Missverständniss der Dinge und Men-
schen ist ihr ganz und gar zuzuschreiben. Ueberdies erkennen wir
an den heutigen Sprachen die allmälige Aufliäufung einer Reihe von
— 191 —
Gedanken Verkörperungen, aus der sich auf die Geschichte des Be-
wusstseins selbst Rückschlüsse machen lassen. Die Theile und Gre-
stalten, aus denen sich unser heutiges Bewnsstsein zusammensetzt,
haben in dieser Ausbildung und Sonderung nicht von Anfang an
vorhanden sein können. Es ist vielmehr anzunehmen, dass nicht
nur die Entwicklung der Sprache einen gleichlaufenden Fortschritt
des Bewnsstseins voraussetzt, sondern dass ihr auch eine geistige
Stufenfolge vorangegangen ist, die noch nicht zu einem erheblichen
Mittheilungsgebilde sprachhcher Art geführt hatte. Um so wichtiger
ist nun aber die heutige Reichhaltigkeit des geistigen Verkehrs, und
auf dessen Vermittlung, nicht aber auf einer Ermöglichung des ver-
einzelten Denkens, beruht die ganze, hienach also wesentlich sitt-
liche und gesellschaftliche Bedeutung der Sprache. In der That
wären die zerstreuten Einzelbewusstsein Wenig, wenn nicht die
Sprache eine Gemeinschaft von Verstand und Vernunft unter Vielen
hervorgebracht und so die collectiven Anregungen des Gemeinlebens
vermittelt hätte.
Vierter Abschnitt.
Sitte, Gereclitigkeit und edlere lenschliclikeit.
Erstes Oapitel-
Gnindgesetze der Moral.
Jedes der verstandesmässigen Ueberlegung fähige Wesen wird iu
irgend einem Grade seine Handlungen nach Maassgabe seiner Er-
fahrungen von Gut und Schlimm mit bewusster Absichtlichkeit ein-
richten können. Seine Vorstellungen vom Schlechten und Guten
werden sich im Sinne seiner Empfindungen, Triebe und Leiden-
schaften bestimmen. Das dauernd Wohlthätige, wodurch seiner
Natur im Ganzen oder in den Theilen eine Förderung widerfährt,
wird ihm als das Gute gelten. Jede Schädigung wird von ihm als
etwas Schlimmes und, insofern sie auf die Absicht eines andern
Wesens zurückzuführen ist, als etwas Böses verurtheilt und bekämpft
werden. Die Einrichtung seines eignen, als vereinzelt gedachten
Verhaltens wird eine Art Kunst erfordern, mit welcher der Verstand
die Handlungen nach Art und Maass zu regeln und ausserdem die
Wiederkehr der angenommenen Verfahrungsarten durch Gewöhnung
und Uebung zu sichern hat. Hiemit ist die Sitte des Einzelwesens
als ein Inbegriff von grundsätzlichen Verhaltungsarten und verständig
begründeten Gewohnheiten bereits hinreichend bezeichnet, um die
allgemeinste Bedeutung des Wortes Moral als eines Ausdrucks für
die zur Sitte gehörigen Angelegenheiten zu rechtfertigeu. Zugleich
ersieht man aber auch aus dieser Rechenschaft, dass die Elemente
der Moral einfache Entscheidungen sein und sich bei allen ausser-
menschlichen Wesen, in denen sich ein thätiger Verstand mit der
bewussten Ordnung von fcriebformigen Lebensregungen zu befassen
hat, in übereinstimmender Weise, wenn auch nicht in gleicher Zu-
— 193 —
sammensetzuüg oder Reichhaltigkeit wiederfinden müssen. Was wir
von der kosmischen Einheit der chemischen Verfassung und der ent-
sprechenden Gleichartigkeit der Bewusstseinseinrichtungen auf allen
Weltkugeln annehmen mussten, nämlich die Gemeinschaftlichkeit
der Materialien und Functionen in einem Bau von universeller Ana-
logie und Systematik, — das können wir auch bei der Moral nicht
ausschliessen. Doch wird unsere Theilnahme für solche Folgenmgen
gering bleiben, und nur der einzige Satz, dass die Vorbedingungen
eines Sittensystems schon in der Combination von Trieb und üeber -
legung gegeben sind, mag uns als eine werthvoUe Verallgemeinerung
unseres Wissens von den Grundlagen der Sittlichkeit gelten. Ausser-
dem bleibt es aber immer eine den Gesichtskreis wohlthätig erwei-
ternde Idee, wenn wir uns vorstellen, dass auf andern Weltkörperu
das Einzel- und das Gemeinleben von einem Schema ausgehen muss,
welches sich zwar über die Grundlagen unserer Natur höher erheben
oder hinter denselben zurückbleiben mag, aber nicht vermag, die
allgemeine Grundverfassung eines verstandesmässig handelnden Wesens
aufzuheben oder zu umgehen.
Die Bildung von wiederkehrenden Verhaltungsarten ergiebt an
sich selbst zwar eine Form der Lebensweise, aber noch keine eig ent-
liche Sitte. Die Natur zeigt überall Periodicitäten des Daseins, und
in den lebendigen Wesen, wo ja ebenfalls die Beharrung im Wechsel
sich auf keine andere Weise als durch Wiederholungen derselben
Thätigkeitsform bekunden kann, ergeben selbst die Gewohnheiten
noch nicht eigentliche Sitten. Die sich wiederholende Art des
Lebensspieles und der rein thierischen Thätigkeiten in dem unter
dem Menschen stehenden Gebiet der Animalität, sowie die ent-
sprechende niedere Stufe im Menschen selbst, mag immerhin gele-
gentlich als Sitte bezeichnet werden; aber hiemit ist nichts weiter
zugestanden, als dass der sprachliche Sinn des Wortes weiter reicht,
als derjenige Begriff, den wir mit diesem Wort in der mensch liehen
Sittenlehre verbinden. Auch muss mit dieser Unterscheidimg das
rohe Vorurtheil schwinden, als wenn schon die blosse Thatsache von
Gewohnheiten etwas Sittliches mit sich brächte. Es giebt überhaupt
gar nichts in der Welt, was sich im Laufe des Geschehens nicht in
irgend einer äusserhchen üebereinstimmung von wiederkehrenden
Thatsachen bethätigen müsste. Wir können also aus dem blossen
Dasein gewohnheitsmässiger Verhaltungsarten weder auf Sitte noch
auf Unsitte schliessen; denn diese Thätigkeitsbekundungen können
Dühring, Cursus der Philosophie. 13
— 194 —
ja einem Gebiet angehören, welches zu tief gelegen ist, um mit dem
sittlichen Maassstab gemessen zu werden. Gehörten aber auch etwa
die Gewohnheiten dem hohem Bereich der Sitte an, so wäre immer
noch erst zu entscheiden, ob sie etwas sittUch Gutes oder etwas
sittlich Schlimmes haben einwurzeln lassen.
2. Das, was geschehen sollte, ist das Musterbild; aber die Grund-
gesetze der Sittentheorie verlieren nicht an Wirklichkeit, weil der
Lauf der Handlungen die Bethätigimg von Lastern und Verbrechen
mit Nothwendigkeit einschliesst. In der That befassen wir uns in
der Moral mit dem, was wirklich geschehen ist, geschieht und ge-
schehen wird. Wir thun dies aber auf eine ähnliche Weise, wie
wenn wir in der Wissenschaft danach fragen, was wirklich gedacht,
nämlich erkannt oder misskannt worden ist. Die Gesetze des Er-
kennens sind einheitlich; aber auch hier ist das, was vorgestellt
werden soll, vielfach etwas Anderes als das, was in der That vor-
gestellt wird. Das Reich des theoretischen Lrrthums ist sogar un-
vergleichlich umfangreicher, als das der Wahrheit. Trotzdem lässt
uns die Sicherheit strengen Wissens und die Zulänglichkeit der ge-
meineren Erkenntuiss nicht dazu kommen, in besounenem Zustande
an der absoluten Gültigkeit der Wissensprincipieu und ihrer hohen
Bedeutung fi\r die Selbstbefriediguug oder die äussern Zwecke des
menschlichen Wesens zu verzweifeln. Schon der dauernde Zweifel
selbst ist ein krankhafter Schwächezustand und nichts als der Aus-
druck wüster Verworrenheit, die bisweilen in dem systematisirteii
Bewusstsein ihrer Nichtigkeit den Schein von etwas Haltung aufzu-
treiben sucht. In den sittlichen Angelegenheiten klammert sich die
Leugnung allgemeiner Principien an die geographischen und ge-
schichtlichen Mannichfaltigkeiten der Sitten und Grundsätze, und
giebt man ihr die unausweichliche Nothwendigkeit des sittlich
Schlimmen und Bösen zu, so glaubt sie erst recht über die Aner-
kennung der ernsthaften Geltung und thatsächlichen Wirksamkeit
übereinstimmender moralischer Antriebe hinauszusein. Diese aus-
höhlende Skepsis, die sich nicht etwa gegen einzelne falsche Lehreu,
sondern gegen die menschliche Fähigkeit zur bewussten Moraliti^^
selbst kehrt, mündet schliessHch in ein wirkliches Nichts, ja eigen:
lieh in etwas, was schlimmer ist, als der blosse Nihihsmus. Sie
untergräbt das Vertrauen in die Geltung und Wirksamkeit mora-
lischer Verbindlichkeiten; ja sie eutwurzelt den Glauben an die
blosse Möglichkeit eigentlicher Zumuthungen und walirhafter Pflichten.
- 195 —
Sie schmeichelt sich, in ihrem wirren Chaos von aufgelösten sitt-
lichen Vorstellungen leichten Kaufs herrschen und dem grundsatz-
losen Belieben alle Thore offnen zu können. Sie täuscht sich aber
gewaltig; denn die blosse Hinweisung auf die unvermeidlichen Schick-
sale des Verstandes in Irrthum und Wahrheit genügt, um schon
durch diese einzige Analogie erkennbar zu machen, wie die natur-
gesetzliehe Fehlbarkeit die Vollbringung des Zutreffenden nicht aus-
zuschliessen braucht. Der Verstand muss unter gewissen Umständen
irren, wie z. B. in der ursprünglich naturnothwendigen Auffassung
des Scheins der Sonnenbewegung als einer Wirklichkeit. Ebenso
muss der Trieb des Menschen unter gegebenen Voraussetzungen fehl-
greifen, wie z. B. der Hunger, wenn er, wie namentlich auch bei
den Thieren, dadurch zur Ueberfüllung führt, dass er physiologisch
nicht rasch genug und nicht sofort mit dem Augenblick verschwindet,
in welchem die eingenonnnene Nahrungsmenge genügt, um in einiger
Zeit jede stärkere Spannung im Ernährungszustande auszugleichen.
Die Ausschweifung ist hier insoweit ein naturgesetzliches Verhäng-
niss, als thatsächlich die innere Oekonomie der Einleitung des gleich-
massigen Ernährungshergangs eine zu lange Zeit braucht, die Reiz-
empfindung des Hungers verschwinden zu lassen. Auch die Gemüths-
antriebe sind an sich selbst fehlbar, so dass man zur Ableitung
ihrer nothwendigen Fehlgriffe sich erst in zweiter Linie um die
eingemischten Verstandesirrthümer zu kümmern hat. So ist, um
nur einen der wichtigsten Affecte hervorzuheben, das Rachegefühl
zwar ein Anzeiger .der Verletzungen, aber doch nur ein rohes Mess-
werkzeug ihrer Grösse. Reichen nun auch zunächst derartige Ur-
theile und Schätzungen der Verhältnisse ebenso gut aus, wie die
Beiutheilung der Wärme durch das Gefühl, so sind sie im Hinblick
auf entwickeltere Mittel auch ebenso schlecht, und man wird die
Fortsetzung der Naturarbeit an ihnen als die eigenthche Aufgabe
der Cultur anzusehen haben. Die Natur ist nicht blos in Miss-
geburten fehlbar, sondern auch in ihrer Anlage des sittlichen Me-
chanismus. Diese Fehlbarkeit beruht, wie diejenige des Verstandes,
auf Hindernissen, deren Ueberwiudung schematische Einrichtungen
mit getheilten und einseitigen Functionen nöthig machte. Ein ebenso
genaues Sehen in der Nähe wie in der Ferne ist etwas in sich Wider-
sprechendes ; fordert man aber, dass der unmittelbare Eindruck eines
Triebreizes oder einer spornenden Gemüthsbewegung dasselbe leisten
soll, was die entferntere, die weniger betheihgte oder die verstandes-
13*
— 196 —
massig rechnende Beurtheilung mit sich bringt, so zielt man anf
eine ähnliche, einen realen Widerspruch einschliessende Unvereinbar-
keit. Sein wir also zufrieden, dass die moralische Welt so gut wie
diejenige des allgemeineren Wissens trotz Irrthümern und Fehlgriffen
ihre bleibenden Principien und einfachen Elemente hat. Das Ver-
brechen ist so wenig eine Instanz gegen die Wirklichkeit des mo-
ralisch Guten, als der Irrthum ein Beweis gegen das Dasein einer
nicht blos wahrheitsfähigen sondern auch thatsächlich zu Wahrheit
und Wissenschaft fuhrenden Verstandeserkenntniss sein kann.
Nach dem Vorangehenden kann es keine besondere Frage mehr
sein, ob die moralischen Principien über der Geschichte und auch
über den heutigen Unterschieden der Völkerbeschaffenheiten stehen.
Diese Principien sind lauter natürliche Triebkräfte, die von vorn-
herein wirken, und die besondern Wahrheiten, aus denen sich im
Laufe der Entwicklung das vollere moralische Bewusstsein und so
zu sagen das Gewissen zusammensetzt, können, soweit sie bis in
ihre letzten Gründe erkannt sind, eine ähnliche Geltung und Trag- ^
weite beanspruchen, wie die Einsichten und Anwendungen der Ma-
thematik. Echte Wahrheiten sind überhaupt nicht wandelbar und
werden stets so gedacht, dass sie zu jeder Zeit als auf die zugehöri-
gen Voraussetzungen anwendbar vorzustellen sind. Auch diejenigen
Wahrheiten, die nicht eine allgemeine Beziehung, sondern das Ge-
schehen einer vereinzelten und völlig individuellen Thatsache aus-
drücken, bleiben es in alle Ewigkeit, so dass es überhaupt eine Thor-
heit ist, die Richtigkeit der Erkenntniss als von der Zeit und den
realen Veränderungen angreifbar vorzustellen. Auf diese Weise ver-
hält es sich nun auch mit den moralischen Grundgesetzen. Die Ent-
wicklung eines deutlichen Bewusstseins und die Hineinarbeitung in
die Zustände bedarf allerdings langer Zeiträume ; aber diese Art Ab-
hängigkeit von Zeit, Ort und Umständen betrifft nicht die Wahrheit
und absolute Gültigkeit selbst, sondern nur die Kenntniss und Be-
thätigung davon. Die positive Moral ist überdies ein Gebilde, in
welchem sich die sittlichen Grundtriebe mit den zum Theil wandel-
baren Voraussetzungen besonderer Zustände vereinigt und so eine
Zusammensetzung ergeben haben, die nicht nur aufgelöst werden
kann, sondern es mit den thatsächHchen Veränderungen auch muss.
Hiebei ist fiir die Nothwendigkeit dieser Zersetzungen noch nicht
einmal die positive Unsitte oder die Wirkung blos angeblicher Wahr-
heiten in Anschlag gebracht.
— 197 —
3. Man kann die Moral aus dem Willen ableiten, wenn dieser
nur als ein Wollen verstanden wird, welches sich aus der Verbindung
von Trieben, Leidenschaften und Yerstandeseinsichten mit Noth-
wendigkeit erzeugt. Es ergiebt sich alsdann zunächst die Mischung
von Sitte und Unsitte, und das bessere Verhalten ist eine kritische
Ausscheidung, zu deren Vornahme sich das mannichfaltige Streben
durch Erfahrung oder durch eine die Wirkungen vorwegnehmende
Beurtheilung erst in sich selbst, in den Dingen und in den Verhält-
nissen zurechtgefunden haben muss. Sobald man aber den Willen
in verworrener Weise oder wohl gar nicht individuell, sondern in
nebelhafter Allgemeinheit als einen dunkeln unfassbaren Grund ein-
führt, können die Folgerungen ebenfalls nicht klar sein, und eine
derartig trübe Darlegung der Moral ist schlimmer als keine. Schon
Kant hat Rousseaus ziemlich klar gefasste Vorstellung von einem
allgemeinen Willen, der bei dem grossen Genfer ein Ergebniss der
politischen Vergesellschaftung der Einzelwillen sein sollte, halbmystisch
umnebelt, und die Epigonen, wie namentlich ein Hegel, sind in
dieser Richtung mit ihrem sittlichen Willen erst recht herunter-
gekommen. Wir haben daher Ursache, den Willen als das Product
von zwei Factoren scharf und unzweideutig erkennbar zu machen,
ohne irgend etwas Unbekanntes einzumischen, was nicht innerhch
oder äusserlich festzustellen wäre. Antriebe und Einsichten aller Art
ergeben ein bewusstes und absichtliches Streben, und hierin allein
sehen wir den Willen.
Die Verschiedenheit der Individualcharaktere, die auf einer un-
gleichartigen Mischung oder Grössengestaltung der Neigungen und
Vorstellungsanlagen beruht, ist für die Artung des Wollens und für
den Gegensatz von Gut und Schlimm von der höchsten Bedeutung.
Die Menge der Thiercharaktere kann uns den Sinn der mannich-
faltigen Gemischtheit menschlicher Typen erläutern. Das boshafte
im Gegensatz des guten Gemüths ist ein Naturverhältniss und wird
auch von der Cultur hervorgebracht, ist aber stets so eingewurzelt,
dass nur lange Geschlechterfolgen und Umwandlungen, die meist
noch mit eigentlichen Mischungen verbunden sein werden, seinen
Verderb oder seine Verbesserung zu bewerkstelligen vermögen. Nun
beruht aber das befriedigende Wohlsein in erster Linie auf jener
natürlichen oder zur zweiten Natur gewordenen Güte des Gemüths.
Das Vorherrschen der positiven Gefühle, deren schöpferische, mehr
als auf blossen Frieden gerichtete Eigenart im Verkehr die zuver-
— 198 —
lässigsten Verbindungen schafft, ist aucli für den einsam gedachten
Einzelnen diejenige Charaktergestaltung, bei welcher er sich am
meisten mit sich selbst in Uebereinstimmung finden wird. Dagegen
kehren 'sich die boshaften Neigungen auch da, wo sie ganz ohne
Wirkung auf Andere gedacht werden, in der Auffassung aller Dinge
gegen ihren eignen Träger. Der letztere wird dazu genöthigt, sein
eignes widerwärtiges Selbst und die in ihm angelegte feindselige
Spannung zu empfinden und so die Rückwirkungen der Bosheit,,
auch ohne dass sie sich verwirklicht, als Missgefähl eines innem
Widerstreits gleichsam zu gemessen. Ein raubthierartiger Bestand -
theil, wie er in menschlichen Individuen als Charakterelement häufig
genug vorhanden ist, kann im günstigsten Falle nur dahin führen,
dass den Trägem dieser Eigenschaft zum Theil wie derjenigen Bestie
zu Muthe ist, welcher die betreffende Art von Raubgier von Natur
oder durch Entwicklung der Thiersitte zukommt. Im weniger gün-
stigen Fall, welcher innerhalb der Civilisation der vorherrschende
sein muss, wird jedoch die mit der schlechten Gier verbundene Rück-
wirkung als Entfremdung gegen die bessere Menschlichkeit unwill-
kürlich gefühlt, ohne dass ein deutliches Bewusstsein oder gar eine
bessere Absicht vorhanden zu sein brauchte. Der Gemüthszustand
jedes Wesens hängt von der Artung, Grösse und Abstufung der in
ihm angelegten und bethätigten Antriebe ab. Wo nun die Bestie
als Bestandtheil im Menschen gleichsam noch wohnt, da wird im
wilden Zustande die Selbstempfindung einfach bestienhaft, Angesichts
einer hohem Entwicklung und Umgebung aber oft schlimmer als
bestialisch sein. Wird aber die Kluft auch auf den hohem Stufen
des Daseins ausnahmsweise kaum wahrgenommen, so ist dies ein
Zeichen rückständiger Rohheit, wie sie manchen, besonders auf Raub
angewiesenen Gesellschaftselementen allerdings mit einer gewissen
Naivetät anhaften kann.
Indem man die von Natur angelegte Feindschaft oder die gegen-
theilige Positivität als Wurzel des moralischen Verhaltens bloslegt,
dringt man in das Wesen des Guten und Bösen ungleich tiefer ein,
als es diejenigen thun, die sich mit der Aufmerksamkeit auf die
jedesmaligen Handlungen und Absichten oder wohl gar mit der
blossen Veranschlagung des Verstandesan theil s begnügen. Racen und
Stämme haben ihre besondere Gefuhlsweise, und wenn dieser letztere
Begriff nicht völlig dunkel bleiben soll, so muss die stärkere Span-
nung mancher Triebe, die höhere Gluth einzelner Leidenschaften
— 199 —
oder das Dasein und Vorherrschen bestimmter Neigungen, die un-
beschadet des menschKchen Gattungscharakters auch fehlen könnten,
zur näheren Rechenschaft nachgewiesen werden. Sobald man Letzteres
vermag, hat man auch das wichtigste Element zum Verständniss der
besondern Sittengestaltung in der Hand. Schliesslich ist es bei Ein-
zelnen und Völkern die besondere Artung und Stärke des aus jenen
Elementen producirten Willens, wodurch ihre Verfahrungsarten und
Grundsätze auch in den besondern Eigenthümlichkeiten verstandes-
mässig ableitbar werden.
4. Echte Pflichten sind ohne die Möglichkeit ernsthafter Zu-
muthungen und daher ohne ein eigentliches Sollen nicht denkbar.
Das letztere ist ein Verhältniss von Wille zu Wille. Die Natur
kann uns mit ihren Kräften mannichfaltig erregen und bestimmen,
aber nicht verbindlich machen. Sie steht uns nicht als ein gleich-
artiger Wille, ja überhaupt nicht als Wille gegenüber. Wir ver-
kehren mit ihr nicht auf Du und Du, ausser wenn wir sie in aber-
gläubischer Weise zu einer Person gemacht oder hinter ihr einen
bewussten Willen erdichtet haben. Ein Mensch, insofern er als
einzig oder, was dasselbe leistet, als ausser jedem Zusammenhang
mit Andern gedacht wird, kann keine Pflichten haben. Für ihn
giebt es kein Sollen, sondern nur ein Wollen, welches durch ver-
schiedene, aber niemals ilim gleichartige Kräfte bestimmt wird. Das
Wollen der höhereu Thiere ergiebt allerdings ein wenn auch un-
gleiches so doch dem bewussten Willenseinfluss angehöriges Ver-
hältniss; aber auch hievon haben wir in unserer Voraussetzung des
sich der Natur gegenüberbefindenden und übrigens völlig isolirten
Menschen abgesehen. Auch die Tendenzen, die man in der Natur-
einrichtung und zwar auch in derjenigen des eignen Leibes auffinden
mag, können in uns nur ein rationelles Wollen, aber nie ein Sollen
begründen.
Richtet sich auf einen menschlichen Willen ein zweiter mit der
für den ersteren erkennbaren Absicht, ihn zu bestimmen, so kann
dieses Verhältniss der Ausdruck einer blossen Gewaltzumuthung sein.
Alsdann ist ein thatsächliches Soll, aber nicht im Entferntesten ein
moralisch verbindliches, d. h. durchaus keine Pflicht vorhanden. Um
ein moralisches Sollen zu erzeugen, ist eine innerlich als verbindlich
anzuerkennende Bestimmung des eignen Willens durch einen fremden
erforderlich. Da nun das höhere Gebiet der Moral nicht auf den
Gesetzen des isolirten WoUens, sondern auf den Principien des durch
— 200 -
die Doppelheit und Gegenseitigkeit des WoUens erzeugten Sollens
beruht, so ist die Auseinandersetzung mit den Entstehungsgründen
aller Verbindlichkeit eine für die Sittentheorie entscheidende An-
gelegenheit. Zwei menschliche Willen sind als solche einander völlig
gleich, und der eine kann dem andern zunächst positiv gar nichts
zumuthen. Aber grade hierin liegt schon eine negative Pflicht au-
gedeutet. Abgesehen von irgend einem besondem Grunde, der nicht
aus den beiden Willen, sondern aus einem dritten neutralen Gebiet
stammen möchte, ist die Enthaltung von einer Zumuthung, ge-
schweige von einem Zwang gegen den andern Willen eben die ent-
scheidende Verbindlichkeit. Es tritt uns Jemand bereits moralisch
zu nahe, wenn er im Allgemeinen verlangt, dass sein Wollen als
solches mehr gelte als das unsrige. So etwas kann er niemals an-
ders als durch innere oder äussere Gewalt durchsetzen. Die wirklich
z ulässigen Abhängigkeiten erklären sich aber aus Gründen, die nicht
in der Bethätigimg der beiden Willen als solcher, sondern in einem
dritten Gebiet, also z. B. Kindern gegenüber in der Unzulänglichkeit
ihrer Selbstbestimmung zu suchen sind. Sich gegenseitig der Ver-
letzungen zu enthalten d. h. das Wollen des Andern dem seinigen
als an sich gleichwerthig achten, ist hier das erste Grundgesetz der
intersubjectiven Moral. Hiemit ist zugleich der Ausgangspunkt aller
verstandesmässigen Gerechtigkeit bezeichnet. An sich ist der Wille
des Einzelmenschen nicht verbunden, sich einem andern Willen zu
unterwerfen. Hieraus folgt aber sofort, dass er auch selbst kein
Recht haben kann, einen andern Willen unterwerfen zu wollen. Diese
gegenseitige Enthaltung befasst Alles, was sich, abgesehen von der
Einfährung der nicht im blossen Willen liegenden Rücksichten, über
das moralische Sollen ausmachen lässt. Das Einzelwollen bleibt so-
lange in seiner Grenze, bis es sich einem andern Wollen aufnöthigt.
Alsdann beginnt mit diesem, den Typus aller Verletzungen ein-
schliessenden Uebergrifl" ein rückwirkendes Sollen, welches sich auf
die Beseitigung und Ausgleichung jener Fundamentalverletzung richtet.
Indem wir unsem Ausgangspunkt von zwei gleich werthigen Willen
nahmen, sind wir zu der wichtigen Einsicht gelangt, dass positiv
für den Menschen nur ein Wollen und erst negativ im Hinblick auf
wirkliche oder mögliche Verletzungen des fremden Willens ein Sollen
existiren kann. In der That wäre es auch wunderbar, wenn eine
bis an die Wurzeln reichende Untersuchung zu einem andern Er-
gebniss geführt hätte. Zwischen Mensch und Mensch muss sich das
— 201 —
Verhältniss des Soileus in jeder Richtung gleichstellen, gleichviel ob
man von dem Ersten zum Zweiten oder von dem Zweiten zum
Ersten übergeht. Es ist also erst die einseitige Verletzung, welche
einen Unterschied hervorbringen würde oder thatsächUch hervorbringt.
Jede Verbindhchkeit ist eine Gebundenheit und, solange der Wille
nicht über sich selbst zur Unterdrückung eines andern Willens über-
greift, bleibt er ungebunden, und es giebt für ihn kein Sollen. Auch
ist diese Wahrheit, wie man sieht, allein mit der Würde und Frei-
heit des Individuallebens verträglich.
Wir haben mit dem eben Entwickelten vorzugsweise die Grund-
form der moralischen Gerechtigkeit gekennzeichnet. Nehmen wir
aber an Stelle der Verletzung eine besondere Förderung an, womit
anstatt eines Sinkens unter das Verhältniss der Gleichgültigkeit der
beiden Willen eine Erhebung eintritt, auf welche die natürliche
Rückwirkung ein Dankbarkeitsgefühl ist, so muss die Hinwegsetzung
über dieses Gefühl ähnlich betrachtet werden, als wenn eine positive
Nichtachtung des fremden Willens vorhanden wäre. Ich sage ähnlich
und nicht gleich; denn die natürliche Pflicht der Dankbarkeit ist
von anderer Art, als das auf die Gerechtigkeit gerichtete Sollen.
Allerdings findet auch hier eine Verletzung statt, aber nicht eine
solche, welche den fremden Willen in dem ihm ursprünglich eignen
und seiner Natur nach stets zukommenden Bereich unterdrückend
antastet.
5. Wo die Bestie und der Mensch in einer Person gemischt
sind, da kann man im Namen einer zweiten völlig menschlichen
Person fragen, ob deren Handlungsweise dieselbe sein dürfe, als
wenn sich so zu sagen nur menschliche Menschen gegenüberstehen.
Auf die Schlechten unter den Meu sehen wies Macchiavelli hin, um
die schhmmeu Mittel zu rechtfertigen, mit denen man ihrer natür-
lichen Feindschaft zu begegnen habe. Wer unter einer Rotte von
Bösewichtern, meinte er, nach sogenannten guten Grundsätzen han-
deln wolle, müsse nothwendig zu Grunde gehen. In der That kann
das Verhalten nicht dasselbe sein; denn zwischen dem Schlechten
und dem Guten giebt es nothwendig Feindschaft und es besteht
zwischen ihnen fortwährend ein unvermeidlicher Widerstreit, der
unter Umständen die rohe Form der Gewaltübung und unter andern
Umständen diejenige der Bethätigung von List und mittelbarer Ver-
folgung annehmen wird. Der eigentliche Krieg ist nur eine besondere,
sich in grossem Dimensionen bewegende Gattung der Feindschafts-
— 202 —
bethätigung. Im Privatleben stehen die Einzelnen einander ähnlich
gegenüber wie die Völker. Die Schranke, die das Zwangsrecht zieht,
kann eben nur als ein Hinderniss gelten, durch welches im Privat-
kriege von Person zu Person die Anwendung einiger Mittel erschwert
wird, und grade für die eigentliche Moral ist das Yerhältniss von
Person zu Person ein ähnlich ungebundenes, wie dasjenige von Volk
zu Volk. Auch müssen die Principien für beide Gebiete gemein-
schaftlich sein. Es ist daher unsere Voraussetzung von zwei moralisch
ungleichen Personen, deren eine an dem eigentlichen Bestiencharakter
in irgend einem Sinne theilhat, die typische Grundgestalt für alle
Verhältnisse, welche diesem Unterschiede gemäss in und zwischen
den Menschengruppen, von der kleinsten bis zur grössten, vorkommen
können. Denken wir uns namentlich Raubgier und Hinterhältigkeit
in thierisch mustergültiger Weise oder gar in der Steigerung, welche
die Culturkünste mit sich bringen, in einzelnen Menschen oder
Menschengruppen verkörpert, so ist solchen Bestand theilen gegen-
über das morahsche Verhalten nach Anleitung jenes einfachen Schema,
in welchem nur zwei Personen in Frage sind, principiell am leich-
testen festzustellen.
Zunächst ist das fortwährende Misstrauen und eine entsprechende
Handlungsweise dem Schlechten und mithin Feindlichen gegenüber
eine völlig natürliche und auch eine berechtigte Wirkung der ganzen
Lage; denn in der Raubgier liegt ja eine ebenfalls beständige Ge-
fahr. Den Feind wirklich als Feind nehmen, ist völlig in der Ord-
nung. Auch kommt es in der Hauptsache gar nicht darauf an, ob
bereits verletzende Handlungen vorliegen. In der Moral ist die blosse
Gesinnung schon hinreichend, zumal es sich hier ja nur um die
Rechtfertigung einer zweiten rückwirkenden Gesinnung handelt, näm-
lich des Misstrauens. Zwei Menschen, die nicht völlig isolirt und
hiednrch einander gleichgültig bleiben, können sich nur in einem
feindlichen oder freundlichen Verhalten gegen einander bethätigen.
Die dritte Möglichkeit eines friedlich gleichgültigen Zustandes setzt
eine isolirende Enthaltung von Schädigungen und Förderung' 'u
voraus; aber man mag sie immerhin zu den friedlich freundlichem
Beziehungen gesellen, neben denen es bekanntlich auch friedlicli
feindliche Verhältnisse und zwar noch mehr unter den Einzelnen
als unter -den Völkern giebt. Die Feindschaft und deren Bethäti-
gung bringen nun keineswegs mit sich, dass die Raubgier des Einern
durch grundsätzlich räuberisches Verhalten des Andern beantwortet
— 203 —
werde. Auch werden Hinterlist und Ränke nicht die entsprechenden
Eigenschaften auf der andern Seite zu erzeugen brauchen. Macchia-
velli dachte nicht scharf genug, als er seine Schlüsse zog. Inmitten
einer verworfenen Räuber- und Schandbande wird man als Gefan-
gener zu allen Mitteln greifen, welche Kraft und Klugheit an die
Hand geben, um sich zu befreien oder das eigne Leben möglichst
theuer zu verkaufen. Ja man wird den Feind, mit dem alle mensch-
lichen Bande zerrissen sind, auf jede Weise vertilgen; denn hier
handelt es sich um die Waage zwischen dem eignen Sein und dem
Nichtsein des Feindes. Jedoch selbst dieser äusserste Fall wird in
dem fraglichen Beispiel selbst nicht immer vorauszusetzen sein. Die
absolute Feindschaft zwischen Mensch und Mensch, mit welcher jeder
Rest von Rücksicht verschwinden müsste, ist eine schematische Zu-
spitzung, für welche sich in der Wirklichkeit allerdings Beläge genug
finden, die aber trotzdem den gewöhnlichen Mischungen der Verhält-
nisse gegenüber den Charakter der Ausnahme beibehält. Auch haben
wir in unserm Schema nicht eine volle Bestie, sondern nur ein Stück
davon vorausgesetzt und können daher diejenigen Eigenschaften, die
noch einen Rest von Rücksicht des Menschen auf den Menschen
ausprägen, in vielerlei Abstufungen annehmen. Im Allgemeinen
wird daher die Rückwirkung gegen das Schlechte nur eine gestei-
gerte Strenge und eine x\nwendung der Klugheit im Sinne der
Kriegslist sein. Es werden für eine solche Lage scharfe, ja terro-
ristische und, je nachdem die Bindemittel menschlicher Gemeinschaft
in grösserer oder geringerer Anzahl zerrissen sind, auch gleichsam
strategische und andere Täuschuugsmittel zulässig werden. Dagegen
wird die Niedertracht auf der einen Seite keine Niedertracht auf
der Gegenseite mit sich bringen oder rechtfertigen. Die Einwendung,
dass ausgesuchte Grausamkeit ein wirksames Abschreckungsmittel
sei, trifft nicht zu; denn man kann den umfang einer eisernen
Strenge soweit ausdehnen, dass nicht blos dieselbe, sondern noch
eine stärkere Wirkung erzeugt wird, als sich die Empfehler der
raffinirten Grausamkeit von ihren Ungeheuerlichkeiten versprechen.
Es mag sich Einer durch ausgesuchte Unthaten in Furcht setzen;
aber neben der sogenannten Achtung, welche in dieser Furcht liegt,
wird sich auch eine moralische Verachtung erzeugen, die den Erfolg
eines solchen Verhaltens mindestens schmälert. Das blosse Gesetz
der grössten Wirksamkeit der Mittel befindet sich in keinem Wider-
spruch mit der Moral, sobald man diese Wirkungsfähigkeit von dem
— 204 -
Standpunkt einer Vertretung und Selbsterhaltung des Guten beurtheilt.
Unter besondem Umständen wird freilich der Verzicht auf die schlech-
testen Mittel eine Schädigung oder Niederlage eintragen können;
aber der Sieg mit jenen Mitteln würde eben für den wahren Zweck
keiner mehr gewesen sein.
Wir verwerfen hienach nichts weiter, als was die Natur selbst
verwirft. Der bessere Charakter kämpft gegen die Bestie mit aller
Energie und Klugheit; aber er lässt sich nicht selbst zur Bestie
herabwürdigen. Die Bethätigung der Feindschaft und die in ihr
liegende Verletzung der Gerechtigkeit fordert das anderseitige feind-
liche Verhalten zur Vertheidigung, zum Angriff und, wenn nöthig,
znm Vernichtungskampf heraus; aber es bringt nichts weiter mit
sich, als dass die natürlichen Gesetze eines zwischen Mensch und
Mensch eingetretenen Kriegszustandes ihre Consequenzen entwickeln.
Auch für die Privatmoral giebt es ein Recht des Krieges und ein
Recht des Friedens. Man kann daher nicht erwarten, dass sich die
Verhältnisse im Zustande der vorherrschenden Feindschaft ebenso
gestalten, wiegln einem System des gegenseitigen Vertrauens.
6. Die Gegenseitigkeit des Guten, welche die Voraussetzung
einer edleren moralischen Gestaltung des Verkehrs ist, zeigt sich
noch mehr, als im blossen Kampf gegen Verletzungen, dann, wenn
es sich um die positiven Bindemittel einer nicht nur auf ursprüng-
liches Vertrauen sondern auf Vertragstreue angewiesenen Gemein-
schaft handelt. Die Einführung von Verpflichtungen, die über die-
jenigen der blossen Enthaltung von Verletzungen hinausreichen,
b^niht stets auf einer besondern Willensbethätigxmg. Ohne Ueberein-
kunft lässt sich nur das ursprünglich von Natur Bestehende oder
die rein mechanische Folge von feindlicher Gewalt oder einseitiger,
zui Dankbarkeit verpflichtender Wohlthat denken. Ein zweites Be-
reich von Verhältnissen wird durch die freiwilligen gegenseitigen
Bindungen des Willens geschaffen. Die Grundvoraussetzung besteht
hier immer darin, dass der eine Wille nur im Hinblick auf den In-
halt des andern Willens gebunden wird. Es ist dies ein positives
Verhältniss, für welches aber die Natur die Richtung und die ge-
rechten Bedingungen vorzeichnet. Tu unserm obigen Schema von
zwei Personen ist deren planmässiges Zusammenwirken noch keines-
wegs durch die beiderseitige Enthaltung von Verletzungen gegeben,
sondern es bedarf hiezu der freien gegenseitigen Uebereinkuuft. Wir
brauchen an dem Wort Uebereinkuuft keinen Anstoss zu nehmen;
— 205 —
denn es sind nur die Rückläufigkeiten des 19. Jahrhunderts gewesen,
welche sich gegen die auf den Vertrag gegründeten Ableitungen der
privaten und politischen Verbindlichkeiten positiver Art mit einer
lahmen und jetzt nicht mehr standhaltenden Kritik gewendet haben ,
Auch wir unterscheiden allerdings; denn wir nehmen ursprüngliche
Noth wendigkeiten an und legen ausserdem dem Conventionellen die
Naturgrundlage unter, so dass wir dasselbe nicht als ein willkür-
liches und zufälliges Beheben, sondern als Ergebniss von Beweg-
gründen denken, die in der Gesetzmässigkeit des Wollens und zwar
ebensogut im Verfehlten wie im Zutreffenden ihre Erklärung finden.
In dem eben gekennzeichneten Gebiet echt positiver Gegen-
seitigkeit, in welchem die Erwartung der treuen Einhaltung des
üebemommenen für beide Theile die Vorbedingung der Möglichkeit
eines wohlthätigen Verkehrs ist, — in diesem durch menschliche
üebereinkunft auf der Grundlage der Natur geschaffenen Reich mo-
ralischer Einrichtungen und Verhältnisse bedeutet die Auflösung oder
Schwächung der Gegenseitigkeit einen mehr als blos einseitigen Ver-
derb. Es ist nicht möglich, zuverlässige Beziehungen anzuknüpfen,
wohlthätige Verhältnisse einzugehen und dem Einzelnen, dem man
gegenübertritt, nach den Grundsätzen heilsamer Vergesellschaftung
zu begegnen, wenn im Allgemeinen die moralische Corruption um-
sichgegriffen und das egoistisch rücksichtslose und feindliche Ver-
halten zur tonangebenden Regel gemacht hat. Alsdann wird grade
der bessere Mensch am meisten zur moralischen Isolirung genöthigt,
während die Schlechten durch die Gemeinsamkeit ihres Gaunerthums
eine lockere Interessenverbindung pflegen, die jedoch immer das sehr
begreifliche Schicksal hat, bei jeder Gelegenheit die Genossenschaften
der Schurken mit innerm Verrath und vielfältiger Zersetzung heim-
zusuchen. Ein System, welches auf dem Egoismus, d. h. auf der
Hinwegsetzung über die dem Andern schuldige Rücksicht beruht,
schliesst die Feindschaft des Menschen gegen den Menschen als Ele-
ment ein und kann daher nie mit dem Frieden, geschweige mit dem
wohlthätigen Zusammenwirken positiver Art verträglich sein. In
sich selbst ist es auf den feindlichen Kampf und zwar im tiefsten
Grunde auf Ungerechtigkeit angelegt. Die Wahrnehmung der eignen
Interessen ist freilich an sich selbst unschuldig und gestaltet sich
erst zur schuldigen Verletzung, wenn sie bewussterweise auf Kosten
des Nebenmenschen, d. h. zu dessen Schädigung betrieben wird.
Aber schon in dem sogenannten Kampf um das Dasein, wie er heute
— 206 -
nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch verstanden wird, ist
der eigentliche Egoismus zum Princip gemacht, — eine Thatsache,
in der wir nur ein Element moralischer Fäulniss und gesellschaft-
licher Zersetzung zu erkennen vermögen. Das Reich der Selbstsucht
ist in sich uneinig, und hierin liegt die heilsame Rache, die derartige
Zustände in ihrem Schoosse tragen. Befriedigung ist in diesen zer-
fallenden Gebilden schon ursprünglich verworfener Interessen für die
Träger der Selbstsucht nicht zu finden, welche die Früchte ihres
Kampfes ums Dasein in ihrer eignen, zum Theil gegenseitigen, zum
Theil von den bessern Elementen ausgehenden Vernichtung ernten
werden. Sie selbst haben ihr verworfenes Streben in einen Grund-
satz gekleidet, der zu einem Gegengrundsatz fährt, der ein wirklich
moralisches Recht hat und zur innem Auflösung noch eine neue
niederschmetternde Macht hinzuschafft. Wer. mir mit dem Princip
des Kampfes ums Dasein gegenübertritt, berechtigt mich nicht etwa
zur Annahme seiner Ansicht, sondern zu einer tief moralisch be-
gründeten Gegenwirkung. Wer mir sagt, er werde mich umbringen
oder knechten, damit er wohllebe und den Herrn spiele; — wer mir
sagt, er werde meine Nachkommenschaft im Keime unterdrücken,
damit seine Brut um so besser gedeihe, den werde ich nicht besser
sondern eher schlechter achten, als den gemeinen Räuber, der auch
nichts weiter als einen wildwüchsigen Privatkampf um das Dasein
auf eigne Faust und zugehörige Souverainetät fuhrt. Ich werde ihn
also mit dem besten Gewissen von der Welt als ein Stück Bestie
behandeln und die menschlichen Eigenschaften nur insoweit achten,
als sie sich wirklich noch vorfinden und nicht von der vereinigten
Brutalität und FrivoHtät der mit dem vermeintlich nothwendigen
Kampf um das Dasein maskirten Selbstsucht und Niedertracht tliat-
sächlich verschlungen werden.
Die Zurückführung entwickelter Zustände auf die Vorherrschaft
der thierischen Gewalt und List ist das Zeichen einer moralischen
Auflösung, neben der jedoch eine Neubildung sich vorbereiten mag.
Uns gehen hier jedoch nur die Gegenseitigkeitswirkungen an, mit
denen man sich auf der schiefen Ebene der Brutalität mit beschleu-
nigter Geschwindigkeit hinunterfordert. Thatsächlich bringt die Roh-
heit auf der einen Seite, wenn nicht ein gleiches, so doch meist ein
nicht geringes Maass von Verwilderung auch auf der andern Seite
mit sich. Auch nach den edelsten Grundsätzen werden die Schlechtig-
keiten mindestens grosse Härten zum Gegenstück haben müssen. Im
— 207 —
wirklichen Gange der Geschichte aber, in welchem auch auf der
bessern Seite kein rein ideales Verhalten zur Regel zu werden pflegt,
werden die Brutahtäten und Frivolitäten des Feindes auch das eigne
Lager in einem gewissen Maasse degradiren. Im wüsten Völker- und
Parteikampfe werden die ursprünglichen, die Initiative abgebenden
Ausschweifungen der schlechtesten, selbst- und herrschsüchtigsten
Elemente nicht nur moralische Repressalien d. h. Hemmuugs- und
Vergeltungsmittel berechtigter Art hervorrufen, sondern auch sonst
auf das Verhalten der Gegner ansteckend und verwildernd einwirken.
Die Römischen Bürgerkriege sind ein classisches Beispiel, welches
wohl nur von dem begonnenen letzten Drittel des 19. Jalirhunderts
bereits übertroffen sein dürfte. Die neu entfaltete Kriegsbrutalität
überhaupt und namentlich das Verfahren der Versailler gegen die
Pariser Commune sind hier Beispiele der Einleitung eines Anfangs,
der unsern Satz von der schiefen Ebene der Brutalität, Frivolität
und moralischen Corruption immer umfassender bestätigen wird. Die
bestialischen Theile der herrschenden Französischen Gesellschaft,
gleich gross in hinterhaltiger Verlogenheit, niederträchtiger Raub-
sucht und einer mit der feigen Grausamkeit sehr wohl verträghchen,
an die Afrikanische Hyäne erinnernden Blutgier, haben durch den
Massenmord und die fortgesetzten Massenverfolgungen eine Lage ge-
schaffen, in welcher auch die menschlichsten Gegner Gefalir laufen,
über blosse Strenge hinausgetrieben und zur Anwendung mehr als
blos eiserner Mittel verleitet zu werden. Auf diese Weise könnte
die edlere Moral hier und da auch auf der bessern Seite Schiffbruch
leiden, und im Kampf mit der Bestie im Menschen könnte die Wild-
heit mehr Gebiet gewinnen, als ihr ursprünglich anheimgefallen war.
Die Parteien würden sich alsdann in gegenseitigen Zerfleischungen
ergehen und in Massen von Unheil hinundherwälzen. Freilich könnte
die Corruption auf der bessern Seite nie tiefe Wurzeln schlagen;
denn sie wäre dort keine urwüchsige, sondern nur eine vom Feinde
her eingeführte. Trotzdem bhebe aber ein solcher Verlauf zunächst
eine allgemeine Herabwürdigung des moralischen Culturstandes, und
man könnte sich ihm gegenüber nur damit trösten, dass mit den
alten Bindemitteln zugleich auch ihre verrotteten und schädlichen
Beimischungen aufgelöst und so der freie Raum für eine höhere
Entwicklungsforni und eine gleichsam neuzugebärende moralische
Welt geschaffen würde.
7. Abgesehen von selteneren Ausnahmefällen ist da, wo sich
— 208 —
auch vorherrschend das Schlechte und Feindschaftsetzende findet, die
Beimischung von irgend etwas Gutem und Gemeinschaftstiftendem
die Regel. Mindestens bleibt ein Rest von einer, wenn auch noch
so erniedrigten Menschennatur, auf den man sich wird berufen und
dem man mit morahschen Anforderungen wird entgegentreten kön-
nen. Auch im wüstesten und wildesten Kampfe mag noch, je nach
dem vorgängigen Culturgrad oder nach der Feindschaftsursache, ein
kleines Ueberbleibsel von dem Bewusstsein moralischer Gebundenheit
anzutreffen sein, und nur der zur Ausrottung geführte Vertilgungs-
krieg ist da, wo die Vernichtung nicht blos der Bestie im Menschen
gilt, sondern grade von der triumphirenden Bestie ausgeht, auch
eines solchen Restes ledig. Uebrigens werden wir aber in allen
feindlichen Verhältnissen Elemente vorfinden, durch welche die
Menschengruppen, wenn auch nur schwach und in geringem Um-
fang, einander verbindlich bleiben und von dem Aeussersten gegen-
seitiger ünthat zurückgehalten werden. Die Mischung des feind-
lichen Verhaltens mit Rücksichten liegt im eigentlichen Kriege deut-
lich vor Augen: aber sie findet sich auch überall sonst in den
verschiedensten Richtungen. Von Natur ist der Mensch fiir den
Menschen keineswegs in grösserem Maasse feindlich als indifferent
oder freundlich. Der ursprünglich durch die Triebe und Leiden-
schaften angelegte Zustand erscheint nur dann als Krieg Aller gegen
Alle, wenn man ausschliesslich die Störungen ins Auge fasst und
den gleichgültigen oder verbindenden Verkehr sowie die positive,
nicht blos auf Gesammtvertheidigung gerichtete Gemeinschaftsbildung
übersieht. Der Mensch ist für den Menschen nur insoweit ein Wolf,
als er in der besondem Charaktermischung, die nicht der Grattuug
als solcher wesentlich ist, das Raubthier besonders ausgeprägt ent-
hält. Uebrigens ist er ein gutartiges Wesen; denn alle die verleimi-
deten Triebe und Leidenschaften, die der Gattung thatsächlich und
nothwendig zukommen, sind Einrichtungen, die den gegenseitigen
Verkehr regeln. Sie begegneten uns schon in der Bewusstseinslehre,
und wir haben hier noch geltend zu machen, dass der Austlmck
schlechte Leidenschaften auf Rache, Eifersucht u. dgl. nicht passt,
insofern diese Erregungen gradezu moralische Aufgaben zu erfüllen
und eine Rückwirkung auf Verletzungen der Gerechtigkeit und der
natürlichen Ansprüche zu vertreten haben. Auch die bessere, mit
der Nemesis verwandte Art des Neides dient gegen die unberechtigten
Verletzungen der Gleichheit, und so sind alle Affecte dieser Art
* — 209 ->
Regungeu der blossen Selbsterhaltung, welche vollkommen moralisch
ist, solange sie das eigne Selbst nur gegen Verletzungen wahrt und
nicht in das fremde Ich übergreift. Die wirklich schlechten Leiden-
schaften sind in der Raubgier und Herrschsucht, also in derjenigen
besondem Gestaltung falscher Triebe zu suchen, wie sie sich im
Raubthier v^wirklicht finden. Unterdrückung und Ausbeutung des
Menschen durch den Menschen beruhen auf jenen wirklich schlechten
Leidenschaften. Die Rache hat noch keine Tyrannen geschaffen, wohl
aber gestürzt.
Wenden' wir uns von denjenigen Affecten, die eine Verletzung
und eiuen entsprechenden Spannungszustand, also eine zwischen
Mensch und Mensch vorhandene Störung ausdrücken, zu den wohl-
thätigen, auf Verbindung angelegten Trieben und Erregungen, so
fallt der falsche Pessimismus, der die menschliche Natur in der
Wurzel für verdorben etklärt, vollends zusammen. Ohne Frage ist
das Mitleid das grade Gegentheil einer egoistischen Regung; denn
es hat seinen Schwerpunkt im andern Ich. Die Natur hat hier selbst,
dafür gesorgt, dass ein fremdes Leiden* das eigne Gefühl schmerzlich
mitbewege. Wer diesem Triebe nur folgt, um ihn loszuwerden,
handelt allerdings rein selbstsüchtig; aber hiemit sinkt der Mensch
unter den bessern Naturzug tief hinab. Auch die von Spinoza em-
pfohlene Emancipatioil von der Mitleidsregung, welche letztere durch
einen auch ohne wirkliches Mitleid in gleichem Sinne handelnden
Verstand ersetzt werden soll, ist illusorisch und zugleich auch einiger-
maassen roh. Dagegen wird alle überreizte, schwächliche und hand-
lungsunfähige Gefühlsverkünstelung als falsche Sentimentalität von
der Entwicklung und Pflege jenes edlen Naturtriebes fernzuhalten
und dem überlegenden Verstand die Rolle des Abwägens und Ord-
nens der Gefühlsautriebe zu wahren sein. In der ursprünglichen
rohen Menschennatur ist das Mitleid kaum mehr und oft wohl we-
niger als die entsprechende, auch bei Thieren «u beobachtende Regung
unmittelbar vorhanden. Es giebt vielleicht keinen Affect, bei wel-
chem die gehörige Cultur so sichtbare Steigerungen mit sich brächte,
als bei der individuellen und geschichtlichen -Ausbildung der Mit-
empfinduug für fremde Zustände des Leidens. In den gutartigsten
Kindern ist oft äusserst wenig, ja vielfach gar nichts davon zu be-
merken, und zwar zum Theil, weil sie selbst das ernstere Leiden
meist nicht kenneu, zum Theil, weil auch trotz der eignen Erfahrung
des Schmerzes die Fähigkeit und Gewöhnung fehlt, aus den Zeichen
. DühriDg, Ciirsus der Philosophie. l'i
— 210 —
des fremden Leidens ein entsprechendes Gegenbild der fremden Em-
pfindung in sich selbst vorzustellen. Weit schlimmer ist aber die
betreffende Unentwickeltheit oder Verwilderung bei dem brutalen
Menschen geartet, und der ärgste von allen Fällen ist derjenige der
Abgestumpftheit, die in Folge von Ausschweifungen des Geschlechts-
triebes gTade in der Richtung auf die Abschwächung* des Mitleids
am auffallendsten hervortritt. Diese Ursache der Schmälerung der
edleren Naturregungen wirkt noch xmheil voller, als die eigentlichen
Schlächtergewohnheiten. Das uneigentliche Schlächterhandwerk,
welches in den Schlachten seine Probestücke liefert, sowie noch
mehr jede, neben dem regelrechten und privilegirten Kriege geübte
Menschenschlächterei hat die Zurückdräugung oder Ertödtung des
bessern Naturtriebes im Gefolge. Das bereits entwickelte Mitleid
kann durch die Gewöhnung an den Anblick des Leidens abgestumpft
und durch die Vorherrschaft wilderer, in reine Selbstsucht ausarten-
der Triebe derartig erstickt werden, dass gewohnheitsmässig eine
.mehr als blos rohe Denk- und Handlungsweise einwurzelt und
schliesslich zur andern Natur wird, die sich in einer Gruppe oder
Classe auch im eigentlichen Sinne des Worts fortpflanzt. Hiedurch
erklären sich auch manche Charaktermisehungen, in denen die Ent-
artung des Menschlichen mit der natürlichen Bestienhaftigkeit nicht
etwa blos Schritt hält, sondern sie weit überholt, so dass in diesen
Theilbereichen der Menschheit der Satz wirkHch zur Wahrheit wird,
dass der Mensch das fürchterlichste der Ungeheuer sei. Trotz alle-
dem würd^ es aber verkehrt sein, um der Monstrosität besonderer
Erscheinungen willen den allgemeinen Typus der Gattung anzuklagen
oder gar dessen edlere Ausbildung für nichts zu achten. Die Er-
fahrung des Uebels, die allseitig aus d^r gegenseitigen Verhängung
desselben hervorgeht, wird dann am heilsamsten , wenn die Rollen
wechseln, und wenn der bisherige Thäter des Unrechts der Erleider
desselben wird. So lernen die Menschen schliesslich, sich auf den
Standpunkt des fremden Gefühls zu versetzen , und diese Fähigkeit,
die weit über die unmittelbaren Regungen des natürlichen Mitleids
hinausträgt, ist die Wurzel aller rücksichtsvollen Verkelirssitte.
8. Ueber den Ursprung des Bösen mögen diejenigen unter den
Philosophirern, welche sich als Priester zweiter Classe kennzeichnen,
ihre Worte und sogenannten Theorien verlieren. Uns steht die That-
sache, dass der Tjpus der Katze mit der zugehörigen Falschheit in
einer Thierhildung vorhanden ist, mit dem Umstände auf gleicher
— 211 —
Linie, dass sich eine ähnliche Charaktergestaltung auch in Menschen
vorfinder. Der Gattungscharakter Mensch ist zwar eine Allgemein-
heit mit individueller Wirklichkeitsbedeutung, schliesst aber die Ein-
mischuncf besonderer Elemente nicht aus. Auch die bessere Indivi-
dualnaiur hat, eigenthümliche Züge, die als Hinzufügungen zum ge-
meinen Gattunffscharakter betrachtet werden können. Der Mensch
ist ein vielfach zusammengesetztes Wesen, und es wird daher die
Mischung, Weglassung, Häufung oder Steigerung der Bestandtheile
entscheidend. Das Böse ist daher nichts Geheimnissvolles, wenn man
nicht etwa Lust hat, auch in deni Dasein der Katze oder überhaupt
des ßaubthiers etwas Mystisches zu wittern. Jedenfalls dürfte sich
hier die Mystik sehr natürlich aufklären; denn die Grundthats'achen
werden hier durch sehr bekannte Triebe gebildet, deren Richtung
und Gegenstände auf einer besondern Composition der Gier und des
derselben dienstbaren Verstandes beruhen. Mit einem gleichen Recht,
wie in die Elenaente der Triebe, könnte man auch in die chemischen
Elemente und deren Verbindungen das wirre Dunkel vermeintlicher
Mysterien eiuschwärzen wollen. Das Böse ist das absichtlich und
ursprünglich Feindliche. Ein Theil desselben beruht auf einem
blossen Mangel, nämlich auf einer zunächst naturnothwendigen Roh-
heit des Spieles der Begierden und Gemüthserreguugen und ausser-
dem auf dem naturwüchsigen Nichtwissen von den Innern Wirkungen
in andern Wesen. Ein anderer Theil ist schhmmer geartet, insofern
er auf einer ursprünglichen Einrichtung beruht, die das feindliche
Verhalten nicht blos thatsächlich hervorbringt, sondern auch von
vornherein, also schon vor der Entstehung des Bewusstseins , zum
Ziele hat. Für diese feindhche Function sind die Raubthiercharaktere
von der Natur gleichsam construirt; aber in der Thatsache eines
solchen Gefüges von Trieben mit dem zugehörigen, auf die Ausübung
von Gewalt und List berechneten Verstände liegt kein grösseres
Räthsel, als in den völlig gegensätzlichen, auf Freundschaft und
Liebe angelegten Triebgebilden. Man mag daher lieber über den
Ursprung des Guten, anstatt' über das radicale Böse, metaphysisch
faseln; denn hier ist dafür gesorgt, dass man bei den Inhabern eines
schwachen oder ungeübten Verstandes weniger Unheil anrichten
könne. Uns genügt der allgemeine Gedanke des Antagonismus, der
durch die ganze Naturverfassung hindurchgeht und ein Lebensspiel
mit den erforderlichen Hindernissen überhaupt erst ermöglicht, um
uns das Dasein des ursprünglich Feindschaftlichen, welches nicht erst
14*
— 212 —
eine. Rückwirkung auf fremde Verletzungen ist, als einen besondem
Fall * der Spannung der Gebilde und gleichsam als eine Figur im
Durchlaufen, Sondern und Ausmerzen der Möglichkeiten verständ-
licher zu machen. Uebrigens haben wir auch die falschen Griffe,
die der Natur als solcher erfahrungsmässig eigen sind, schon früher
in der Bewusstseinslehre berührt, so dass uns auch in dieser Rich-
tung eine Analogie füi* das moralisch Misslungene nicht fehlt. Die
Nothwendigkeit der allmäligen Einschränkung und schliesslichen
Vernichtung, welche die moralisch unhaltbaren Gebilde mit der
vollem Entwicklung des allseitigen Lebens treffen muss, ist hier
der entscheidende Trost. Uebrigens darf man aber auch nicht die
schlimme Natur des Bösen in ihren Wirkungen auf das Innere an-
derer Wesen, ja auch nicht auf die eignen Träger der bösen Eigen-
schaften überschätzen. Schliesslich ist das Unheil, wenn auch mensch-
lich gesteigerter, so doch in der Hauptsache nicht von durchaus
anderer Natur, als in den entsprechenden ursprünglichen und von
der Natur . angelegten Feindschafts- und Raubverhältnissen der Thiere.
Indem wir ursprünglich verletzende Handlungen als Wirkungen
der natürlichen Rohheit, Unwissenheit oder ßosheit annehmen, ge-
langen wir zu den berechtigten Rückwirkungen, die in den mensch-
lichen Gemüthsbewegungen und namentlich im Ressentiment ihren
Ausdruck finden. Wir sind jedoch weit davon entfernt, die Ver-
folgung eines einzigen typischen Princips, also etwa desjenigen der
Rückwirkung auf ursprünglich feindhches Verhalten, für die zugleich
sicherste und deutlichste Begründung des moralischen Urtheilens zu
halten. Es ist weit besser, sich wie in der Mathematik an einzelnen
axiomatischen Grundnothwendigkeiten von besonderer Gestalt zu
Orientiren. Die absolute Gültigkeit der einfachen Grundsätze wird
alsdann zu einer Einsicht, die ihrer Unmittelbarkeit wegen den
Widerspruch ausschliesst. Niemand will körperlich geschädigt oder
durch Beleidigung geistig verletzt werden. Die Gegenregung und
Rückwirkung auf einen ursprünglichen und selbständigen Act der
Feindseligkeit ist ein reines Naturgesetz der Moral. Wer mich be-
lügt, will mich täuschen und verhält sich in dieser Beziehung feind-
lich und verletzend gegen einen Theil meines Selbst. Die Lüge aus
Nothwehr oder die sogenannte Nothlüge hat diesen direct feindlichen
Charakter nicht. Sie ist kein Angriff, sondern nur eine Vertheidi-
gung, und sie kann, wenn sie nicht blosse Verlegenheitslüge ist,
also unter Voraussetzung der berechtigten Vertheidigung gegen
— 213 —
falsche Zumuthuugen sogar ebensogut, wie jede in Thaten bestehende
Nothwehr, vollkommen in der Ordnung sein. Sprachgebrauch und
unzulänglicher Formelkram sowie die zugehörigen vulgären oder auch
gelehrt ausgeputzten Ideenassociationen sind hier ebenso schlechte
Führer, wie in der Auslegung von Affecten nach Art des Neides.
Ein Wort und die sich damit vergesellschaftenden Ansichten decken
oft die ungleichartigsten Gebilde, mit deren Sonderung erst die ge-
hörige Aussage ijber ihren Sinn und Werth gewonnen werden kann.
Ganz im Allgemeinen gilt die Lüge als verwerflich, weil sie ohne
weitere Voraussetzungen und rein an sich selbst für Jeden, auf den
sie gerichtet wird, als eine feindliche Beeinträchtigung erscheinen
muss. Aehnlich verhält es sich mit jeder Art von Täuschung und
Betrug. Der natürliche moralische Maassstab bleibt aber hier immer
der Grad der Feindseligkeit, der sich in Art und Umfang der be-
wussten Verletzung bekundet. Wer noch an der universellen und
ausnahmslosen Wahrheit der moralischen Grundgesetze zweifeln
möchte, der mag sich überlegen, ob der absichtliche Tödtungs-
versuch, der ohne vorgängiges Unrecht erfolgt, nicht in jedem mensch-
lichen Bewusstsein die auf Vergeltung gerichtete Gegenregung gleich-
sam mit mechanischer Nothwendigkeit erzeugen muss. Das ursprüng-
Hch und ohne moralischen Grund feindliche Verhalten ruft als
Rückwirkung eine berechtigte feindliche Gesinnung und deren Be-
thätigung hervor. Wird uns also das ursprünglich Feindliche als
Thatsache zugeständen, so haben wir für die moralische Selbsterhal-
tung nicht weiter nach besondern Principien zu suchen, sondern
erkennen in der Nothwendigkeit der Bewusstseinsregungen eine
gleichsam logisch moralische Macht, die in allen einzelnen Gestal-
tungen bis zur völligsten Anschaulichkeit sichtbar wird. Zu ähn-
lichen Ergebnisseu würde ein näheres Eingehen auf diejenigen Gegen-
regungen führen, die nicht die Ausgleichung von Störungen, sondern
den Ausdruck von Förderuugen zur Function haben.
9. Die Gegenseitigkeit, in der Moral erstreckt sich, wenn auch
nur in mittelbarer und untergeordneter Weise, auch auf das, was
in erster 'Linie ausschliesslich dem isolirten Einzelverhalten anheim-
fällt. . Auf diese Weise können Gnindsätze, die zunächst nur mein
eignes persönliches Schicksal betrefiPen , in iliren entfernteren Wir-
kungen, auch abgesehen von jeder unmittelbaren und eigentlichen
Verletzung, andere Menschen in Mitleidenschaft versetzen. Hieraus
ergiebt sich eine etwas weitere Erstreckung der Rücksichten, als sie
— 214 —
sonst geboten wäre. Es entsteht gleichsam auf Umwegen eine Art
von Pflichten, deren Yerbindlichkeitsgrad jedoch weit geringer ist,
als derjenige der unmittelbaren, theils auf Störungen^ theils auf ein
positives Band der Treue bezüglichen Gebundenheiten. Die Förde-
rung der eignen Gesundheit ist in dieser entfernteren Weise auch
eine Pflicht "gegen Andere, nämlich insoweit Ansteckung im weitesten
Sinne des Worts in Frage kommt. Niemand wird jedoch die weite
Kluft zwischen den unmittelbaren und den weither abgeleiteten und
darum auch weit schwächeren Pflichtbeziehungen- verkennen. Es
wäre sogar lächerlich, das als eine Zumuthung aus der Gegensei tior-
keit geltend zu machen, was der Emzelne aus seinem eignen näch-
sten Interesse für sein persönliches Wohl zu »thun hat. Wer sich
über den eignen Nutzen hinwegsetzt, wird die verblassenden Wir-
kungen, die ihm ganz entfernt in der Mitleidenschaft Anderer vor-
gestellt werden können, sicherlich noch weniger beachten. Nur in
dem Ausnahmefall einer grossen aufopfernden Gesinnung könnte
scheinbar das Gegentheil eintreten; aber alsdann wäre die Vernach-
lässigung des Eigenlebens auch gar nicht der gemeine moralische
Fehler, den wir vorher voraussetzten.
Die Ordnung des Einzellebens ist eine Kunst, deren Grundsätze
sich sehr einfach gestalten, und die zum grössten Theil von der
höheren, d. h. intersubjectiven Moral abgesondert und als Regeln
für die Pflege der edleren Menschlichkeit behandelt werden können.
Die Vermeidung der theils naturwüchsigen theils willkürlich erzeugten
Ausschweifungen, von den gemeinsten Trieben bis zu den affectiven
und poetischen Erregungen hinauf, ergiebt die Nothweudigkeit von
üebung und Gewöhnung, aber wahrlich keine Ascese oder sonstige
Selbstpeinigung, die ja nichts als eben selbst eine entgegengesetzte
Art der Ausschweifung ist. Neben den Einschränkungen, welche
darum in der gemeinen Moral eine so grosse Rolle spielen, weil sie
in der That die erste rohe und in dieser Eigenschaft wichtigste
Grundlage für alles Uebrige bilden, müssen nun aber auch die Aus-
dehnungen der Lebrusenergien das höhere Ziel bilden. Die Fähig-
keiten zum Lebensgenuss müssen gepflegt, harmonisch entwick(4t
und nach Kräften gesteigert werden. Die Schichtung und gleichsam
das Stufensystem der Triebe, Leidenschaften und Erkeuntuissthätig-
keiten erfordert die sorgfältigste Fürsorge; denn jedes niedriger ge-
legene Gebiet wird durch Befriedigung in Ruhe versetzt, so dass
die annähenide BedürfnisslosiefA'eit das Aufst^eigen zu and^rartigen
— 215 —
und höheren Energien verlangt, wenn nicht Trägheit oder etwas
Schlimmeres, nämlich ein Haschen nach unnatürlich künstlicher Stei-
gerung des niederen Lebensgenusses eintreten soll. Die Arbeit im
echten Sinne des Worts, d. h. die Ueberwindung von natürlichen
Hindernissen der Lebenszwecke, bildet schon physiologisch ein Gegen-
gewicht gegen das blosse Geniessen und ist sogar ein Bedürfiiiss,
um des Kräftespiels innezuwerden und das Gefühl der Lebensenergie
zu steigern. Erst an dem Widerstände empfinden und erproben sich
die Functionen und Energien, von dem rein mechanischen Muskel-
spiel an bis empor zu den höchsten Bethätigungen der Charakter-
kraft und des Verstandes. Das Princip der Thätigkeit wird aber
gewöhnlich dadurch gefälscht, dass man die Arbeit von vornherein
als eine widerwärtige Last auffasst, gegen welche die menschliche
Natur ursprünglich und stets Abscheu hege. Obwohl nun dies von
der thatsächlichen Arbeit in ihrer bisherigen weltgeschichtlichen
Gestaltung in bedeutendem Umfang wirklich gilt, so ist doch ganz
anders zu urtheilen, wenn man die bessere und naturgemäss berech-
tigte Gestalt zu Grunde legt. Einer solchen normalen Bethätigung
der Kräfte gegenüber könnte man fast schon jede eigentliche An-
strengung, insofern sie Ueberspannung ist, als eine Ausschweifung
im Kraftgebrauch ansehen. In der That können diese Ausschwei-
fungen im Kraftgebrauch, wo sie nicht durch fremden Zwang auf-
erlegt sind, als ähnliche Missgriffe der Natm' angesehen werden, wie
die Ausschreitungen im Genüsse. Das zu erreichende Ziel, nämlich
die Frucht, welche nach der Ueberwindung des Widerstandes zu
pflücken ist, wirkt als Trieb oder gar als Stachel und verleitet zu
einer unmässigen Anspa^pnung der Maschinerie des eignen Leibes
und Geistes. Der fremde Zwang kann auch die Gefetalt einer durch
die Natur verhängten Noth haben; indessen ist die Artung der Ur-
sache für den Charakter der Thatsache, also für die Bedeutung der
Ausschreitung, nicht entscheidend. Die Vorstellung von einer Arbeit,
bei welcher die Kräfte gleichsam innerhalb ihrer Elasticitätsgrenze
bleiben, und die Empfindung, anstatt peinlich zu werden, vielmehr
das Selbstgefühl der Lebensfanctionen bereichert, — ein solches
Ideal von echt naturgemässer und menschlicher Arbeit dürfte wohl
unbedenklich als nothwendiger und wohlthätiger Bestg-ndtheil all^s
vollkommneren Lebensgenusses gelten können. Li dieser Eigenschaft
dient die Arbeit auch unmittelbar und rein subjectiv zur Veredlung
des Daseins. Die Lang<tweile ist nichts als eine Stauung der Kräfte
— 216 —
durch Abwesenheit wahrhaft interessirender Bedürfnisse. Die üu-
fahigkeit zum Geuuss und der Mangel an Gelegenheit, ernsthafte
Reize zur Thätigkeit anzutreffen, erklärt hier Alles. Langeweile ist
mitten in einer Fluth von Beschäftigungen, ja sogar Angesichts
einseitiger Anstrengungen und schwerer Arbeit möglich und zwar
aus dem einfachen Grunde, weil es nicht der Reiz eines wahrhaften
Bedürfnisses und das Bewusstsein fruchtbarer Wirksamkeit ist, was
dieses widerwillige Spiel der Kräfte begleitet. Um den Menschen
moralisch zu erheben, muss man ihn lehren, freiwillig die Stufen-
leiter der Thätigkeiten nach Maassgabe des Fortschritts von den
niedem zu den höhern Bedürfnissen und Genussarten emporzusteigen;
denn für das Zurückbleiben auf einer Sprosse, von der aus bereits
alles Zugängliche überschaut und ergriffen ist, hat die Natur die*
Strafe der trägen Versumpfung und Fäulniss und des diese Zustände
begleitenden Missbehageus verhängt.
10. Die Beziehungen von Wille zu Wille ergeben unmittelbar
die gegenseitige Enthaltung von Verletzungen und führen überdies.
zur freiwilligen Schaffang von besondern Verbindlichkeiten im Wege
der L-ebereinkuuft. Da nun der Wille als solcher dem fremden
Willen nur eine allgemeine und gleiche Achtung, also nicht das
Geringste zumuthen kann, was er nicht auch selbst leisten müsste,
so werden die specielleren Entscheidungen aus einem Sachverhalt zu
entnehmen sein, der sich den beiden Willen als etwas Drittes und
Neutrales , aber dennoch als. maassgebend unterlegen lässt. Dieser
Sachverhalt wird die besondere Lage und die Beurtheiluug derselben
durch den Verstand sein. Man wird sich auf die moralische Zweck-
mässigkeit 'berufen, d. h. die Art erörtern,, auf welche Jeder der ne-
gativen oder positiven Gegenseitigkeit, um die es sich handelt, am
treusten entspricht. Der Mangel an Einsicht und die erworbenen
Miss Vorstellungen werden hier mit dtn ursprünglich falschen Rich-
tungen der Naturantriebe oder Culturverzerruugen die Haupthinder-
nisse einer Verständigung im Wollen bilden. Handelt der Eine nach
Wahrheit und Wissenschaft, der Andere aber nach irgend einem
Aberglauben oder Vorurtheil, so ist üebereinstimmung nur zufällig,
uud es müssen der Regel nach gegenseitige Sj;öruugen eintreten.
Die Entscheidung solcher moralischer Conflicte auf dem Wege echter
Verständigung, nämlich durch schliessliche Aufklärung des irrenden
Theils, wird selbst dann nur selten gelingen, wenn kein ursprüng-
liches Uebelwollen im Spiele ist. Für die menschlichen Gesammt-
— 217 —
gruppeu ist zu einer solchen, durch die Erkenntuiss zu vermitteln-
den Ausgleichung, noch eher als dem Einzelnen gegenüber einige
Aussicht vorhanden; indessen wird bei einem gewissen Grad von
Ünfähiorkeit , Rohheit oder böser Charaktertendenz in allen Fällen
ein Zusammeustoss erfolgen müssen. Die Verletzung kann schon in
dem unberechtigten Widerstände des unwissenden oder sonst fehl-
greifenden Theils gegen das an sich zulässige Verhalten des andern
Theils liegen, der alsdann ein Recht haben wird, sich auch gegen
den Willen des andern freie Bahn zu schaffen. Es sind nicht blos
Kinder und Wahnsinnige, denen gegenüber die Gewalt das letzte
Mittel ist. Die Artung ganzer Naturgruppen und Culturclassen von
Menschen kann die Unterwerfung ihres durch seine • Verkehrtheit
• feindlichen WoUens im Sinne der Zurückfiihrung desselben auf die
gemeinschaftlichen Bindemittel zur unausweichlichen Nothwendigkeit
machen. Der fremde Wille wird auch hier noch als gleichberechtigt
erachtet ; aber durch die Verkehrtheit seiner verletzenden und feind-
lichen Bethätigung hat er eine Ausgleichung herausgefordert, und
wenn er Gewalt erleidet, so erntet er nur die Rückwirkungen seiner
eignen Ungerechtigkeit. Den Feind, der uns schwer geschädigt hat,
werden wir nicht nur zu strafen, sondern auch für künftig ungeföhr-
lich zu machen suchen. Für Letzteres wird es aber sogar oft eine
milde Form sein, wenn blos Bürgschaften für die Sicherheit gefordert
werden, die Macht zu schaden eingeschränkt, von sonstiger Schwä-
chung oder gar Vernichtung dagegen Abstand genommen wird.
Mau wähne jedoch nicht, dass aus einem solchen Gedankengange
die Einrichtung der Sklaverei oder auch nur eine freiheitsfeindliche
Politik folgen könnte. Dies wäre ein arges Missverständniss des
ursprünglichen Zwecks, der nur die Eindämmung und nachhaltige
Hemmung der ungerechten Verletzungen zum Gegenstande hat.
Allerdings kann sich und muss sich sogar unter Umständen zu
jeder noch so berechtigten Rückwirkung die Ausschweifung gesellen;
aber diese vorläufige üebersehreitung des Ziels findet im weitern
und namentlich im geschichtlichen Verlauf der moralischen Dinge
schliesslich ihre Abhülfe.
Es ist fa^t selbstverständlich, dass nur der Einzelne der Träger
moralischer Verantwortlichkeit sein kann. Hinter der Gruppe darf
sich das doch allein bewusste und daher auch allein zurechnungs-
fähige Individuum nicht verstecken oder sich mit einem andern
Willen decken wollen. Die blind anerkannte Autorität hebt alle
— 218 —
selbständige Moralität auf. Das blosse Werkzeug, welches seinen
Willen veräussert . hat , ist eine entmenschte Maschine, die, da sie
selbst in der Hauptsache nicht zurechnungsfähig sein will, auch
sonst keinen Anspruch mehr hat, als Träger eines freien Willens
geachtet zu werden. Ein solches Werkzeug werde ich gleich jedem
andern Dinge zerschmettern, wo es mir schädigend und verletzend
in meine Bahn gestossen wird. In einer weniger schroffen Art tritt
die Verschleierung der natürlichen individuellen Verantwortlichkeit
durch die geheimen und hiemit anonymen Collectivurtheile und Col-
lectivhandluugen von Collegien oder sonstigen Behördeneinrichtungen
hervor, die den persönlichen Antheil eines jeden Mitglieds maskiren.
In dieser Richtung fehlt noch viel daran, dass die Ursachen der
Demoralisation, die in der Unterdrückung oder Schwächung der
Einzelverantwortlichkeit liegen, aus allen Richtungen des morahschen
Gemeinlebens verschwinden.
Wir gründen die Verantwortlichkeit auf die Freiheit, die uns
jedoch nichts weiter bedeutet, als die Empfänglichkeit für bewusste
Beweggrunde nach Maassgabe des natürlichen und erworbenen Ver-
standes. Alle solche Beweggründe wirken trotz der Wahrnehmung
des mögiichea Gegensatzes in den Handlungen mit unausweichlicher
Naturgesetzmässigkeit ; aber grade auf diese unumgängliche Nöthi-
g*ung zählen wir, indem wir die moraliscben Hebel ansetzen. Stände
die sogenannte Willkür nicht selbst unter Naturgesetzen, was übri-
gens an sich gar nicht anders denkbar ist, so würde der geeignete
Gegenstand zur moralischen Einwirkung fehlen, und alle ideellen
Vorkehrungen würden unzuverlässig sein. Wie nun aber in dieser
Freiheit die moralische Verantwortlichkeit ihren Grund hat, so findet
sie darin auch ihre Schranke. Wo thatsächlich eine übermächtige
Gewalt den Widerwilligen zwingt, da kann die blosse Privatmorai,
die sich an den aus dem^Zusammenhang gleichsam hinausgedachten
Einzelnen wendet, nichts Erhebliches ausrichten, imd die Personnn
können nur für die allgemeine Duldung der moralisch schädlichen
Einrichtungen, aber nicht für unumgängliche Specialhandlungen im
Rahmen dieser Einrichtungen verantwortlich gemacht werden.
— 219 —
Z^^eites Oapitel-
Natürliche Auffassung des Rechts.
Tn einem sehr weiten Sinne versteht man unter Recht einen
Inbegriff von thatsächhehen Zuständen, in denen namentlich die
Einrichtungen und Regeln der Unterdrückung des Menschen durch
den Menschen eine Rolle spielen. Die Rechtsgelehrtheit, welche,
insofern sie an Stelle w:urzelhafter Wissenschaft autoritäre Reste zer-
splitterter und oberflächlich zusammengepfuschter Urkundentrüminer
als eine Art Rechtsbibel gelten lässt, bisher nur als Halbwissenschaft
bestanden hat, — diese, wenn auch in einigen Richtungen noch so
„elegante" Jurisprudenz besitzt überhaupt gar kein Unterscheidungs-
merkmal für ursprüngliches Recht und Unrecht. Ihr Gegenstand ist
daher nicht sowohl die Gerechtigkeit im strengen Sinne, als vielmehr
das Recht in jener gleichgültigen doppelten Bedeutung des Worts,
in welcher es auch das gegenwärtige geschichtliche Unrecht mit-
einschliesst, ja zum grössten Theil eine formelle und systematische
Ordnung dieses Unrechts ist. Wie Sitte zugleich auch em Name
für Unsitte, so ist auch Recht in sehr begreif hcher Weise ein Aus-
druck für Unrecht geworden. Beide Seiten des Gegensatzes sind
durch ein indifferent gewordenes Wort verbunden, welches blos die
Thatsächlichkeit der Uebung oder des Zwanges, ausspricht, aber
übrigens darüber erhaben bleibt, ob es das Verbrechen oder die
Gerechtigkeit sei, was sich in Einrichtungen, Verhältnissen oder
• vereinzelten , durch die Gewalt gedeckten Handlungen verwirl'Jicht
habe. Wenn trotzdem eine Unterscheidung zwischen Recht und Un-
recht maassgebend bleibt, so ist sie nur secundär und autoritär. Sie
reicht nicht bis an die selbständigen Principien, sondern bezieht sieh
. nur auf den Gegensatz der von der herrschenden Gewalt gewollten
allgemeinen Satzungen und der Einzelfälle, in denen die Abweichun-
gen von der betreffenden Regelung wirklich verfolgt werden sollen.
Es ist also in der sogenannten Justiz keine wirklich individuell sou-
veraine Vertretung der Gerechtic'keit mit absoluter Verantwortlichkeit
der betheiligten Personen, sondern nur eine abgeleitete Gewalt vor-
handen, bei welcher das eigentliche Gerechtigkeitsbewusstsein im
günstigsten Falle nur eine schwache Nebenbethätigung, ja oft nur
— 220 —
eiae Geltendmachung auf Umwegen durch Hinwegsetzung über die
Satzungen und Gesetze erfahren kann.
Positiv muss alles wirklich Gerechte, so gut wie die gemeine,
Recht und Unrecht einschliessende Ordnung und Unordnung, eben-
falls sein, und es ist daher eine Unterscheidung zwischen dem na-
türlichen und dem positiven Recht nicht in dem Sinne zuzulassen,
dass dem Naturrecht die müssige Stellung zufalle, ein Inbegriff
schätzbarer, aber im einzelnen Urtheilsfall unanwendbarer Grundsätze
zu bleiben. Die natürlichen Ausgangspunkte des Rechts sind aller-
dings über aller Geschichte gelegen und enthalten, insoweit sie den
Charakter der Allgemeinheit haben, nicht die besondem Bestand-
theile, zu denen ihre positiven Wirkungen fuhren. Etwas Aehnliches
findet sich aber auch "bei den Folgerungen und Anwendungen aus
dem Gebiet des Mathematischen und Mechanischen, und wir dürfen
daher ein natürliches und positives Recht nicht anders trennen , als
wir etwa auch eine reine Mathematik von den Anwendungen und
eine rationelle Mechanik von den besondern Bethätigungen in der
technischen und Maschinenmechanik abtheilen. Die Wahrheiten der
Mathematik und rationellen Mechanik behalten ihre Gültigkeit, wie
zufällig, vereinzelt und zusammengesetzt auch ein positiv vorliegender
Fall sein möge. , In demselben Sinn behalten die Grundgesetze des
gerechten Wollens ihre maassgebende Bedeutung, mögen sie in der
Gestaltung der Geschichte für rechtschaffende Gesammtthaten, oder
in der Gesetzgebung, oder schliesslich im einzehieu Urtheilsfall in
Frage kommen. Verhielte es sich anders, so müsste man auch
zwischen einer natürlichen und einer positiven Mathematik eine ent-
fremdende Kluft finden können. Wir werden daher am besten thun,
den ganzen Gegensatz zwischen natürlichem und positivem Recht in
denjenigen der principiellen Allgemeinheit und derspeciellen, theils rich-
tigen theils falschen Anwendung zu verwandeln. Alsdann giebt es nur
eine einheitliche Gerechtigkeit mit bestimmten einfachen Grundsätzen ;
aber die Bethätigung derselben ist, gleich derjenigen des Verstandes in
der Wissenshervorbriugung , nicht nur dem Irrthum sondern auch
der Hemmung und Unterdrückung ausgesetzt. Hieraus entspringt
jene ebenso veränderliche als positive Maniiichfaltigkeit , die unter
dem Namen des Rechts zugleich eine Welt voll Unrecht darstellt.
Die Wurzeln der Moral und des Rechts sind dieselben, soweit
es sich um den Begriff der Gerechtigkeit handelt. Wo sich beide
Gebiete im Gegenstand begegnen, da trennen sie sich in der Art
— 221 —
der Aufrechterhaltung ihrer Gesetze. In der That ist es ein wichtiger
Gesichtspunkt, diejenigen Nothwendigkeiten auszuscheiden, zu deren
^Sicherung man den körperlichen Zwang als letztes Mittel in An-
wefidung bringen muss. Auf diese Weise wird das Recht als ein
mit Zwang verbundenes Gebiet von einer blos dem Gewissen, d. h.
den Bewusstseinsregungen anheimfallenden Moral ausgesondert. In-
dessen ist dieses Merkmal in der Wirklichkeit sehr verschiebbar, da
das, was der Sitte angehört, zu Zwangsrecht und umgekehrt das,
was finiher erzwingbar sein sollte, dem Einzelbewusstsein und den
Rückwirkungen der moralischen öffentlichen Meinung überlassen
werden kann. Trotzdem bleibt aber ein fester Kern von Verhält-
nissen, in denen das Zurückgreifen auf die Gewalt schon abgesehen
von jedem Gemeinwesen, nämlich für zwei vereinzelte Personen als
unumgängliches Ausgleichungs- oder Sicherungsmittel ableitbar ist.
Wo nämlich das ursprüngliche Unrecht selbst rohe Gewalt einschliesst
oder der ungerechte Theil sich nicht gutwillig zur Ausgleichung der
Störung herbeilässt, da sieht sich der andere Theil auf das Mittel
des physischen Zwanges augewiesen, und hierüber wird auch ein
völlig ideales Gemeinwesen, soweit seine moralische Kraft auch
reichen möge, nicht erhaben sein, wenn auch schon die blosse Aus-
sicht auf den gewissen Zwang der wirklichen Anwendung desselben
vielfach vorbeugen mag. Ein System eigentlicher Rechtspflege ist
mithin ohne letzte Executivmittel nicht denkbar, während die blosse
Gewissensmoral höchstens durch Kundgebungen der öffentlichen Üeber-
zeiigung und durch ebenfalls nur moralische Repressalien unterstützt
werden kann. Man übersehe jedoch nicht, wie es im Interesse der
Freiheit liegt, dass nicht allzuviel dem körperlichen Zwang anheim-
falle. Dieser Zwang kommt nur durch das Unrecht in die Welt
und sollte auch nur gegen dasselbe nach Maassgabe des gegenseitigen
natürlichen Verhaltens von zwei als völlig frei vorausgesetzten Men-
schen statthaben.
2. Der geschichtliche Gang der Dinge und die ihm entsprechen de
Rechtsgelehrsamkeit hat zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht
eine gewaltige Kluft gerissen, welche mit den natürlich und princi-
piell zulässigen Trennungen nicht gehörig vereinbar ist. Allerdings
mögen Eigenthum, Ehe und Erbgang, soweit in den einschlagenden
Verhältnissen nur der auf beiden Seiten angeblich in gutem Glauben
geführte Rechtsstreit in Frage kommen soll, ein Bereich für sich
bilden und dieser Inbegriff immerhin Privatrecht heissen. Die ausser-
— 222 -
dem herkömmliche Beneunuug als civiles oder bürgerliches Recht
erinnert aber daran, dass es auch allenfalls das nn bürgerliche ge-
nannt werden könnte; denn der eigentliche Bürger war schon mit
dem Römischen Kaiserthum und vollends mit den compilatorischen
Pandekten zu Grabe getragen. Er hat sich auch nie wieder sonder-
lich angefunden, so dass es nicht überraschen kann, wenn das Schwer-
gewicht der heutigen Rechtsgeschultheit in die Pandektistik 'fallt.
Alles Uebrige gilt verhältnissmässig als Nebensache, mid dieser Um-
stand stimmt überdies sehr gut mit dem vorherrschenden Bourgeois-
charakter der jüngsten Zeit zusammen. Von der ganzen gericht-
lichen Zurüstung wird der bei weitem grösste Theil durch die so-
genannten bürgerlichen Rechtsstreitigkeiteu oder durch die freiwillige
Gerichtsbarkeit in Anspruch genommen. Hierauf werden die meisten
Kpsten verwendet, und hier allein giebt es eine, wenn auch ver-
künstelte, so doch ernsthaft mit einigen Zügen von Wissenschaft-
lichkeit untermischte Theorie. Die Rechte an Sachen, die Obliga-
tionen und speciell die verschiedenen Vertragsgebilde sowie überhaupt
alle ökonomisch erheblichen Ansprüche sind hier die Gegenstände,
durch welche auch die Verhältnisse des Familien- und Erbrechts,
die an sich selbst keine sonderliehe Bedeutung haben würden, mittel-
bar einen materiellen Interessenwerth erhalten. Die subtilere Rechts-
lehre wird also im eigentlichen Sinne des Worts nur da genährt,
wo sie direct oder indirect Vermögensrechte zum Gegenstande hat.
Im Römischen Kaiserreich war der frühere Staatsbürger gut Cäsa-
ristisch auf den blossen Privatmann heruntergekommen; von jenem
war nichts als der Vermögensherr und der Familienvater übrig ge-
blieben, und auch diese Rollen bitten nur gegen Seinesgleichen, also
wiedciTim nur gegen Privatleute, eine ernsthafte Bedeutung. Das
Politische war in der kaiserlichen Gewaltaufsaugung untergegangen,
und die Gunst der Willkür rausste als Ersatz deö Rechts hingenom-
men werden. Im Rahmen solcher Zustände erwuchsen die classischen
Juristen, von denen nicht ein einziges Werk als ein unverstümmeltes
Ganze, sondern fast niu* nachträgliche Excerptenweisheit unter V( r-
mittluug des Byzantinismus auf uns gekommen ist. Die so über-
lieferte RatiouaHtät bildet nun seit sieben Jahrhunderten von Neuem
den besten Hausrath, über den die Rechtsschulen von den Zeiten
der Glossatoren her verfiigten. Auch kann man nicht einmal ))e-
haupten, dass man von jener Zeit bis zur neuem historischen Schule
de8 19. Jahrhunderts entscheidende Fortschritte gemacht hätte. Mit
— 223 —
der Wisseuscliaftlichkeit der Jurisprudenz, die so ziemlich iu der
Civilistik aufgeht und eingeständiich die Römer noch nicht wieder
erreicht hat, ist es zwar ^-eschichthch weit her, aber eben deswegen
iu dem andern Sinne des Worcs nicht weit her. Stellt sich aber
die träge Stauung schon in der Privatrechtskunde heraus, so werden
die übrigen Zweige , aus deren bisheriger Vernachlässigung .von den
Juristen selbst kein Hehl gemacht wird, nur äusserst wenig aufzu-
weisen haben, was über grobe Gemeinvorstellungeu tind eine ent-
sprechende Routine sonderlich hinausreichte. Die Verkünstelungen
und Verzerrungen, die den vom Mittelalter her auf die Neuzeit
vererbten Verkehrtheiten angehören, haben sogar die gelehrte Rechtü-
anschauung oft unter den Stand der gemeinen Volksbegriffe sinken
lassen. Wu' dürfen uns also nicht wundern , wenn sogar das nach
dem Privatrecht noch am meisten gepflegte Crimiualrecht nicht nur
ohne Compass geblieben ist, sondern auch die leitenden Sterne immer
mehr aus den Augen verloren hat. Die Verwirrung der Grundbegriffe
ist hier init unserm Jahrhundert fortgeschritten, so dass eine ver-
standesmässige , wenn auch einseitig fehlgreifende Auffassung, wie
sie durch Anselm vou Feuerbach im Anfange dieses Jahrhunderts
vertreten wurde, noch immer als eine besondere Aufraffung des er-
klärenden Denkens in einziger Auszeichnung dasteht. Nun ist aber
das auf die Verbrechen bezügliche Recht in Wahrheit der Schlüssel
für das Verständniss aller übrigen Verhältnisse, und auch der weitere
Rahmen des öffentlichen Rechts kann nicht ausgefüllt werden, wenn
jene Grundlage nicht zuvor geordnet ist. Spgar die Stellung und
Bedeutung des Privatrechts , welches man so fehlerhaft isolirt hat,
bleibt unbegriffen, solange die Principien des Strafrechts nicht iu
einem fruchtbaren Naturboden Wurzel gefasst haben.
3. Will man bemessen, wie das sogenannte Kechl gegen die
Gerechtigkeit Verstössen könne, so muss man ein Beurtheilungsmittel
haben, welches über alle zufälligen Mischungen der Thatsachen und
der Geschichte erhaben ist. Der ausschliessliche Historismus ist hier
fast ebenso unzulänglich, wie die äugen bhckliche Routine und der
Machtcultus im Sinne der grade positiv gegebenen Einrichtungen
irgend einer vereinzelten Gegenwart. Man muss von den letzten
Gründeu. des* Criminalrechts ausgeheu, um auf dieser Grundlage dann
alles übrige Recht positiv aufbauen zu können. Die fundamentalsten
Rechte sind diejenigen, in denen nichts als die Verneinung eines
ursprünglichen, nicht erst aus der Verletzung einer Uebereinkunft
■ — 224 —
herzuleitenden Unrechts enthalten ist. Sie können unniittelbar gar
nicht aufgefunden werden, so dass der Umweg durch die Erkenntniss
des Unrechts sogar für ihre Definition njaassgebend werden muss.
Die Erfahrung des Unrechts ist in diesem Gebiet sogar die erste
praktische Lehrerin, und wenn auch eine Vorwegnahme im Gedanken
für die Beurtheilung von dem, was ungerecht sein würde, zugestanden
werden mag, so könnte eine solche ideelle Vorbeurtheilung doch gar
nicht vorhanden sein, wenn nicht gleichsam* ein Empfindungsbild
der voraussichtlichen Wirkung einer verletzenden Handlung auch
schon ursprünglich zur Verfügung stände.
Schon in unsern moralischen Ueberlegungen haben wir jede
lu'sprünglich in feindlicher Weise verletzende Handlung als den
Gegenstand einer nothwendigen Rückwirkung angesehen. Diese
Rückwirkung äussert sich zunächst innerlich in einer Rückempfin-
dung, die wir auch Ressentiment und Vergeltungsbedürfniss oder,
mit dem starken, den wahren Naturgrund entschieden bezeichnenden
Wort, gradezu Rache nennen können. Die Verletzung, welche ur-
sprünglich eingetreten, d. h. nicht selbst durch eine find^^re zur Rück-
wirkung berechtigende Verletzung hervorgerufen ist, ist eben das
Unrecht selbst. Die ideellen Begriffe der Verletzung und des Un-
rechts decken sich, — jedoch nur unter der Voraussetzung, dass
man unter Verletzung einen Eingriff in das fremde Willens- und
Freiheitsbereich versteht. Unter welchen Voraussetzungen nun Ver-
letzungen in diesem Sinne statthaben, ist an einzelneu einfachen
Grundgestalten axiomatisch so zu entscheiden, als wenn es sich um
einfache, eben wegen ihrer Einfachheit dem zusammengesetzten Be-
weise weder zugängliche noch desselben bedürftige Grundwahrheiten
der Mathematik handelte. Mit derselben Nothwendigkeit, mit welcher
aus der mechaftischen Action die Reaction erfolgt, hat die spontane
und feindliche Verletzung das Ressentiment und hiemit den Ver-
geltungsspom zum Ergebniss. Der Trieb, sich für die erlittene Ver-
letzung zu rächen, ist eine offenbar auch auf Selbsterhaltung hin-
wirkende Einrichtung der Natur. Der Versuch der Tödtung, die
Körperverletzung oder die feindselig boshafte, grundlose und über-
müthige Schmähung werden, wenn man sich wiederum des Denk-
schemas von ausschliessHch zwei, übrigens von der soHstigen Welt
getrennten Menschen bedient, Voraussetzungen sein, unter 'denen die
Rache unfehlbar wachgerufen werden muss. .Hiebei ist die völlige
Gleichheit, aber noch kein einziges positives Band zwischen den
— 225 —
zwei Personen maassgebend. Wir können sogar sagen, dass in dem
leidenden Theil die Rache das erste affective Ankündigungs - und
Erkenntnissmittel des geschehenen Unrechts sei, und dass -sie gleich
einem Messwerkzeug den Grad der innern Verletzung anzeige. Die
Racheempfindung ist nur jenes sonst so räthselhafte Rechtsgefühl
selbst, welches nur im Hinblick auf eine Störung und Spannung in
ursprünglicher Weise vorhanden sein kann. Die Furcht vor der
Rache kann nun einschränkend auf die Handlungen wirken und so
eine Art Naturgarantie geg^n das unrecht ausmachen; aber sie ist
offenbar ein Beweggrund, der nur als auf eine bereits vorhandene
ungerechte Gesinnung wirksam vorausgesetzt werden darf. Die un-
mittelbaren Antriebe zur Achtung des fremden Seins bestehen in der
positiven Richtung aller Thätigkeitsreize auf die eigne Sphäre und
auf die keiner von beiden Personen ausschliesslich angehörige Natur .
Wo die Rache in das Spiel kommt, ist nicht mehr der normale oder
gar ideale Zustand der unverletzten und direct eingehaltenen Ge-
rechtigkeit vorhanden, sondern bereits eine Störung eingetreten, in
Folge deren auf das erste üebel, rein äusserlich und physisch- be-
trachtet, unabwendbar noch ein zweites üebel, nämlich eine absicht-
hche Schadenzufiigung folgen muss, wenn nicht das grössere geistig e
Uebel des triumphirenden Unrechts und des unversöhnten Rache -
bedürfnisses bestehen bleiben soll.
Die Privatrache isfc für die Alterthümer der Völker überall als
ursprünghche Keimgestalt des Criminalrechts anzutreffen. An die
wildere Blutrache, welche die Tödtung der Angehörigen mit neuen
Gegentödtungen beantwortet und einen immer wieder angeregten
und fortgesetzten Einzelkrieg ergiebt, schliesst sich das sogenannte
Compositionensystem, vermöge dessen die Beschwichtigung der Rache
auf dem Wege der Sühne und Entschädigung gesucht wird. Die
Beilegung des Privatzwistes wird hier durch die Darbietung von
Vermögensstücken bewirkt; aber die rohen Tarife, nach denen man
sich die eigne Körperverletzung und die Tödtung von Angehörigen
hinterher abkaufen liess, dürfen doch nicht übersehen lassen, dass
die Bereitschaft zu einem ernsthaften materiellen Opfer auch die
Gediegenheit des veränderten Willens und mithin eine wahre Reue
und friedliche Gesinnung verbürgen konnte. Das Rachebedürfniss
schwindet aber nicht nur durch eigne Niederbeugung und Schädigung
des Verletzers, sondern gleicht sich auch dann aus, wenn der Uebel-
thäter selbst seine Züchtigung aufrichtig übernimmt, indem er sich
Dühring, Cursus der Philosophie. 15
— 226 —
durch das thatsächliche Eiugeständniss der Schuld demüthigt und
sich selbst die Leistung einer Entschädigung und Strafe auferlegt.
Von dem Wort Sühne ist mithin jede mystische Umnebelung fern-
zuhalten; denn die Sühne ist nichts weiter als die Herstellung der
Versöhnung in Gesinnung und zugehöriger ausgleichender That, also
eine Art der Befriedigung der Rache.
4. Auch in der Yollkommensten Gestalt kann das Criminalrecht
nichts Anderes sein als die öffentliche Organisation der Rache. Von
der wirklichen Strafrechtspflege nach Mkassgabe der heutigen Straf-
gesetze, Gerichtseinrichtungen und Verfahrungsarten muss man sogar
behaupten, dass die in ihnen enthaltene öffentliche und durchaus
vormundschaffchch geartete Organisation der Rache noch immer so
roh sei, dass in Vergleichung mit diesen Früchten der politischen
Corruption die Urzustände manche natürliche Vorzüge voraushatten.
Die Theorie ist selbst in ihrer besten Gestalt so haltungslos geworden,
dass man die uralten Vorstellungen von der Wiedervergeltung und
den Maassstab des Talionsrechts, der Auge um Auge und Glied um
Glied forderte, vergleichungsweise noch als ein Muster naturwüchsiger
Logik ansehen muss, dem gegenüber sich die moderne Princip- und
Strafmaasslosigkeit wie ein Rückschritt ausnimmt. Die uralte Ver-
geltungslehre musste solange unverstanden bleiben, als nicht der
kühne Schritt gethan wurde, mit der Hinweisung auf die natur-
gesetzliche Rache' das Räthsel aufzulösen und hiemit über die un-
bestimmten Vorstellungen, sei es eines nebelhaften Rechtsgefiihls,
oder logistischer Strohableitungen zu triumphiren. Der sogenannte
psychologische Zwang, unter welcher Bezeichnung der grosse Crimi-
nalist Feuerbach, der Vater des Philosophen, die Abschreckung oder,
mit andern Worten, den ideellen Terrorismus zum Princip der Straf-
gesetzgebung machte, ist von dem Gedanken eigentlicher Gerechtig-
keit völlig losgelöst. Er ist ein polizeiliches Princip, nach welchem
gewissen schädlichen Handlungen durch Androhung eines Gegen-
schadens möglichst vorgebeugt werden soll. Der Zweck ist hier
Alles und die mächtige Ursache, welche aus dem Naturgnmde heraus
die Gerechtigkeit verlangt, ist Nichts. Sogar die^ Ausführung der
Drohung wird nur darum noth wendig, weil sonst die letztere zum
reinen Popanz werden und das Gesetz seine psychologisch abhaltende
Wirkung verlieren würde. Die Klarheit dieses Standpunkts, die
nicht geringer als seine Verfehltheit ist, hat uns überhaupt nur zu
einer Einlassung berechtigt. A. v. Feuerbach ist bis heute der her-
— 227 —
vorragendste, am meisten philosophisch denkende und am charakter-
vollsten reformatorische unter den gelehrten Criminalisten des 19. Jahr-
hunderts gebliehen. Seine philosophische Bildung hatte vorherrschend
eine Kantische Färbung und hielt sich von den Wüstheiten und
ebenso läppischen als windigen Thorheiten der nächsten Epigonen,
also namentlich eines Fichte und Schelling, in charaktervoller Weise
gehörig entfernt. Grade aber Angesichts des gediegenen und frei-
heitlichen, mit gesundem Verstand ausgerüsteten Strebens des theo-
retisch und praktisch hochberühmten und noch immer seine Nach-
folger überragenden Criminalisten müssen wir die moderne Abirrung
in das rein Relative der Abschreckungstheorie hervorheben. Freilich
giebt es Satzungen genug, bei denen die Androhung des üebels,
wie namentlich in den blossen Polizeistrafen, mit der ursprünglichen
Gerechtigkeit nichts zu schaffen hat; aber eben in der Einerleisetzung
der eigentlich'cn Gerechtigkeitsstrafe und des blossen Hinderungs-
mittels liegt die Vermischung von zwei völlig ungleichartigen Dingen.
Jedes in Aussicht gestellte Uebel wird zu einem Abschreckungs-
mittel, aber nicht jede Abschreckung braucht ein Act der Gerechtig-
keit zu sein. Auch die Natur hat ihr Absehreckungssystem, indem
sie die Furcht vor der Rache ins Spiel setzt. Die Abschreckung
verbleibt hier aber im Rahmen der Gerechtigkeitsbeziehungen und
ist überdies nicht der letzte Grund der Einrichtung. Die Rache be-
thätigt sich wahrhch nicht, um im Allgemeinen und für künftige
Fälle neuen Verletzungen vorzubeugen, ja auch nicht einmal blos,
um Schaden und Stönmg auszugleichen, sondern um den beeinträch-
tigten Willen und dessen gehörige Geltung wiederherzustellen. Es
ist das Interesse der unversehrten Freiheit, welches gegen die Ver-
letzung reagirt und einen Zustand herzustellen sucht, der zwar keine
Unversehrtheit mein* sein kann, aber doch eine annähernd gleich-
werthige Lage durch die entsprechende Herabdrückung des fremden,
über seine Schranke hinausgegangenen Willens werden muss. Ja um
die Gleichheit wiederherzustellen, genügt die Zufägung des näm-
lichen Üebels oder eines der Grösse nach übereinstimmenden Betrages
keineswegs. Die Natur würde mit ihrer Racheinstitution eine Stüm-
perin geblieben sein, wenn sie zu keinem andern Ergebniss antriebe,
als dass zwei Menschen die gleiche Schädigung aufeuweisen hätten,
der eine mit Unrecht, der andere mit Recht. So bomirt wie die
jüdische Talionslogik von Auge um Auge und Zahn um Zahn ist
die Natur glücklicherweise nicht. Die Rache überschreitet regel-
15*
— 228 —
massig den äusserlichen Betrag des unrechtmässig zugefügten Üebels,
und anstatt diese Steigerung sofort als eine Ausschweifung, zu der
sie allerdings werden kann, der Rohheit zu bezüchtigen, sollte man
lieber erwägen, dass erst mit einem üeberschuss der äusserlichen
Rückwirkung die Ungerechtigkeit als solche wirklich betroffen wird.
Es handelt sich also hier um tiefere und feinere Triebkräfte, als ein
willkürlicher Terrorismus sein kann, der die wurzelhafte Gerechtig-
keit der Natur aus dem Auge verloren und vermeintliche Staats-
zwecke, die sich noch erst mit dem Naturgrunde auseinanderzusetzen
oder sonst abzuleiten haben, als selbstverständHch zum rein polizei-
hchen Leitfaden nimmt.
5. Zur Entwicklung der principiellen Rechtsbegriffe bedürfen
wir nur das gänzlich einfache und elementare Yerhältniss von zwei
Menschen. Auch die Bedingungen, unter denen berechtigte Gewalt
und mithin der Vollzug der Naturgerechtigkeit oder- eine andere,
nämlich versöhnende Ausgleichung eintreten kann, sind mit diesem
Schema vollständig gegeben. Auch sieht man daran leicht, ein wie
zufälliges Ding die thatsächhche Verwirklichung der Gerechtigkeit
bleiben müsse; denn die üebergewalt kann nicht blos, sondern wird
sogar meistens auf der Seite des Unrechts sein, weil ja eben die
Uebermacht es ist, die am ehesten die Vergewaltigung und den
üebermuth mit sich bringt. Ist aber, wie wir ursprünglich anzu-
nehmen haben, die Gleichheit der Kräfte und Mittel das Gewöhn-
liche, so sind die Entscheidungen den Zufällen der mit Gewalt und
List geführten Kämpfe anheimgegeben. Die blosse Berufung 'auf die
Macht wird mithin die eigentliche Gerechtigkeit wenig sichern, die
offenbar ihre beste Stütze in der wohlgesinnten Verständigung suchen
muss und der reinen Bosheit gegenüber unausweichlich ein Würfel-
spiel bleibt.
Vermehren wir dagegen die Anzahl der in Frage kommenden
Personen durch solche, welche an dem einzelnen Fall gar nicht oder
möglichst wenig als Partei, übrigens aber im Allgemeinen und als
mögliche Gegenstände eines ähnlichen Unrechts dabei betheiligt sind,
dass die Rechte geschützt und die Verletzungen ausgeglichen werden,
so ergiebt sich ein Beistand, der auch den Schwächern sichern mag.
Nicht blos die Rückempfindung, sondern auch deren Fortpflanzung
auf Andere, also das abgeleitete Ressentiment, welches dadurch ent-
steht, dass sich ein sonst Unbetheiligter in die Lage des Verletzten
unwillkürlich hineindenkt, beginnt alsdann seine Rolle zu spielen.
— 229 —
Die volle Wirksamkeit niclit uur einer grösseren Macht, sondern
auch einer parteiloseren Auffassung wird aber erst durch die Gegen-
seitigkeit des auf den fraglichen Zweck gerichteten Zusammenwirkens
und einer hiezu eingegangenen Verbindung von Jedem mit Jedem
zu Wege gebracht. Die gesellige VereinigTing vertritt alsdann das
allgemeine collective Interesse an der Ahndung der Verletzung. Sie
mag als Ganzes agiren oder besondere Personen als Organe beauf-
tragen, — in jedem Falle wird sie nichts weiter thun können, als
die individuelle Rache des Einzelnen oder der mitbetroffenen Familien-
gruppe in eine Öffenthche Rache verwandeln. Auch die Einzeleinsicht
wird hiedurch in der Gesammteinsicht erweitert, so dass nicht blos
das Wollen sondern auch das Wissen eine Sichtung und Berichtigimg
erfährt. Ausnahmsweise mag auch Beides eine falsche Beeinträchti-
gung erleiden; aber die Regel bleibt doch, dass unter übrigens
gleichen Umständen die Betheiligung einer grossem Zahl zur Ga-
rantie einer bessern Beurtheilung und Ausführung werde. Die indi-
viduelle Rache ist etwas sehr Rohes, und noch roher ist oft das
Ürtheilsvermögen, welches den Affect ins Spiel setzt. Ausschliesslich
aus diesem Grunde ist die Selbsthülfe im Allgemeinen etwas Un-
ciyihsirtes, wie uns die unmittelbare Volksjustiz noch heute inmitten
der entwickeltsten Cultur lehren kann.
An die Stelle der criminellen Selbsthülfe, welche der Privat-
rache einen unmittelbaren Ausdruck giebt, darf rationeller Weise
nur die auf eine gegenseitige Verbindung gegründete imd in einem
ordenthchen Verfahren verkörperte sowie durch den Willen der Ver-
bundenen vollstreckte Rache treten. Das zufällige Beispringen macht
den Helfer zur Partei oder wird nm' ausnahmsweise eine eigentliche
Gerechtigkeit vorstellen. Dagegen wird die Auferlegung von Zwang
durch einen Dritten, der allein mit seinen Mitteln hiezu mächtig
genug ist, weiter nichts als eine Unterwerfung ergeben, welche zwar
Frieden, aber auch Sklaverei bringt und nur im Rahmen und um
den Preis dieser Sklaverei willkürUch und theilweise einige Aus-
gleichungen bewerkstelligen wird. Diese von Hobbes verherrlichte
Manier ist in weitem Umfang freilich der thatsächliche Weg der
Geschichte gewesen, insoweit nämlich nicht freie Association, sondern
das Anheimfallen an eine stärkere Gewalt vorzugsweise den Kitt der
politischen Gebilde gehefert hat. Die allgemein menschliche Souve-
raiiietät schliesst auch diejenige der Rache ein, so dass der von der
breiten Grundlage abgelöste Anspruch auf ein sogenanntes Schwert
— 230 —
der Gerechtigkeit eine Anmaassung ist, die dadurch ihren Charakter
nicht verlieren konnte, dass sie weltgeschichtHche Dimensionen an-
nahm. Allerdings ist Jeder, aber eben danim Niemand ausschliess-
lich bei der Wahrnehmung der Gerechtigkeit von Natur betheiligt.
Im gelindesten Falle ist es eine unzulässige Vormundschaft, wenn
ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen sich herausnimmt, aus
selbsteignem Mandat für Frieden und Recht Anderer sorgen zu
wollen. Diese Usurpatoren setzen sich damit in ein von Natur feind-
liches. Verhältniss gegen diejenigen, denen sie ihre Herrschaft auf-
zwingen, und wenn auch derartige Staatenbildungen vermöge des
reinen Mechanismus der Gewalt f ortexistiren , so fehlt es doch zwi-
schen den zwei Hauptstücken, nämlich zwischen dem herrschenden
und dem beherrschten Theil, eben selbst an dem verpflichtenden
Bande der Gerechtigkeit. Im Gewaltstaat, den ich dem Gerechtig-
keitsstaat gegenüberstelle und der nichts mit dem abgelebten Gegen-
satze von einem sogenannten Rechtsstaat und einem Polizeistaat zu
schaffen hat, kann es eine, ihrem tiefern Grunde entsprechende cri-
minelle Gerechtigkeit nur in sehr precärer und äusserst unvollkom-
mener Weise geben. Ganz besonders muss da, wo in irgend einer
Verletzung die Regierenden oder ihre Werkzeuge als Thäter oder
als Interessenten betheiligt sind, der Mangel des Rechts oder seiner
Garantie schroff hervortreten.
Gegen die Lehre, dass die Rache in und über der Geschichte
sowie in und über dem Staate der Naturgruud aller ahndenden Ge-
rechtigkeit sei, giebt es für das gewöhnliche, mit dem herkömm-
lichen Ideengange verwachsene Bewusstsein einen naheliegenden Ein-
wand. Die Rache ist selbst verpönt d. h. unter Strafe gestellt. Wie
soll sie Träger und Maass des Rechts sein können? Ich antworte,
dass die Rache nur als Selbsthülfe und mithin nur in ihrer indivi-
duellen und brutalen Gestalt von der civilisirten Gesellschaft aus-
geschlossen wird, so dass sie mit ihrer höheren, verallgemeinerten
Form in Couflict geräth. In beiderlei Gestalt wird das Vergeltungs-
bedürfniss au sich selbst anerkannt; aber die öffentliche und geregelte
Rache nimmt für sich die ausschliessliche Bethätigung in Anspruch.
Unter Umständen kann diese Ausschliesslichkeit sogar den Charakter
eines gehässigen Monopols annehmen, und eine solche von einem
Gewaltherm monopolisirte Rache oder mindestens eine starke Vor-
mundschaftlichkeit in der öffentlichen Verfolgung der Verletzungen
ist eine Eigenschaft des Gewaltstaats, während in einem freien
— 231 —
Vereinsstaafc, der auf gleiclier Vergesellschaftung beruht, die Crimi-
nah-echtspflege sich nie ernsthaft über die individuelle Initiative
hinwegsetzen darf. Stets ist es die verletzte Person, welche am
innigsten an der Ahndung betheiligt ist, und das sogenannte öffent-
liche Interesse kann erst in zweiter Linie und nur als Yerallgemei-
nerung der natürlichen individuellen Bestrebung in Anschlag kommen.
(j. Die Rechtsblasirtheit, die aus den Verwirrungen der Straf-
rechtsbegriffe und aus den Untermischungen der sogenannten Justiz
mit der willkürlichsten Gewalt hervorgeht, kann der Compass, der
durch meine Rachelehre construirt ist, wieder zu einer regsamen
Orientirung und, wo noch nicht Alles abgestumpft, versumpft oder
gar verfault war, auch wieder zu einiger Herzensfrische verhelfen.
Man kann vermöge dieser tiefern Einsicht Gegenden erreichen, in
denen man sonst dem Schiff keine feste Richtung zu geben wusste.
Die nicht blos örtlich und zeitlich, sondern auch in Ständen oder
Classen befangene, der Verkehrtheit des Wollens und den Abirrungen
des Wissens in der Gesetzgebung, in der Gelehrtendoctrin und in
der Gerichtspraxis mannichfaltig ausgesetzte, überdies mit einseitiger
Gewalt gemischte Rechtspflege kann selbst nur an einem über diese
historischen Beschränkungen erhabenen Rechtsprincip gemessen und
nur auf Grund eines solchen Princips zur Rechenschaft gezogen
werden. Nicht nur die Gesetzgebung selbst wird aus dieser Quelle
schöpfen, sondern auch die Rechte zur Gesetzgebung sowie überhaupt
die Vertheilung der politischen Befugnisse unterliegt dieser höchsten
principiellen Entscheidungsart. Das einzige wahrhaft Souveraine ist
alsdann der einzelne Mensch, der mit seinem natürlichen Rechts-
bewusstsein Partei zu ergreifen und für das als Recht Gewollte und
Erkannte thätig einzutreten hat. Zwischen Völkern und Völkern
liegt die Noth wendigkeit einer natürlichen und principiellen, also
nicht autoritären und nicht blos secundären Ableitung auf der Hand.
Hier kann der falsche Positivismus seine Gebrechlichkeit fast gar
nicht verschleiern. Die Rache ist hier in der That ein recht sicht-
bares Gerechtigkeitsprincip , soweit überhaupt das ganze Spiel der
Völkerkriege noch ein anderes Element als doppelseitige Raub- und
Unteijochungssucht aufzuweisen hat. Die Gerechtigkeit oder Un-
gerechtigkeit der Innern Umwälzungen und die gegenseitigen Ver-
fahrungsarten im Classen kämpf müssen ebenfalls auf den Naturgrund
zurückgeführt und hienach beurtheilt werden. Andernfalls dürfte die
lächerliche Figur von einem Recht des Siegers, als einer Variante
— 232 —
des von Hugo Grotius so geliebten Recht des Stärkeren, das stupide
Ergebniss sein, und nur der Triumphirende, sei er nun Revolutionär,
Reactionär oder Staatsstreichuntemehmer, würde durch die blosse
Thatsache des Gelingens Recht behalten. Was. er aber in der That
behält oder erringt, ist nur die Macht und die Verfügung über die
äusserlichen Formen und Werkzeuge der vorhandenen oder einer neu
eingesetzten, in der Hauptsache indifferenten und der jeweiligen
Staatsmacht folgenden Rechtspflege. Ueber die Gerechtigkeit wird
durch den Erfolg nicht entschieden, und das wurzelhafte Rechts-
gefiihl, wie wir es ohne ümnebelung kennen gelernt haben, wird
an sich selbst von den Zufälligkeiten der Gewaltkämpfe nicht be-
rührt.
Auch da, wo das bestimmte positive Recht allzu ungerecht ist
oder arge Lücken hat, pflegt der Naturgrund gelegentlich wieder
aufzusteigen und das aufs Aeusserste gespannte Ressentiment seine
Urfanction mitten in der CiviUsation und trotz derselben gelegent-
lich wieder aufzunehmen. "Diese Correcturen sind gewiss sehr be-
dauerlich; aber noch bedauerhcher und verwerflicher sind die Üebel-
stände, welche zum vereinzelten Durchbrechen und zur individuellen
Ergänzung der geregelten Rechtsbeschaffung antreiben. Nicht die
Reste des alten Fehderechts, nämlich die in der modernen Umgebung
bereits in das Komische spielenden Duelle sind hier gemeint, obwohl
auch diese abgelebte Form der mittelalterlich romantischen Processart
und aristokratischen Selbsthülfe mit ihrer dreinschlagenden Logik
und ihrem Beweis durch den Erfolg unter Umständen dem natür-
lichen Racheprincip dienstbar werden mag. Es ist vielmehr an die
verstandesmässige, zum Theil auch schon von J. J. Rousseau ins
Auge gefasste Befriedigung des Vergeltungsbedürfaisses zu denken,
welche den feindlichen und sonst unerreichbaren Uebelthäter auf
eigne Hand mit einer Strafe heimsucht. Wenn der geschundene
Mensch, Angesichts der Versagung eines geregelten Rechts, bei irgend
einer Gelegenheit seinem Schinder ein vergeltendes Uebel zufugt, so
ist dies eine That der Verzweiflung an der sich als nichtig oder
unzulänglich erweisenden Rechtshülfe. Die Privatrache, die in den
Urzuständen Alles war und in der Civilisation Nichts sein soll, wird
dann wieder zu Etwas. Sie steigt aus dem Untergründe gleichsam
gespenstisch wieder auf, um daran zu erinnern, dass es eine tiefer
wurzelnde Macht giebt, als die willkürlichen Einschränkungen und
zufälligen Voreuthaltungen des Rechts. Den Selbsträcher wird viel-
— 233 —
leicht die Maschinerie der Criminaljustiz ergreifen und sich ihrer-
seits' an ihm, wie sichs positiv gebührt, erholen; denn hierin liegt
das grausame Verhängniss der lückenhaften und unzulänglichen Civi-
lisation. Jedoch wird sie ihn in seinem Gewissen schwerlich erreichen
können, falls seine Rache wirklich gegen eine unerträgliche Unbill
gerichtet war, für welche das Justizmonopol keine Ausgleichung
kannte oder im besondern Fall aus Parteilichkeit vorenthalten hatte.
Sicherlich ist es moralisch besser, jede noch so begründete Rache
einzudämmen und dem Gemeinwesen ein Opfer zu bringen. Aber
das Maass kann so hoch steigen, dass ein Verzicht nicht mehr in
menschlicher Möglichkeit liegt. Wenn für die Ermordung der An-
gehörigen oder gesundheitvernichtende Qualen unter Umständen
keine Ausgleichung durch Rechtshülfe zugänglich ist, so darf man
sich nicht wundern, dass der Rachetrieb bestehen bleibt und auch
wohl die Gelegenheit zur Bethätigung wahrnimmt, ja bisweilen ein
ganzes Leben hindurch auf allen Wegen sucht. In Ueber- und
Unterordnungsverhältnissen, vermöge deren eine Kaste das Volk fast
absolut befehligt und sich in ihren Ausschreitungen nicht nur selbst
richtet, sondern, wie es in dieser Lage sehr natürlich ist, von dem
Grundsatz ausgeht, dass der Niedere schon als solcher nicht blos
die Vermuthung des Unrechts gegen sich, sondern auch überhaupt
weniger Recht habe, — da wird selbst gegen die offenbarste Aus-
schweifung des Uebermuths, geschweige denn für ein wirklich gleiches
Recht wenig zu erreichen sein. In feudalen und militairischen Ver-
hältnissen starker Ungleichheit und Rechtlosigkeit wird sich das
natürliche Recht des einzelnen Menschen oft genug auf Umwegen
geltend machen und würde es in noch zalilreicheren Fällen, wenn
nicht zu der äusserlichen Unterdrückung auch noch die innere geistige
Umnebelung des natürlichen Wollens und Denkens hinzuträte. Die
unnatürliche Moral, die mit mehr oder minder Aberglauben versetzt,
die Gemüther von Jugend auf verwirrt und ihnen eine der Sklaverei
entsprechende Denkweise einimpft, lässt häufig die Verzerrung, Ab-
stumpfung und Ohnmacht des Rechtsgefühls zur zweiten Natur
werden und selbst diejenigen Menschenrechte vergessen, in denen
schon die blossen Naturregungen Lehrmeister sind, und die nicht
erst von der Aufklänmg und Cultur zum Bewusstsein gebracht
werden.
7. Die Erhebung über die Rache ist auch eine Erhabenheit
über das geschehene Unrecht. Am besten stellen sich die mensch-
— 234 —
liehen Angelegenheiten, wenn diejenige Gerechtigkeit, die dem Un-
recht durch Einhaltung des richtigen Weges vorbeugt, zur ausschliess-
lichen Thatsache wird. Diese Gerechtigkeit besteht in der Enthaltung
von Verletzungen, während die ahndende Gerechtigkeit die Verletzung
nur durch neues wirkliches Unheil, d. h. durch eine Vermehrung
des Leidens, auszugleichen vermag. Der Maassstab dieser Aus-
gleichungen ist von Natur ein sehr roher. Das Maass von Uebel,
welches eine hinreichende Sühne d. h. Befriedigung der Rache er-
geben soll, muss grösser als das zugefügte sein und auch namentlich
die in dem Verbrechen liegende Nichtachtung des Willens durch
einen gegen den Willen des Uebelthäters gerichteten Zwang mehr
als aufwiegen. Wo z. B. durch Entschädigung die Herstellung des
früheren Zustandes möglich ist, da beginnt die eigentHche Strafe
erst mit dem weiter verhängten Uebel, und selbst wenn dieses Uebel
den ursprünghchen Betrag der Verletzung erreicht hat, muss noch
einmal ein Schritt weiter gegangen werden, um den bösen Willen
als solchen zu treffen. In der That ist auch die Rache, die man
aber nicht mit blossem Hass verwechseln darf, dem als solchen das
Bewusstsein der Gerechtigkeit gar nicht beiwohnt, — in der That
ist die Rache von der Natur auf ein stärkeres Ausgreifen angelegt;
denn sie begnügt sich nicht leicht mit der blossen Zurückgebung
der Verletzung oder ihres äusserlichen Betrages von Uebel. Da nun
überhaupt eine genauere Abmessung durch das Gefühl nicht ver-
mittelt werden kann und auch die verstandesmässige Ueberlegung
nur den Stoff der Empfindungen zum ursprünglichen Anhaltspunlvt
hat, so wird es nicht zu vermeiden sein, dass aus dem berechtigten
Mehr gewöhnlich ein Zufiel werde. Da ferner das Urtheil über die
ganze Lage des einzelnen Falles und über das Maass der Rache auch
bei dem Verletzer ein sehr verschiedenes sein kann, so wird die
Neigung vorhanden sein, sogar bei einem unwillkürlichen Bewusst-
sein des selbstverübten Unrechts eine übermässige Ausschweifung in
der vergeltenden That anzunehmen und diesen Umstand in ein eignes
Gegenrecht umzudeuten. Auch ist sicherlich ein wirkliches Zuviel
eine neue Verletzung von "Seiten des Rächers, welche nun die ander-
seitige Rache herausfordert. Auf diese Weise mag sich das Unheil
derartig häufen und steigern, dass von verhältnissmässig geriugeij
Anlässen her das Leben selbst in Frage kommt. Hiezu bedarf es
keineswegs besonderer Rachsucht, sondern nur des naturwüchsigen
oder von der Cultur noch gesteigerten Irrthums über das rechte
— 235 —
Maass. Der Rachsüchtige ist daher auch weniger gerecht, weil sich
bei ihm der an sich im Allgemeinen gute Naturtrieb durch einen
Fond von ursprünglicher oder im Verkehr erworbener Bosheit ge-
steigert und verzerrt findet. Aber auch abgesehen von einer solchen
regelwidrigen Anlage kommt die Rache stets sehr roh zur Welt,
was sich nicht nur in den Urzuständen der alten Völker und der
heutigen Wilden sowie in der gemeinen Artung der Selbsthülfe, son-
dern fast noch mehr da zeigfc, wo die Auflösung absterbender Rechfcs-
zustände den Einzelnen und die Parteigruppen mehr und mehr auf
Selbstschutz und Eigenhülfe anweist. In diesen Verletzungen und
Gegen Verletzungen , die in allen Gestalten mit und ohne Maske der
Rechtsscheinheiligkeit, vermittelst der rohesten Gewalt wie vermittelst
der Gesetzgebung, durch Justiz- oder durch Verwaltungsproceduren,
auf dem Wege der sophistischen Auslegung oder durch nackte Hin-
wegsetzung über die Rechtsregeln, durch begünstigende Nichtanwen-
dung oder durch gehässige einseitige, nur für bestimmte Parteien
oder Personen vorhandene, in reine Verfolgung ausartende Anwen-
dung, kurz mit allen demoralisirenden und das positive Rechtsver-
trauen untergrabenden Mitteln geübt werden, — in diesen Verletzun-
gen und Gegenverletzungen muss die Rechtsrohheit und Rechtsbruta-
lität unvermeidlich zunehmen, das Unheil durch die entfesselte
Maasslosigkeit gewaltig steigen und eine halbe Wildniss erwachsen,
die in vielen Beziehungen und namentlich auf Seiten der sogenannten
Justiz schlimmer ist, als die ganze und volle Wildniss naiver Ur-
zustände. Die natürliche Rohheit, die in solchen Zuständen sich
Bahn bricht, ist nicht das Schlimmste; denn aus ihrem Grunde
sollen die neuen Bildungen emporsteigen, indem eine höhere Cultur
wieder Maass und Ziel in das Walten der elementaren Kräfte bringt.
Das tödtliche Gift liegt in jener Frivolität der Rechtsverachtung auf
dem Wege der Rechtskünstelei, und an solchen, dem natürlichen
Recht hohnsprechenden Verfahrungsarten gehen die verrotteten Ueber-
lieferungen noch weit mehr moralisch, als durch gegnerische Gewalt
zu Grunde. Ungeachtet dieses Trostes ist aber unter solchen Ver-
hältnissen jene naturwüchsige Maasslosigkeit auch in dem besten
Falle ein unvermeidüches Schicksal. Man muss warten, bis sich die
neuen elementaren Antriebe gestaltet und durch Ablegung ihrer
Naturrohheit veredelt haben. Nicht blos Einsicht, sondern auch
Ruhe ist noth wendig, damit ein Trieb, wie das Rechtsgefühl, zu
einem erweiterten Verstandeshorizont und zu einer gesetzten, möglichst
— 236 —
organisirten Bethätiguug gelange. Die Rache kann nur dadurch
ungerecht werden, dass sie sich in den Voraussetzungen irrt oder
in der Schätzung vergreift, und hier giebt es keinen andern Ausweg,
als den von der Natur angelegten, — nämhch die möglichst um-
fassende Verallgemeinerung und Organisation dieser mächtigsten und
xmverwüstlichsten all^r Rechtsinstanzen.
Die Grossmuth ist keine Gerechtigkeit, hat aber ebenfalls ihre
naturgesetzlichen Vorbedingungen. So kann sie in echter und un-
geheuchelter Weise nur eintreten, wo die verletzte Macht sich wirk-
lich über die Verletzung erhaben weiss und in Folge dessen mit
Ruhe über sie hinweg'zusehen vermag. Ein grosssinniges Mitgefühl
für das allgemeine menschliche Schicksal und für die Opfer der un-
ausweichlichen Noth wendigkeit kann auch allenfalls auf eine beson-
dere Reue des Uebelthäters verzichten und ihn, wie er auch be-
schaffen sein möge, mit unverdienter Milde behandeln. Jene hoch-
herzige Leidenschaft, die mit der matten und widerwärtigen Heuchelei
der Feindesliebe keine Faser gemeinhat, triumphirt da, wo sie zu-
gleich mit der eignen Kraft gepaart ist, über die blosse Rache und
fuhrt, je nach den Umständen, zu einem vollständigen Verzicht auf
die Vergeltung oder wenigstens zu einer Umwandlung der letzteren
in solche Uebel, die mit dem Besserungszweck zusammenstimmen
und keine Feindseligkeit enthalten. Je mehr sich die Rache orga-
nisirt und verstandesmässig gestaltet, um so leichter kann sie jene
Haltung annehmen, in welcher sie zum Theil und unter Umständen
ganz von dem allgemeinen Mitgefiihl aufgewogen werden mag. Die
wohleingerichtete Gesellschaft, in welcher die Tendenz zum Ver-
brechen bereits hinreichend zurücktritt, kommt hiedurch immer mehr
in die Lage, im Namen und mit Einwilligung ihres verletzten Ghedes
Nachsicht zu üben und schhesslich das Verbrechen wie eine Krank-
heit zu behandeln. Diese ideale Verfassung ist aber noch nirgend
vorhanden, und es muss sogar als ein Missstand gelten, wenn die
staatliche Justizhoheit mit übel angebrachter Bevormundung auf
Kosten des natürlichen Rechts der verletzten Person milde verfälirt
und ein wenig mit der doch wohl ernsthaft zu nehmenden Huma-
nität grade da spielt, wo die Interessen der regierenden Elemente
nicht berührt werden. Auch Gnade ist meist nicht Grossmuth, son-
dern berechnende Gunst, deren Uebung die allgemeine Macht der
sie Gewährenden steigern soll. In der freien Gesellschaft gehört
das Begnadigungsrecht dem Verletzten und der Gesammtheit zugleich
— 237 —
und die letztere darf nimmennehr den ersteren seines Anspruchs auf
Ahndung berauben.
8. Es ist nur die Erdrückung des Einzelnen durch eine sich
als Staat bezeichnende Macht, was die aller freien Individualität
hohnsprechenden Ansichten und Lehren über den Absolutismus der
sogenannten Justizhoheit erzeugt hat. Wenn sich irgend eine Form
der Gesellschaft, und wäre es selbst eine socialistische , einfallen
Hesse, das Criminalrecht anderswoher als aus der Individualität des
einzelnen Menschen abzuleiten, so würde sie damit den Boden unter
den Füssen verlieren. Auch die Sociahsten haben zum Theil noch
zu lernen, dass die Menschenrechte nicht von Gnaden irgend eines
Staats existiren und auch künftig nicht auf irgend einer Gesellschafts-
form, sondern umgekehrt solche Formen auf den Menschenrechten
beruhen werden. Das Individuum ist der einzige Ausgangs- und
Zielpunkt alles Rechts, und die Gemeinschaftsgestalten sind nur Ver-
mittlungen, die von ihm ausgehen und zu ihm hinführen. Jede Ver-
bindung hat nur soviel wahres Leben, als in ihr an freiem Willen
der Einzelnen thätig verkörpert ist. Das grundlegende Recht, wie
wir es bis jetzt betrachtet haben, ist daher auch nur in demjenigen
Umfange lebendig und weiterhin lebensfähig, in welchem die Grund-
triebe der individuellen menschlichen Natur allgemeine Achtung er-
rungen haben. Soweit dies noch nicht der Fall ist, drängt die Natur
selbst auf eine immer umfassendere Verwirklichung ihrer Gebote hin
und bedient sich hiezu jenes Stachels, der den Einzelnen treibt, dafür
zu sorgen, dass die ihn bedrückenden Verletzungen einen Gegen-
druck erfahren und dass die Handlungen oder Veranstaltungen
schliesslich in den von vornherein gerechten Bahnen zurückgehalten
werden.
Von einer Verletzung, durch welche das Ressentiment rege wer-
den muss, kann man auch da reden, wo nicht die ursprünglichen
Rechte, sondern die abgeleiteten, auf Treu und Glauben begründeten
Verbindlichkeiten missachtet werden. Die ünverletztheit des Körpers
und des nur aaf die eigne Person gerichteten Willens sind Forde-
rungen jenes ursprünghchen Rechts, und es gehört hieher auch die
Freiheit vom Geschlechtszwange, da die Nothzucht eine der stärksten
und folgenreichsten Vergewaltigungen ist, die sich überhaupt nächst
dem Tödtungsversuch und der schweren Körperverletzung ausüben
lassen; denn durch sie wird der freie Wille des Weibes in einer über
das Einzelleben hinausreichenden Hauptangelegenheit, nämlich in
— 238 —
Rücksicht auf Existenz oder Beschaffenheit einer künftigen Geburt
zunicht und gleichsam todt gemacht. Hieran lässt sich auch die
Beurtheilung der Zwangsehe schliessen, auf welcher das einseitig
geordnete Zusammenleben der Geschlechter in der bisherigen Ge-
schichte überwiegend beruht hat. Die Ehe, sei sie nun auf mehrere
Weiber gerichtet gewesen oder monogamisch ausgefallen, hat sich
stets als eine Art Geschlechtssklaverei gekennzeichnet, um von dem
übrigen mithineinspielenden Halbsklaventhum des Weibes gar nicht
zu reden. Sie ist eine Form der Herrschaftsausdehnung gewesen, in
welcher die Männer ihre Verfügungsmacht über die Weiber gleich
einem Eigenthum gegenseitig abgegrenzt und hiemit ihre Gewalt-
sphären untereinander als Rechte geltend gemacht haben. Das Weib
war ursprünglich eine Waare, wie sich das in den alten Kaufformen
der Eheschliessung recht sichtbar bekundete. Es ist aber auch bis
heute der Kern der Sache mehr verschleiert als beseitigt. Die alte
Familie, aus welcher heraus das Weib zur Ehe verkauft wurde, war
ursprünglich fast souverain wie ein Staat und nichts als eine rohe
Herrschaftsform. Der dem Scheine nach freie Vertrag, welcher später
mit dem Erfordemiss der sogenannten Einwilligung des Weibes bei
der Eheschliessung eine Rolle spielte, hat praktisch eben nicht viel
zu bedeuten gehabt, und auch jetzt noch ist das vermeintlich freie
Uebereinkommen theils durch die Reste der FamiUengewalt, theils
durch den gesetzlich vorgeschriebenen Inhalt des ganzen Verhältnisses
derartig beschränkt, dass man die fortbestehenden Ueberlieferungen
der Gewaltehe nur noch zu deutlich erkennt. Das öffentliche und
absolut verbindliche Recht kann und muss dem Naturgrunde gemäss
die individuelle Willkür der Privatverträge binden und z. B. Verträge
auf Hineingebung in Sklaverei, auf lebenslängliche Dienstmiethe u. dgl.
als unzulässig ausschliessen ; denn hier drückt es nur das ursprüng-
liche Recht des Privatwillens und dessen individuelles Streben gegen
die Verletzungen allgemein aus. Es heisst aber grade das Umgekehrte
thun, wenn man gegen einen vermeinten falschen Individualismus
augeblich höhere Mächte, nämlich die Satzungen der Halbsklaverei
des Weibes und einer positiven Zwangsehe anruft. Die freie Ver-
gesellschaftung, in welcher die gegenseitigen Verbindlichkeiten ein
natürliches Maass haben und die Freiheit eines jeden Theils keiner
unwürdigen und namentlich keiner durch den Mangel gleicher Gegen-
seitigkeit verdorbenen Beschränkung anheimfällt, — die natürlich
freie Verbindung kann nur bestehen, wo die Unterdrückungen fern-
— 239 -
gehalten, nicht aber durch das sogenannte Recht gegen die Menschen-
rechte geschützt werden.
Mein Princip des Ressentiment zeigt auch für die Bindungs-
formen, welche auf irgend eine Gemeinschaft des Lebens gerichtet
sind, das an, was eine Unterdrückung sein würde, und ausserdem
auch das, was, sobald einmal ein bestimmtes Verhältniss von Treu
und Glauben, also irgend eine Uebereinkunft im Sinne der Natur-
antriebe und Naturnothwendigkeiten geschaffen ist, als verletzender
Bruch gelten müsse. Die Einhaltung der Verträge, die nicht selbst
ein natürliches Unrecht einschliessen, also die allgemeine Gebunden-
heit an freie Uebereinkünfte ist etwas Principielles und Axiomatisches
und ist daher wohl einer Veranschaulichung durch Hinweisung auf
das Ressentiment, aber keiner weiteren Ableitung fähig oder be-
dürftig. Diejenigen Verträge, welche nur ideelle Ausdehnungen des
Unrechts und der Unterdrückung sind, werden zugleich nach ihrem
Ursprung zu beurtheilen sein, und ein Bruch derselben wird nicht
den gleichen Charakter haben können, wie wenn es sich ursprüng-
lich um die freie Eingehung von Beziehungen ohne Verletzung der
Gerechtigkeit gehandelt hätte. Der bestimmte, durch den positiv
schaffenden Willen erzeugte Inhalt der Vertragsgebilde lässt sich
nur negativ, nämlich in alledem, worauf er sich nicht richten darf,
nach unserm Fundamentalprincip beurtheilen , muss dagegen nach
seiner wesentlich schöpferischen Seite aus dem Gesichtspunkt der
Zweckmässigkeit und einer Art von Kunst bemessen werden. Die
eigentliche Gerechtigkeit ist hier also gar nicht mehr oder nur mittel-
bar in Frage, und dieser Thatsache gemäss sind auch diejenigen Ge-
bilde zu beurtheilen, die in der ferneren Entwicklung an die Stelle
der geschichtlichen Zwangsehe und des Gewalteigenthums treten
müssen. Die Kunst der Gesellschaftsbildung, die in den Schranken
der Gerechtigkeit verbleibt und die Naturantriebe am meisten veredelt,
ist mit ihren Lebenszwecken hier die einzige verbindliche Gesetz-
geberin. Einzig und allein dieses Gebiet verdiente im Gegensatz zu
der blos hemmenden und mithin negativen Gerechtigkeit die Bezeich-
nung als echt positives oder positiv schöpferisches Recht, wobei na-
türlich der Ausdruck positiv eine ganz andere und weit edlere Be-
deutung erhält, als in dem gemeinen Sprach- und Begriffsgebrauch.
9. Nach derjenigen Ehe d. h. durch Uebereinkunft geordneten
Geschlechtsgemeinschaft, bei welcher die Würde und Freiheit des
rein sittlichen Verhältnisses vor einem directen polizeilichen oder
— 240 —
einem indirecten aus der ökonomischen Unselbständigkeit entsprin-
genden Zwang gesichert bleibt, könnte das Eigenthum den zweiten
Hauptfall der durch positive üebereinstimmung gebildeten Rechtsein-
richtungen vorstellen. Indessen ist hier die blosse Mechanik der Gewalt
fast noch umfassender wirksam gewesen, als im Bereich der historischeu
Ehe. Köunen wir bei der Ehe noch immer das Wort beibehalten,
um die höhere, mit dem Polizeizwang und der lebenslänglichen Pro-
stitution brechende Entwicklungsform der Zukunft zu bezeichnen, so
ist dies bei dem Eigenthum nicht mehr der Fall; denn der grösste
Theil der Gedanken, die mit diesem Wort innig verwachsen sind,
bezieht sich auf Zustände, Verhältnisse und Handlungen, die nicht
nur die Vorenthaltung der Natur, sondern auch die active Ansich-
uahme der aufgehäuften Arbeit durch den Nichtarbeiter bedeuten.
Das sogenannte Eigenthum, welches nur in seinen unerheblichen
Beträgen und ausserdem ntir zu einem geringen Theil ein wirkliches,
nicht gegen unser fundamentales Gerechtigkeitsprincip verstossendes
Eigen ist, hat seinen Ursprung überwiegend in der Knechtung des
Menschen durch den Menschen. Nur indem die Herrschaft über
Personen ausgedehnt wurde, die nun als Sklaven den Boden bearbeiten
mussten, wurde es möglich, auch die Herrschaft über die eigentliche
Sachenwelt in bedeutenderem Maasse auszudehnen. Ohnedies wäre
der Einzelne weder mit -der allgemeinen noch mit der speciell wirth-
schaftHchen Herrschaft über den Grund und Boden irgend weiter
gekommen. Es hätte ihm zwar der Weg der freien Vergesellschaftung
mit Andern zu gleicher Gegenseitigkeit in Arbeit und Genuss offen-
gestanden; aber eben dieser Weg hätte ja dem Entstehen der ein-
seitigen und ausschliesslichen Herrschaft der Einzehnacht über den
Grund und Boden und über die umfassenderen Productionsmittel
entschieden vorgebeugt. Anstatt einer gleichen Gesellung und eines
Zusammenwirkens auf gleichem Fuss zu gleichen Rechten und Pflichten
hat historisch das nackte Kräftespiel ohne erhebliche Rücksicht auf
Verletzungen die sogenannten Ordnungen des Gewalteigenthums ge-
schaffen. Dieses gesehichthche Gewalteigenthum ist daher ursprüng-
lich nicht eine Ursache, sondern eine Wirkung der ganzen und halben
Sklaverei sowie überhaupt aller durch das Schwert des Kriegers ge-
schaffener Unterordnungen, dem der Trug der Priester erst hinterher
secundiren konnte, indem er die Ergebnisse der blossen Gewalt-
mechanik als eine geheiligte Ordnung zu verklären suchte.
Das Recht zur vollen und ausschliessHchen Herrschaft über eine
— 241 —
Sache lässt sich in keiner Weise aus stichhaltigen Rechtsgründen
ableiten. Die Thatsache einer solchen Herrschaft ist noch kein
Recht, und erst wenn die Nichtachtung dieser Thatsache als Ver-
letzung nachgewiesen würde, gegen welche sich das Ressentiment
unter allen Umständen wie gegen eine Körperverletzung kehren
müsste, — erst dann, auf Grund einer solchen Nachweis ang, würde
jene Thatsache der übrigens blos über ein Stück der Natur aus-
gedehnten Herrschaft als Recht gekennzeichnet sein. Dieses Recht
wäre aber immer noch nicht das historische Gewalteigenthum , weil
das letztere die Versklavung der Menschen einschliesst, die nicht
einmal als Strafe gerechtfertigt werden kann. Einen Andern vom
Zugange zur Natur und ihren Hülfsquellen ausschliessen , ist sogar
selbst eine Verletzung, und hiemit wird ein derartiges ursprüngliches
Unrecht schon ein Bestandtheil des Eigenthums an Stücken der
blossen Natur. Auf die eigne persönliche Unverletztheit und mithin,
auch auf das unbeeinträchtigte Gewährenlassen der Arbeit und des
Genusses ihrer Früchte ist das strengste Recht vorhanden und zwar
aus dem einfachen Grunde, weil jeder fremde Uebergriff in diese
Sphäre mit der gleichen Geltung der Persönlichkeiten unvereinbar
wäre und das natürliche Ressentiment herausfordern würde. Jedoch
darf aus eben demselben Grunde Niemand darauf Anspruch machen,
etwas als Eigen zu haben, was zwar mit seiner Arbeit verwachsen,
übrigens aber ein Stück der Natur ist, die von Niemand ohne Un-
recht gegen Andere monopolisirt d. h. zu etwas ausschliesslich Be-
herrschtem gemacht werden kann. Da nun die Trennung der be-
thätigten Arbeit von dem Naturstück, an welchem sie haftet, durch
Verbrauch der Producte nur zum Theil bewerkstelligt wird und eine
dauernde Wirkung der einfurallemal ausgeführten Arbeiten als Rest
in Anschlag kommen mag, so bleibt nichts übrig als die Auseinander-
setzung im Wege einer positiv schaffenden, den gleichberechtigten
Zugang zur Natur regelnden Kunst. Andernfalls Hesse sich einfach
fordern, dass die Arbeit aus ihr^ Verbindung mit der Natur heraus-
gezogen und so Platz auch für fremde Thätigkeit beschafft würde.
An die Stelle jenes sehr scheinbaren Eigenthums, welches aus der
Arbeit stammen, aber ausschliesslich werden und sich die Natur in
ihren unbeweglichen und beweglichen Theilen einverleiben soll, tritt
der genauere Begriff eines Rechtes zur ungestörten Arbeitsbethätigung
an der Natur und zum unbeeinträchtigten Genüsse der Arbeitsfrüchte.
Dieser Begriff lässt sich aber ohne positiv schöpferische Regelung
Dühring, Cursus der Philosophie. ^^
— 242 —
der Thätigkeitsbereiche der Glieder einer politisch wirthsehaffcenden
Gesellschaft nicht verwirklichen. Es kann daher nur in demjenigen
sociahstischen Gebilde, welches ich in meinem Cursns der Social-
ökonomie als socialitäres System gekennzeichnet habe, ein echtes
Eigen an die Stelle des blos scheinbaren und vorläufigen oder aber
gewaltsamen Eigenthums treten. Dieses Eigen gilt nur der Person
und der Unverletztheit ihrer auf Leben und Lebenssteigerung ge-
richteten Mühen.
Aus dem Vorangehenden folgt, dass die schlimmste Art des
Gewalt- oder Ausbeutungseigenthums nicht die Natur, sondern die
in den dauernden Erzeugnissen gleichsam angesammelten Arbeits-
leistungen zum Gegenstande hat. Wer sich die Herrschaft über ein
Naturstück aneignet und den Andern davon gewaltsam ausschliesst,
enthält ihm nur das vor, was er ihm ohne Verletzung der gemein-
samen natürlichen Ansprüche nicht verweigern kann. Wer dagegen
die fremde Arbeitsleistung ohne völlig gleichen und mithin gerechten
Austausch an sich bringt, nimmt positiv etwas weg, was er nicht
nehmen darf. Das Eigenthum also, welches so zu sagen aus der
Menschheitsdomäne stammt und ausser in der Sklaverei in der Auf-
häufung fremder Arbeit bestanden hat oder, mit andern Worten,
der ausschliessHche Capitalbesitz ist im Allgemeinen noch einen Grad
ungerechter als der Alleinbesitz des bereits durch die blosse Natur
Vorhandenen. In dem einen Falle wird der Mensch nur verhindert,
seine gleichen Ansprüche auf die Natur geltend zu machen; in dem
andern Falle werden er selbst und seine Leistungen angegriffen und
es wird ihm das entrissen, was er bereits, und zwar am meisten zu
eigen hat. Man wende hier nicht die Vererbung ein; denn diese
kann keine Eigenthumsrechte schaffen, die nicht schon vorhanden
sind, und die gerechte d. h. gleiche Erbtheilung trägt nicht nur
nichts zur Aufhäufung bei, sondern arbeitet im G^entheil auf eine
gesellschaftliche Zerlegung der concentrirten Ansammlungen hin. Es
giebt daher keinen Weg, auf welchem ein gerechter Arbeitsaustansch
zu sonderlichen Eigenthumsmassen verhelfen könnte. Sogar die
grössere Umsicht und Arbeitsamlceit kann unter natürlichen und
gleichen Verhältnissen keine grosse Kluft reissen und namentlich
nicht eine solche, die durch den Wechsel der Schicksale nicht bald
wieder ausgeglichen würde. In einem idealen Gemeinwesen müssen
aber derartige Vorzüge, nach dem Grundsatze des gleichen Werths
der Arbeitszeit, grade wie die Naturvortheile für die Gesammtheifc
— 243 —
und nicht für ausschliessliche Sonderinteressen oder egoistische Auf-
häufnngsbestrebungen ergiebig werden.
Aus der Zwangsehe und dem Gewalteigenthnm ergiebt sich die
Lehre, dass es sich im Privatrechtsgebiet gleichsam um eine schöpfe-
rische Kunst handelt, die zu Gebilden besserer menschlicher Vereini-
gung fuhrt. Alle bisherige Geschichte ist in diesem Bereich etwas
Yorläufiges gewesen. Sie hat nur Halbrechte gekannt, die zwischen
den Gliedern bestimmter Classen galten, aber der Volksmasse gegen-
über das Gegentheil von natürlichen Rechten waren. Die Gerechtig-
keit ist theils in der Rohheit des ursprünglichen Wollens theils in
der Unwissenheit von vornherein untergegangen und muss solange
und insoweit unterdrückt bleiben, als sich nicht das bessere Bewusst-
sein nebst den dasselbe tragenden Kräften umfassend und in ge-
liöriger Breite entwickelt.
IDrittes Oapitel.
Bessere Menschheitsausprägung.
Höher als die Rücksichten der nothdürftigsten Sitte und des
unerlässlichsten Rechts stehen die auf eine edlere Menschlichkeit
gerichteten Bestrebungen, da durch sie erst recht eigentlich der po-
sitive Gehalt und die vollkommnere Artung des Lebens gestaltet
wird. Man erhebt sich über das gewöhnliche Niveau der Moral,
indem man die Kunst der positiven Veredlung der Menschennatur
und ihrer Bethätigungsarten in das Auge fasst, und man lässt die
Enge rein juridischer Einschränkungen und blosser Verneinungen
hinter sich, wenn man das offene und weite Feld humanitärer Cultur
betritt. Hier darf nicht mehr blos davon die Rede sein, dass sich
der Mensch selbst beschränke, um den Wirkungen der Ausschweifung
zu entgehen und sich vor Verletzungen des Nebenmenschen zu hüten;
der leitende Zweck greift vielmehr über diese Negativitäten hinaus
und fordert die Entfaltung derjenigen Eigenschaften, durch welche
die menschliche Sitte ein harmonisches und ideales, namentlich aber
ein sympathisches Gepräge erhält. Mit der gemeinen Ordnung der
Triebe und Affecte sowie mit der moralischen und juristischen Ge-
16*
— 244 —
rechtigkeit ist nur eine unerlässliche Vorbedingung, aber keineswegs
die Hauptsache erledigt. Das Leben ist nicht dazu gemacht, um
in der Ueberwindung von Hindernissen und Störungen des Rechts
aufzugehen und den Triumph über derartige Schwierigkeiten als das
letzte Ziel gelten zu lassen.
Die natürliche Beschaff^heit des Menschen wird durch Cultur
und Erziehung bestimmter gestaltet, bleibt aber immer die maass-
gebende Schranke. Da uns die ursprüngliche Artung des Menschen,
wie sie durch die blosse Hand der Natur verzeichnet wurde, praktisch
gleichgültig bleiben kann, so haben wir unser Augenmerk auf das-
jenige Natürliche zu richten, welches sich im Rahmen der Cultur
producirt. Aus dem Mutterschooss geht der Mensch bereits mit einer
Ausstattung von Eigenschaften hervor, die in den Gewohnheiten und
Sitten der früheren Geschlechter ihren Grund haben. Von der blossen
Muskelfiinction bis zur Gedankenbildung hinauf macht sich die üeber-
lieferung geltend, und das beharrliche Festwerden der besondem
Anlagen und Eigenschaften kann als eine Art langsamer Verfassungs-
änderung des gesammten Organismus gelten. Für Schöpfung und
Vernichtung von guten oder schlimmen Sondergebilden und Mischungs-
compositionen ist die Geschlechterfolge von entscheidender Bedeutung.
Zufall oder Auswahl der Gesellung oder gar systematische Zucht ver-
fügen in souverainster Weise über Dasein, Artung und Schicksal
eines Wesens, welches einst seine harmonische oder disharmonische
Constitution zu empfinden und glücklich oder unglücklich zu erproben
haben wird. An dieser Ausstattung, mit der es in die Welt kommt,
vermag es nachträglich nicht viel zu ändern. Es mag im Rahmen
derselben das beste Theil erwählen, aber es kann die Mängel und
Gebrechen nicht nur nicht fortschaffen, sondern wird dieselben wenig-
stens zum Theil noch weiter fortpflanzen. Erst eine Reihe von Ge-
schlechtem ist im Stande, erhebUch und nachhaltig an der physio-
logischen Unterdrückung des Schlimmen und an der Häufung des
Gelungenen zu arbeiten. Die bessere Composition und Vervollkomm-
nung des menschlichen Typus wird aber trotzdem die Racen- und
Stammeseigenschaften nur erst in sehr grossen Zeiträumen berühren
und sich übrigens damit begnügen müssen, innerhalb des gegebenen
nationalen oder noch engeren Rahmens die Vervollkommnung schaf-
fend und ausmerzend zu • bewerkstelligen. Ohne Vernichtung oder
Zerst(3rung der Übeln Eigenschaften und ohne ein Hinwirken auf die
Femhaltung der ungünstigen Mischuugsgebilde wird es hiebei nicht
— 245 —
abgehen können. Die rein positive Fürsorge fSr die edleren Com-
binationeu würde an sich selbst ungenügend bleiben, wenn sie nicht
von zerstörenden Mächten begleitet wäre, die sich gegen die Fort-
existenz oder gegen die ursprüngliche Entstehung und Uebertragung
des Schlimmen kehrten. Nicht die Darwinistischen Phantasien über
den Kampf um das Dasein und auch nicht die wahrhaften Wirkungen
desjenigen Kampfes, den die Naturmechanik in der That aufzuweisen
hat, liefern uns ein Bild von den eigentlichen Chancen der Vervoll-
kommnung oder Entartung. Der bewusste und alsdann völlig un-
moralische Kampf, durch welchen das eigne Dasein egoistisch und
ungerecht auf Kosten des fremden Lebens gesteigert wird, kann nur
dazu fähren, die innern Anlagen zur Feindschaft des Menschen gegen
den Menschen und zur Raubthiersitte zu vermehren. Die sich auf-
lösenden Zustände politischer und gesellschaftlicher Fäulniss mögen
jenen Kampf, der in einigem Maass und ohne sonderliches Bewusst-
sein den rohen Ursprungszuständen am ehesten eigen ist, in raffi-
nirter Weise wieder hervorbringen ; sie werden hiemit nur eine Sitten-
verderbniss und eine Yerschlechterung der Charaktereigenschaften
einleiten, die da beweist, dass es sich um die gegenseitige Vernich-
tung der verkehrtgewordenen Bestrebungen handelt. Diejenigen,
welche nichts als den brutalen Kampf um das Dasein kennen und
wollen, verdienen in der That, dass sie von einem kannibalischen
Schicksal ereilt werden und ärgere^ Erfahrungen machen, als die
blos unglücklichen Schiffbrüchigen, die, auf ihrem Boote vor den
Wellen, aber nicht vor dem Hunger gerettet, die menschenverzehren-
den Ureigenschaffcen des Geschlechts gleich vielen heutigen Wilden
von Neuem bethätigen. Die modernen Wilden einer untergehenden
Civilisation mögen sich in dem Chaos der Auflösung um ihr eignes
Fleisch und Blut balgen und sich in diesem Handwerk noch obenein
als Kämpfer für die Cultur und als Fürsorger für eine bessere Gat-
tung verherrlichen lassen. Sie werden zeitweilig in einigen Schichten
allerdings eine Veränderung des menschlichen Typus zu Wege brin-
gen, aber eine solche, welche die kurzlebige, den baldigen Tod ver-
kündende Eigenart der zufällig triumphirenden Bestie für eine Spanne
Zeit sichtbar macht, um alädann in den bestienhaft vergossenen
Strömen von Blut selbst endgültig zu versinken. Von dieser Seite
ist mithin nur die Steigerung der Lebensunfähigkeit und die Ent-
wicklung derjenigen Eigenschaften zu gewärtigen, welche das Leben
den verkommenden Elementen verleiden, dann seiner selbst gar nicht
— 246 —
mehr werth erscheinen lassen und schliesslich auch durch fremde
Abschneidung der verkünstelten Bedingungen unmöglich machen,
Ueberraschen darf dieser Gang der Dinge nicht; denn der egoistische
Kampf um das Dasein ist die principielle Ungerechtigkeit selbst und
kann daher als leitender Gesichtspunkt nur zu einem Chaos der uni-
versellen Feindschaft, Auflösung und sowohl moralischen als physi-
schen Vernichtung fähren.
2. Angesichts der Bedeutsamkeit der Fortpflanzung für Fest-
haltung, Ausmerzung und Mischung sowie sogar für neue gestaltende
Entwicklung von Eigenschaften muss man die letzten Wurzeln des
Menschlichen oder Unmenschlichen zu einem grossen Theil in der
geschlechtlichen Gesellung und Auswahl und überdies noch in der
Sorge für oder gegen einen bestimmten Ausfall der Geburten suchen.
Das Gericht über die Wüstheit und Stumpfheit, welche in diesem
Gebiet herrschen, muss praktisch einer späteren Epoche überlassen
bleiben. Jedoch ist wenigstens soviel von vornherein auch unter
dem Druck der Vorurtheile begreiflich zu machen, dass weit mehr
als die Zahl, sicherHch die der Natur oder menschlichen Umsicht
gelungene oder misslungene Beschaffenheit der Geburten in Anschlag
kommen muss. Ungeheuer sind allerdings zu allen Zeiten und unter
allen Rechtszuständen der Vernichtung anheimgegeben worden; aber
die Stufenleiter vom Regelrechten bis zur vollständigsten Verzerrung
in das nicht mehr Menschenähnliche hat viele Sprossen. Auch ist
der Aberglaube an die Unfehlbarkeit der Natur einer der schlimm-
sten. Im Groben durch die Missgeburten widerlegt, zieht er trotz-
dem seine Consequenzen in der ganzen Breite des nicht grade ab-
solut monströsen Daseins. Da indessen seine mittelalterliche Ein-
wurzelung eine grosse Zähigkeit in Aussicht stellt, so lohnt es sich
heute noch nicht, eine noch ziemlich entfernte Zukunftsfrage im
Hinblick auf eine unmittelbare Praxis zu erörtern. Die vorausgehende
Fürsorge, die vor der Erzeugung an das Ergebniss denkt, ist der
heutigen Vorstellungsweise gegenüber etwas weit eher Plausibles.
Wird dem Entstehen eines Menschen vorgebeugt, der doch nur ein
schlechtes Erzeugniss werden würde, so ist diese Thatsache offenbar
ein Vortheil. Natur und Mensch, die in diesem Falle als ein ein-
ziges Wesen zusammenwirken, sind vor der Schöpfung eines aus-
schweifenden und unzuträgHchen Gebildes bewahrt. Ja man kann
sagen, dass die allgemeine Natur in ihrer rohen Wirksamkeit der-
artige Correctureu erfordere, wenn nicht in dem Hauptpunkte, näm-
— 247 —
lieh in dem künftiges Leben und Bewusstsein schaffenden Drange,
Chaos nnd Zufall die erste Rolle spielen sollen.
Unter Verachtung der Darwinistischen Art der Naturzüchtung,
deren Unzutreffendes wir schon früher blosgestellt haben, wenden
wir uns unmittelbar zu den höheren, echt menschlichen Beweggründen
der heilsamen Geschlechts Verbindungen. Hier ist die menschlich
veredelte Gestalt der Geschlechtserregung , deren Steigerung sich als
leidenschaftliche Liebe kundgiebt, in ihrer Doppelseitigkeit die beste
Bürgschaft für die auch in ihrem Ergebniss zuträgliche Verbindung.
Die Anzeigen der gegenseitigen Liebe müssen als ästhetische Urtheile
über den Werth der Vereinigung angesehen werden, und es ist nur
eine Wirkung zweiter Ordnung, dass aus einer an sich harmonischen
Beziehung auch ein Erzeugniss von zusammenstimmendem Gepräge
hervorgehe. Hieraus folgt wiederum, dass jeder Zwang schädlich
wirken muss, indem er nicht nur die Freiwilligkeit der Natur von
den angemessenen Gegenständen ablenkt, sondern auch den Ge-
schlechterverkehr auf die niedrigsten, ihrer veredelnden Empfindungs-
bestandtheile beraubten Triebformen einschränkt. Ein derartiges
Herunterkommen auf gemeinere Triebbethätigungen ist nun freilich
der gewöhnliche Fall, und sehr häufig ist nicht einmal ein Herunter-
kommen in Frage, weil die Höhe selbst unbekannt und unerprobt
blieb. Hierin liegt ja aber grade der Beweis für den niedrigen Stand
der gemein menschlichen Beschaffenheit im Bereich der bisherigen
Cultur. Das rein thierische Dasein steht oft höher als die gedrückte
und entartete Menschlichkeit; denn es ist bisweilen solcher Erregungen
fähig, welche sich in ihrer so zu sagen sittlichen .Gestaltung edler
ausnehmen, als die entsprechenden, zur Leidenschaftslosigkeit ent-
arteten und fast zu einer vegetativen Function herabgesunkenen
Triebe des animalisch nivellirten Menschenwesens.
Obwohl uns die Liebe hier zunächst in ihrer Bedeutung für das
schöpferische Ebenmaass der Erzeugungen entgegengetreten ist, so
hat sie doch ihren Werth in sich selbst und ist keineswegs darauf
angelegt, vorzugsweise eine Rolle als Mittel für einen ausser ihr
liegenden Zweck zu spielen. In der natürhchen Liebe ist der ein-
zelne Gegenstand, auf den sich diese Art der Gemüthsbewegung
richtet, das Band, durch welches auch der geistige Zusammenhang
mit der Gattung geknüpft, und durch welches die Vereinzelung des
Wollens aufgehoben wird. Die Geschlechtsliebe und die sich daran
knüpfende Liebe zu dem Erzeugniss ist der Grundtypus für alle
— 248 —
Affectionen des aufrichtigen und sympathischen Wohlwollens. In
den Elementen der menschlichen Natur findet sich nichts, was eher
zu einer echten Menschenhebe fuhren könnte, als diejenige Gesin-
nungsrichtung, welche sich unter dem Eindruck des höheren Natur-
antriebs entwickelt und nicht blos für den Entstehungsfall sondern
auch in den allgemeinen Uebertragungen des Wohlwollens ihre Wir-
kung übt. Wenigstens lässt sich die Thatsache der enthusiastischen
Menschenliebe, die doch nie ganz weggeleugnet werden kann, nicht
anders erklären, als aus einer Gemüthsrichtung, in welcher sich das,
was sonst Geschlechtsliebe sein würde, in einer unbestimmteren Ge-
stalt als Liebe zum Menschengeschlecht kundgiebt. Auch darf diese
Annäherung von zwei verwandten Affecten nicht überraschen, da ja
in beiden Fällen die Gattung als solche und ein geistiges Hinaus-
strebeu über die Vereinzelung des Daseins in Frage kommt, üebri-
gens gäbe es für die Erkläining des Wohlwollens nur die Hinweisung
auf die Rückwirkungen empfangener Wohlthaten, die aber selbst
wiederum nur dann eine wohlwollende Gesinnung erzeugen können,
wenn sie selbst von einer solchen ausgehen. Es bliebe daher als
ursprüngliche Ursache nur die Güte des Gemüths und Charakters
offen. Die Annahme derselben muss nun zwar ebenso gestattet sein,
wie diejenige der Bosheit und Tücke; aber wir müssen uns diese
Güte selbst verständlicher machen, indem wir sie mit den edleren
Gestaltungen der Geschlechts- und Mutterliebe vergleichen.
3. Die Philanthropie, in dem modernen Sinne des Worts, ist
mit so grossen Schwächen, Selbsttäuschungen und thatsächlichen
Trugbestandthejlen versetzt, dass ein Anschlagen ihrer Saiten für
den Kenner nicht mehr recht einen reinen Klang geben will. Der
muthlose Beccaria, der ja eine Hauptfigur dieser Gattung war, hat
selbst eingestanden, dass er zwar der Menschheit nützen, aber doch
lieber die klare Wahrheit hinter Dunkelheiten der Darstellung ver-
stecken, als irgend ein Märtyrerthum für sie auf sich nehmen wollte.
Wenigstens war dies seine vertrauliche Entschuldigung, als ihm von
einem seiner üebersetzer die Unverständlichkeit vieler Gedanken und
der Mangel an Zusammenstimmung vorgehalten wurde. Wohin eine
ehrliche und hochherzige Natur, die zuerst an die Criminalphilan-
thropie des Italieners anknüpfte, von diesem Ausgangspunkt her
schliesslich gelangen mochte, bezeugt ein grosses Beispiel, wie es
nicht leicht auf gleicher geschichtlicher Höhe gefunden werden dürfte,
nämlich dae Verhalten des durch Verleumdung und Geschichtsfälschung
— 249 —
80 arg entstellteu J. P. Marat. Sein Plan einer Strafgesetzgebung
war eine Schrift, in welcher das, was Beccaria im Dunkel belassen
hatte, von der zugleich humanitären und charakterfesten Gesinnung
in das vollste Licht gestellt wurde. Jedoch sollte Marat, der übri-
gens auch als Mann der Wissenschaft, nämlich als originaler physi-
kalischer Scliriftsteller Bedeutung hatte, in dem Ringen der Revo-
lution es noch gleichsam naturgesetzlich darthun, wie jene Philan-
thropie in die Vernichtung der Girondisten auslaufen musste. Im
Kampfe für die Menschenrechte wird die gemeine Philanthropie regel-
mässig dann fehlen, wenn sich die Dinge ernsthaft gestalten, und
sie wird mit ihrer typischen Charakterschwäche denen das Feld
räumen müssen, die gleich einem Marat an die Stelle iln-er zaghaften
und schmiegsamen Verschwommenheiten die eherne Nothwendigkeit
einer wirklichen Menschheitsaction setzen. In der That ist der Platz
der vulgären, meist mit einer guten Dosis eitler Wichtigthuerei auf-
tretenden Philanthropie vornehmlich da, wo es gilt, zwischen den
Beinen der Gewalthaber mit einer Ladung gehorsamster Linderungs-
mittel durchzusegeln, und zwar dürfen die fraglichen Milderungen
die delicatesten und schlimmsten Punkte gar nicht berühren. Am
auffälligsten hat sich dies in der neusten Kriegsphilanthropie gezeigt,
welche sich wohl hütete, die schlimmsten Gräuel und namentlich
diejenigen der Bürgerkriege irgend anzutasten. Ihre Officiosität ist
so unverkennbar, dass ihr Mangel an Stimme Angesichts der ärgsten
Gräuel und ihre Betonung der amtlichen Nebendinge bisweilen direct
den Charakter einer Parteinahme gegen echte Menschlichkeit ange-
nommen hat. Fast ausschliesslich auf die Sorge für die Verwundeten
der regelrechten Heere eingeschränkt, hat sie vorzugsweise die sen-
timentale Rührmalerei cultivirt und ist ffeleo^entlich auch unter den
Machthabern grade den Afrikanischen Hyänen, die sich durch einen
gleichen Grad von Feigheit, Grausamkeit und Liebhaberei für Ca-
daver auszeichneten, eifrig nachgelaufen. Diese logiklose Bettelphi-
lanthropie spielt auch ein wenig in sogenannte christliche Liebe
hinein und pflegt sich gern ein wenig mit diesem Mantel zu dra-
piren. Nun hat aber leider die seit anderthalb Jahrtausenden pri-
vilegirte Barmherzigkeit nie etwas Ganzes und Durchgreifendes für
die Menschheit ausgerichtet, sondern im günstigsten Falle nur in
vereinzelter Weise einige Linderung für diejenigen Üebel geschafft,
zu deren Entstehung und Fortbestand eben die Träger jenes christ-
lichen Systems ihren vollen Segen gespendet hatten. Der heuch-
— 250 —
lerische Zug, dem ,die sogenannte Feindesliebe naturgesetzlich von
vornherein anheimfällt, hat sich auch in der neuern Philanthropie
dieses Schlages nicht verleugnen können.
4. Auf eine andere Gattung, nämlich die Socialphilanthropie, die
in den unklaren und politisch restaurativen Zuständen mit ihrer Halb-
romantik am ehesten heimisch geworden ist und der es ebenfalls,
aber doch nicht in gleichem Maasse an Charakter gebrach, brauchen
wir hier nicht einzugehen. Dagegen ist die Criminalphilanthropie,
die trotz ihrer schwachen Seiten und trotz der Yaterschaffc Beccarias
immerhin in der Richtung milderer Cultur mitgewirkt hat, noch be-
züglich ihrer Tendenz gegen die Todesstrafe und ihres Einti'etens
für Himianisirung der Strafmittel ein wenig ins Auge zu fassen.
Der Tod als Abschreckungsmittel und der Tod als eigentliche Ge-
rechtigkeitsstrafe sind zwei ganz verschiedene Einrichtungen. Der
terroristische Gesichtspunkt hat mit der Ahndung einer Verletzung,
die vom Menschen gegen den Menschen verübt ist, nur zufälHg oder
vermittelst entfernter Ableitungen etwas zu schaffen. Sowenig die
Tödtung im kriegerischen Kampfe als die Verhängung eines Actes
der Gerechtigkeit angesehen wird, ebensowenig darf die gleichsam
polizeiliche Androhung des Todes, vermittelst deren eben nm* ein
Zweck erreicht werden soll, oder gar der die Rolle eines politischen
Ausrottungsmittels spielende Tod an sich selbst und ohne Weiteres
für einen Ausdruck jener natürlich rückwirkenden Gerechtigkeit ge-
halten werdeu, aus welcher sich einzig und allein eine eigentliche
und sühnende Strafe herleiten lässt. Man betrachtet den Menschen
fast nur als Sache, d. h. ohne Rücksicht auf sein Recht, wenn man,
um ihn als Werkzeug kräftig zu bestimmen oder als Hinderoiss aas
dem Wege zu räumen, im Voraus die Androhung oder sofort den
Tod selbst in Anwendung bringt. Zwischen beiden Verfahrungs-
arten ist kein so überaus grosser Unterschied, und man wird daher
schon viel Licht über die einschlagenden Fragen verbreiten, wenn
man sich daran gewöhnt, den systematischen oder irgendwie orga-
nisirten Mord sowie auch die in den Formen der Justiz vollzogene
WegräumuQg nicht mit der Todesstrafe zu verwechseln. Vor der
natürlichen Gerechtigkeit würden vielmehr diese Arten der Todes-
verhängung selbst die tödtliche Rache herausfordern und sich mithin
in diesem Sinne die Todesstrafe oder deren humanen Ersatz verdient
haben. Dringt man bis auf den letzten Gmnd der Verhältnisse, so
werden allerdings überall nur zwei Möglichkeiten von Bedeutung
— 251 —
sein. Entweder ist die Tödtung ein Mord, der als ursprüngliches
Verbrechen von Einzelnen und Völkern aus Raubsucht, Bosheit oder
andern Beweggründen geübt wird, oder sie ist ein Racheact, wohin
auch die zufälligen Wirkungen und Rückwirkungen eines nicht von
vornherein auf das Aeusserste angelegten Streites und Kampfes ge-
hören, xluf irgend einer Seite und in irgend einer Beziehung wird
eine imgerechte Verletzung zu Grunde liegen ; denn nur aus der ur-
sprünglich verletzenden Gewalt kann die Berechtigung der wiederum
geübten Gewalt hergeleitet werden. Alle den Tod bringende Gewalt
ist also entweder spontane Verletzung oder gerechte Rückwirkung
gegen eine solche. Die Frage ist nun die, ob die höher entwickelte
Humanität von dieser Art der Rückwirkung absehen könne oder,
mit andern Worten, ob sich die veredelte und ihrer Rohheit ent-
kleidete Rache, zu welcher sich Rücksichten und Affecte entgegen-
gesetzter Art gesellen, an der Verhängung anderer Uebel genügen
lasse.
Die behäbige Gelassenheit, mit welcher die Justiz ihre Opfer in
den Tod schickt, entfernt sich sehr weit von der unmittelbaren
Natürlichkeit der frischen oder Angesichts der fortdauernden Macht
des Verletzers irisch erhaltenen Rache. Die Natur dieses Affects ist
zwar ursprünglich meist roher und unter Umständen grausamer; aber
sie ist es selten über die lebendige Empfindung hinaus, und sie kommt
nicht leicht in den Fall, einen Feind, der vollkommen unterworfen
und seiner Selbständigkeit gänzlich verlustig ist, vom Standpunkt
unvergleichlicher Uebermacht mit kaltem Muthe abzuschlachten. Oft
ist der Tod, den sie austheilt, nur eine zufällige Wirkung des un-
mittelbaren Kampfes oder eine Maassregel der Nothwehr. Die Rache
will den feindlichen Willen treffen und niedergebeugt sehen; aber
der Tod seines Trägers ist ihr bisweilen eine sich unerwünscht ein-
mischende Vorbedingung der Anthuung einer geistigen Pein. In
ihrer fm'chtbarsten Steigerung würde sie dem Verletzer sogar den
Zauber einer immer wiederholten Auferweckung gönnen, um ihn von
Neuem sterben zu lassen, und sie würde sich um diesen Preis auch
allenfalls mit seinem ewigen Leben aussöhnen. Sie würde sich hiebei
bald erschöpfen oder ausgeglichen finden und in ihrem Verhalten
deutlich beweisen, um was es ihr eigentlich zu thun ist. Mit dem
Tode geht sie über ihr wahres Ziel hinaus, und sie kann den Tod
selbst nicht mehr wollen, sobald ihr die Möglichkeit offensteht, den
Verletzer ohnedies gehörig zu treffen. Hiezu kommt, dass der ein-
— 252 —
zige Fall, in welchem naturgemäss die Tödtung als gerecht erscheiuen
kann, nämlich die vorgängige tödtliche Verletzung durch den Mör-
der, nur äusserst selten von dem Betroffenen selbst wahrgenommen
werden wird. Der erfolglose Mordversuch ist jedenfalls ein nicht so
klarer Grund für die Gegentödtung, die. mehr als Wirkung des
Kampfes oder der Nothwehr, nämlich wahrhafte Gerechtigkeit sein
soll. Das Eintreten der Augehörigen oder überhaupt Anderer fährt
nun freilich nicht zum Verzicht auf die äusserste Befriedigung der
Rache, schwächt aber da, wo nicht ein Band besonderer Liebe und
Aufopferung den Rächer an den Verletzten kettete, die Ressenti-
ments durchschnittlich eher ab und verschärft sie' nur ausnahmsweise.
Der Regel nach wird also der Rächer, der nicht für die eigne Person
eintritt, so handeln, als wenn ihm ein grosses Unheil zugefügt, aber
nicht so, als wenn er selbst eine tödtliche Verletzung empfangen
hätte. Er wird die Unbill als gegen einen Lebenden, nämlich gegen
ihn selbst gerichtet verfolgen und in dieser Lage eher geneigt sein,
sich mit der Uebernahme eines Uebels durch den Verletzer oder mit
der Aufzwingung eines solchen zufrieden zu geben. Ein geschicht-
licher Beweis für diese Richtung der Menschennatur ist das schon
im vorigen Capitel erwähnte Compositionensystem. Die Tödtung des
Mörders ist hienach im Allgemeinen selbst dann keine naturgesetz-
liche Nothwendigkeit, wenn nichts als die Logik der gesicherten
Rache in Frage kommt. Die Tödtung ist unter allen Umständen
ein Zuviel, und man muss in ihr stets einen Ueberschuss über das
hinaus erblicken, was lebende Menschen einander anthun dürfen,
weun sie Rache und Gerechtigkeit mit Verstand üben wollen.
Nimmt man aber auch an, dass der eben bezeichnete Unterschied
nicht so ins Gewicht fällt, imi die Gegentödtung zu einem Mehr
oder zu einem Weniger zu machen, als die eigentliche Gerechtigkeit
mit sich bringt, so muss das Princip der Humanisirung der Straf-
arten die Sache vollends entscheiden. Mit dem Rechtsgefühl lassen
sich glücklicherweise auch höhere Rücksichten vereinbaren. Die
Menschheit, die sich durch die Naturgesetze dem Verbrechen unaus-
weichlich verfallen sieht und ihr allgemeines Loos erkennt, wird die
individuellen Regungen der Rache nicht aufheben, aber im Sinne
der Solidarität und collectiven Verantwortlichkeit massigen und
veredeln. Sie wird von der Zurechnung nicht absehen, aber den
mildernden Umstand der allgemeinen, in der Constitution des Men-
schenwesens angelegten Fehlbarkeit und Verbrechensverhängung
— 253 —
gelten lassen. Sie wird dies im Laufe der Entwicklung nicht blos
können, sondern auch müssen, und so ergiebt sich dann erst die
wahre Erhabenheit über die ausschliessliche Geltung des Ursprung -
heben rohen Naturspiels. Die Natm- war nur ein roher Anschlag,
der sich in seiner weitern culturmässigen Entwicklung berichtigen
musste. So wird sogar der Gewaltmechanismus in edlere Formen
gebracht und die Enthaltung von der Tödtung auch da ein Gesetz,
wo es sich um die gerechte Rückwirkung gegen einen Mord handelt.
Alle bessere Sitte in der Wahl der Strafmitfcel beruht auf einer ähn-
Kchen Verfcieftmg und Einkehr des menschlichen Bewusstseins in sich
selbst. Das unselige Uebel, welches der Mensch über den Menschen
bringt, soll in allen Richtungen und mithin auch da gemässigt wer-
den, wo es nur den Zweck hat, ein noch grösseres moralisches Uebel
und nebenbei auch eine Gefahr zu vermeiden.
5. Die Vermenschlichung der Strafen setzt besser gewordene
Menschengruppen voraus oder wenigstens solche, für deren Lebens-
weise und Denkart die einfache Freiheitsbeschränkung oder die
zwangsweise auferlegte Arbeit bereits ein hinreichend empfindliches
Uebel bildet. Ein Uebel muss nämlich die Strafe unter allen Um-
ständen bleiben, wenn sie ihrem Begriff entsprechen und nicht über-
haupt aufhören soll, ein Act der vergeltenden Gerechtigkeit zu sein.
Angesichts der nicht etwa blos durch die sehr unzulängliche Grimi-
nalstatistik, sondern aus innern Gründen feststehenden Nothwendig-
keiten einer je nach Umständen grössern oder geringern Summe von
Vergehen, könnte man, sobald diese Summe durch Culturverbesse-
ruugen sehr klein wird, allenfalls daran denken, die Gesichtspunkte
der Gerechtigkeit und Abschreckung, die beide von der Natur in
der Rache vereinigt sind, gegen die Sorge um nachträgliche Siche-
rung und Besserung zurücktreten zu lassen. Es gehören zum Ver-
brechen wie zur guten Handlung positive Gründe, und man kann
nicht behaupten, dass die allgemeine Menschennatur als solche von
vornherein zu Uebelthaten neige. Sind also Zustände vorhanden, in
denen sich die Beweggründe zu Verletzungen stark vermindert und
vielleicht auf sehr vereinzelt vorkommende Situationen beschränkt
finden, so mögen die. alsdann eintretenden verbrecherischen Abnor-
mitäten der Handlungsweise immerhin gleich Störungszuständen des
Geistes aufgefasst und ausschliesslich mit solchen moralischen Heil-
mitteln behandelt werden, in denen die Absichtlichkeit eines ver-
geltenden Uebels nicht mehr als wesentlicher Bestandtheil erscheint.
— 254 —
Irgend ein üebel wird ohnedies schon darin liegen, dass der Ver-
letzer nach Art eines Unzurechnungsfähigen in seiner Freiheit beein-
trächtigt und zwangsweise einem Verfahren unterworfen wird, wel-
ches gegen etwaige neue Ausschreitungen seinerseits sichern und ihn,
wenn möglich, dauernd bessern d. h. mit einer nachhaltig umgewan-
delten Gesinnung ausstatten soll. Bei den kleinem Vergehen zeigt
es sich sogar, dass der Mangel der Zurechnung und das Anheim-
fallen an ein Besserungsverfahren ein grösseres Uebel sein müsste,
als die gemeine Strafe. Niemand will unter dem Vorwande der all-
gemeinen Unzurechnungsfähigkeit für geringere Vergehen in öflFent-
liche Zucht genommen oder gleich einem Gemüthskranken zu einem
Heilverfahren eingesperrt oder wohl gar unter Vormundschaft gestellt
werden. Dies wäre aber der Sinn der allzu grossen Philanthropie.
Ist der Verbrecher, wie z. B. bei einem trotz des sonst guten Cha-
rakters im Zorn verübten Todtschlag, selbst innerlich von der That
bedrückt, so wird er zu irgend einer Art nützlicher Abbüssung imd
zu einem Versuch der dauernden Disciplinirung der maasslosen Af-
fecte aus eignem Antriebe geneigt sein. Selbst in den idealsten Zu-
ständen wird man aber auch nicht mehr als dies voraussetzen können,
und dann wäre es offenbar besser und rationeller, eine geringe und
eigentliche Strafe bestehen zu lassen, übrigens aber nur dafür zu
sorgen, dass es dem Einzelnen nicht an Gelegenlieit fehle, sich frei-
willig einem Besserungsregime zu unterwerfen oder in solche Lebens-
lagen einzutreten, in denen sein etwa nicht zu beseitigender Fehler
vom Schadenstiften möglichst zurückgehalten wird.
Weit verstandesmässiger als die doch stets etwas nebelhaften
und sich selbst leicht missverstehenden Wünsche, den Verbrecher
von der künftigen Gesellschaft ausschliesslich wie einen Kranken be-
handelt zu sehen, sind die auf die Vorbeugung gerichteten Forde-
rungen. Sind einmal Verletzungen vorhanden, so kann keine Macht
der Welt die Natumothwendigkeit irgend einer Art der Sühne gänz-
lich überwinden. Die Formen der Ausgleichung und Versöhnung
tnögen sich veredeln; aber das Uebel wird in dreierlei Gewalt, näm-
lich als doppelte äusserliche Schädigung und dann noch als mora-
lische Regelwidrigkeit bestehen bleiben. Ueber alle drei Unheils-
bestandtheile zusammen können nur die vorbeugenden Mittel positiver
Art triumphiren. Man muss danach streben, anstatt den Anreiz zum
Verbrechen durch die drohende Rache und Strafe aufwiegen zu
wollen, von vornherein die antreibenden Kräfte selbst zu beseitigen
— 255 —
.;ud durch zweckmässige Gestaltung der gesellschaftlichen Verhält-
nisse die bösen Neigungen zu entwurzeln. Lässt sich in dieser Rich-
tung auch noch keineswegs eine vollständige üeberwindung aller
störenden Regungen absehen, so ist es doch möglich, ganze Classen
von Verirrungen wegzuschaffen, die fast ausschliesslich in der socialen
Organisation ihren Gnmd haben, und vermöge deren eine Summe
von Vergehungen wie von einer grossen Maschine producirt wird.
NotH, Rohheit, Unwissenheit und positiver Aberglaube sind aller-
dings nicht die einzigen Schöpfer aller Verbrechen. Es bleiben auch
genug für den Uebermuth und das Raffinement übrig. Wohl aber
sind beide Arten von Entstehungsgründen für die überwiegend grosse
Masse der Verbrechen als Verzweigningen einer und derselben ün-
zuträglichkeit der gesellschaftlichen Verfassungszustände aufzufassen.
Der Uebermuth ist nur das Gegenstück der Gedrücktheit durch die
Noth, und er würde mit seiner verdorbenen Verkünstelung und seinen
maasslosen Begehrlichkeiten von ungerechter und oft vergifteter Art
gar nicht in dem thatsächlichen Umfange existiren, wenn ihm nicht
Mangel, Elend und Ohnmacht auf der andern Seite gegenüberständen.
Durch die letztern wird seine Kraft in einer doppelten Beziehung
erzeugt; erstens empfängt er von hier seinen Reichthum, und zwei-
tens kann er denselben gegen die mit der Noth Kämpfenden als eine
um so stärkere Waffe gebrauchen. Will man daher die Ungerechtig-
keit einschränken, so muss man die Verhältnisse von Ohnmacht und
Uebermacht politisch und wirthschaftlich ausgleichen.
Das entscheidende Princip wird die Ablenkung der menschlichen
Kräfte von dem gegenseitigen Kampf durch die positive Hinleitung
derselben auf die Arbeit an der Natur sein. Der Wetteifer muss
fortbestehen ; aber er muss sich darauf richten, in der Üeberwindung
der Naturhindernisse des veredelten Daseins die grössten Erfolge zu
erzielen. Die Einzelnen und die Völker können nur dann friedlich
und gerecht nebeneinander hergehen oder gar sich positiv in der
besten Form und am nachhaltigsten fördern, wenn sie sich ent-
schliessen, statt zum grössten Theil vom offenen oder verdeckten
Raube, ausschliesslich von ihrer an der Natur bethätigten Arbeit zu
leben. Ein System, in welchem die Ausbeutung des Menschen durch
den Menschen als nothwendiger Bestandtheil figurirt, ist in der
Wurzel ungerecht und muss daher auch weitere Ungerechtigkeiten
in allen Richtungen massenhaft hervorbringen. Wo die Aneignung
fremder Arbeit den' Reichthum der Minderzahl schafft, da ist schon
— 256 —
hiemit der Raub zum herrschenden Motiv gemacht, und man kann
sich nicht wundern, wenn er sich in den kleinern Angelegenheiten
nicht ausmerzen lässt. So bedeutsam nun für die gegenseitigen Be-
ziehungen der Völker und der Einzelnen die Ablenkung der sich
zum Raub versucht fühlenden Kräfte auf die Natur auch ist, so
kann diese versöhnende Richtung der Thätigkeiten doch unter den
heutigen Culturverhältnissen nur äusserst beschränkt zur Anwendung
kommen. Solange das Ablohnungssystem der Arbeit besteht und
der Zugang zur Natur hiemit für die grosse Masse der Menschen
versperrt bleibt, kann die Arbeit direct nicht viel ausrichten, sondern
bleibt für ihre Erfolge an den Kampf des Menschen mit dem Men-
schen gebunden. Eine solche Einrichtung muss aber stets viele Ver-
brechen und Vergehen in ihrem Gefolge haben, indem sie die Inte-
ressen und Begierden in einem künstlich gesteigerten feindlichen Con-
flict erhält.
6. Erinnern wir uns nach dem Blick, den wir auf die Störung en
der bessern Menschhchkeit gethan haben, nun wieder daran, dass
die edlere Ausprägung menschhcher Sitte schliesslich immer am
meisten von dem positiven Gehalt abhängen wird, den man ihr über
die blosse Ueberwindung der Hemmungen hinaus zu geben vermag.
Wir gingen davon aus, dass der Mensch schon in den Generationen
besser zu formen, zu produciren und zu sichten sei. Die Griechische
Kunst, den Menschen in Marmor zu idealisiren, wird nicht das gleiche
geschichtliche Gewicht behalten können, sobald die weniger künst-
lerisch spielende und daher für das Lebensschicksal der Millionen
weit ernstere Aufgabe in Angriff genommen wird, die Menschen-
bildung in Fleisch und Blut zu vervollkommnen. Diese Art Kunst
ist keine blos steinerne, und ihre Aesthetik betrifft nicht die An-
schauung todter Formen und die davon abgeleiteten Eindrücke, son-
dern das ursprüngliche Leben und Weben der Empfindungen und
Gefühle lebendiger Wesen. Auch der von den Philologen so ge-
nannte Humanismus hat nicht viel mit echter Menschlichkeit zu
schaffen. Er steht tief unter der Griechischen Kunstüberlieferung;
deim die Hellenischen Marraormenschen, welche glücklicherweise un-
mittelbar zu unsern Sinnen und nicht das Griechisch der Pedanten
reden, dürften alle andern Reste des Alterthums noch am längsten
überdauern. Sie dürften noch dann etwas bedeuten, wenn schon
der Inhalt der Griechischen Literatur zu den abgelegten Bildungs-
stoffen einer überwundenen ersten Einachulungsphase der neuen Zeit-
— 257 —
alter gerechnet werden wird. Der aber schon längst verrottete Phi-
lologenhiimanismus, der eigentlich nur im Zeitalter der Renaissance
einige von der Folie der mittelalterlichen Trägheit günstig gehobene
Frische für sich hatte, — diese abgestorbene und immer mehr aus-
getrocknete Pflanze von vermeintlich dauernder, schon ursprünglich
überschätzter, jetzt aber nicht nur vollends nichtiger, sondern sogar
schädlicher Bedeutung für die Cultur hat ihr Wesen und Unwesen
durch vier Jahrhunderte wohl zur Genüge sichtbar gemacht. Man
kennt jetzt ihren Bau mehr als hinlänglich*, und man wird sich
weiterhin nicht versucht finden, ihre Elemente auch nur als zum
Dünger der Zukunft geeignet gelten zu lassen. Die sogenannte hu-
manistische Bildungsart entspricht ihrem Namen so wenig, dass man
sie getrost als eine der Unmenschlichkeiten bezeichnen kann, mit
denen die Jugend heimgesucht und um das frische Fühlen und Wissen
betrogen wird.
Die Menschlichkeit der Griechen beschränkte sich in allen Gat-
tungen auf die künstlerische Form und war übrigens im Leben nicht
von sonderlichem Werth, sobald man die falschen Idealisirungen der
neuern, offenbar romantischen Auffassungen entfernt und ausserdem
den höhern Maassstab unserer heutigen Forderungen anlegt. List
und Trug der Hellenischen Welt spiegelten sich schon im Odysseus
ihrer Urdichtung, sowie die rohe Grausamkeit in Achilleus und seiner
an Hektor ausgelassenen Rachewuth. Strengere Wissenschaft ist in
der classischen Zeit nur in geringem Umfang hervorgebracht wor-
den, und so bleibt denn auch in der Literatur, also namentlich bei
den Dichtem und Geschichtsdarstellem nichts als die ebenmässige
Form übrig, die uns Neueren überdies zunächst als ein unüb er treff-
bares Muster menschlicher Natürlichkeit erscheinen konnte, weil uns
der Byzantinismus und das Mittelalter in lauter Unnatur begraben
hatten. Dieser Zauber des Contrastes, der noch heute so viele Geister
gefangen hält, wird jedoch vollständig gelöst werden, sobald die
heutigen Nach- und Fortwirkungen des Mittelalters endgültig ver-
schwinden. Alsdann wird die grössere Freiheit des rein Menschlichen
in den verschiedensten Richtungen Thaten verrichten und Werke
schaffen, die auch in der Form für das lebendige Dasein einen
grössern Werth einschliessen werden, als die sämmtlichen todten
Ueberlieferungen der Vergangenheit.
7. Die Kunst beginnt in der Natur mid wird dort in der zweck-
Dühriiig, Cursus der Philosophie. 1"
— 258 —
und ebenmässigen Einrichtung - des Kräftespiels und der Lebens-
functionen mit mehr oder minder Erfolg ausgeübt. Von dem Men-
schen soll diese Kunst an seinem eignen Leibe und an den Grup-
pirungsformen der gesellschaftlichen Gruppen fortgesetzt werden. Die
schöne Kunst, im gewöhnlichen und engem Sinne des Worts, und
innerhalb ihres Gebiets vornehmlich die Poesie, ist nach ihrer bis-
herigen Rolle nur als eine Art Vorspiel für bedeutendere und tiefer
wurzeltreibende Regungen des menschlichen Wesens anzusehen. Von
der Einmischung des Kinderhaften, ja überhaupt von dem nicht blos
kindlichen sondern auch kindischen Charakter, der die Kunst und
Poesie der bisherigen Menschheitsepoche mit falschen Spielen der
Phantasie und albernen Auffassungen der Dinge und des Lebens
entstellt hat, soll hier nicht eingehender geredet werden. Wohl
aber ist im Hinblick auf die Sitte daran zu erinnern, dass die Dich-
tung, welche in die Leidenschaften gestaltend und veredelnd ein-
greifen mag, sich doch auch thatsächlich der Fortpflanzung des Ver-
kehrten im Wollen und Wissen und zwar in der umfassendsten
Ausdehnung dienstbar erwiesen hat. Ihr haftete stets dieselbe Ueber-
lieferung an, welche die Mängel und Rückständigkeiten des wirk-
lichen Lebens verschuldete. Ja sie stattete die vom Leben über-
wundenen Vorstellungen durch eine Art conventioneller Galvanisirung
mit dem trügerischen Scheine der idealen Unsterblichkeit aus, indem
sie die Fiction des Absurden als ein Recht künstlerischer Freiheit
in Anspruch nahm. Auf diese Weise erhob sie sich nur wenig über
das Kindheitsstadium der Menschheit und Menschlichkeit. Sie lernte
im Grossen und Ganzen niemals, sich die reine und hohe Aufgabe
stellen, die naturwahren Empfindungen, Gemüthsbewegungen, An-
schauungen und Gedanken in einer ungemischten, geklärten und
fictionslosen Weise vorzuführen. Die erhabene poetische Function,
durch welche dem Menschen Herz und Sinne erst vollends aufge-
schlossen und eines gesteigerten, aber trotzdem maassvolleren Fühlens
und Wollens theilhaft gemacht werden, musste auf diese Weise stark
beeinträchtigt werden. Setzen wir aber auch als Ideal der Zukunft
eine mythenfreie, superstitionslose und direct menschliche Poesie und
Kunst voraus, so werden die von ilir abzuleitenden Affectionen und
Veredlungen doch vergleichungs weise nur als Wirkungen zweiter
Ordnung gelten dürfen, wenn man auf der andern Seite die hohe
Emmgenschaft erwägt, die in einer physiologisch stärker ausgeprägten
— 259 —
Befähigung zur eignen und ursprünglichen Hervorbringung lebendiger
und maassvoller Wahrnehmungen und Erregungen enthalten sein
müsste. Die intensive Kraft des Genies wird zwar stets nur in der
Vereinzelung seltener individueller Steigerungen vorhanden sein kön-
nen; aber auch das allgemeine Niveau mag sich nach dieser Höhe
hin heben und so die Masse der Menschen und nicht blos deren
Empfänglichkeit, sondern auch deren ursprünghche und selbständige
Thätigkeit, also auch die positive Kraft zum entgegenkommenden
Verständniss auf der Stufenleiter der Typusveredlung einen höheren
Platz einnehmen lassen. Der Urquell der Poesie ist das gesteigerte
und ebenmässig geformte Lebensgefühl. Die Wirkung auf diesen
Urquell ist aber wichtiger, als die Sorge um die blos abgeleiteten,
erst durch die Uebertragung auf Andere in grösserer Breite fongi-
renden Erregungen. Die Wellenspiele, die von der Poesie im Ge-
müth erzeugt werden, haben keinen grossen Werth für die dauernde
Veredlung des Menschen, solange nicht die eigne innere Verfassung
des mitempfindenden Wesens mit einer nachhaltigen Gestaltungskraft
in einigem Maasse ausgestattet ist.
8. Wenn die in einem weiteren und ernsteren Sinne des Worts
ästhetische Formung der Triebe und Leidenschaften zu einem grossen
Theil in der Poesie ihren Ausdruck findet und zu einem andern
Theil von der Poesie ausgeht, so wird die Sprache nicht nur eine
praktisch hochwichtige Rolle spielen, sondern auch ein treffendes
Bild für den Entwicklungsgrad der höheren Menschlichkeit abgeben.
An der Sprachveredlung mag Jeder leichter als vermöge anderer
Merkmale die Unterschiede der Cultur und der Verwahrlosung er-
kennen. Eine zugleich affectiv volle und im Verstände genaue
Sprachgestaltung ist sogar die Vorbedingung eines befriedigenden
und bequemen Verkehrs. Die Verunstaltungen der Sprachgewohn-
heiten tragen die Spuren geschichtlicher Thorheiten und Uebelstände
deutlich genug zur Schau. Welche Verrenkung des Natürlichen
liegt nicht beispielsweise in der Anrede eines Einzelnen als einer
Mehrheit unä als eines Dritten! Das ist die Unnatur und Unter-
thänigkeit Byzantinischer Art. Auch die Art von Logik, die sich
in der vornehmlich als gebildet bezeichneten Sprachgestaltung der
Literatur verkörpert hat, und die sehr oft mehr Unlogik als der
entsprechende Volksdialekt enthält, würde den Anfechtungen weniger
entgehen, wenn nicht grade die Sprachzergliederer dem Autoritären
17*
— 260 -
und Privilegienhaften am blindesten ergeben wären. Das falsche
Denken und das falsche Fühlen verkörpern sich oft schon in den
Bezeichnungen und noch weit mehr in den Bildern, Vergleichungen
oder noch volleren Sprachwendungen. Die Unsitte hat gleich der
Sitte auch hier ihr Reich, so dass man sich auch in der Sprache
nicht ohne Kritik dem thatsächlichen Herkommen zu unterwerfen
hat. Hier reden wir jedoch nur von dem Werth, welchen die Sprache
als Ausdruck und Hülfsmittel der edleren Menschheitsausprägung in
Anspruch nehmen kann. Solange die Sprache der Yolksmasse der
Vernachlässigung anheimfällt und nur die sehr rasch in eine träge
Stauung gerathende und in der Trennung von ihren Quellen schliess-
lich absterbende Büchersprache einer sehr zweideutigen Pflege ge-
würdigt wird, kann das allgemein seinsollende Yerständigungsmittel
seinen Beruf noch nicht zu einem Zehntel erfüllen. Die Kluft zwi-
schen den verschiedenen Schichten bleibt alsdann zu gross, als dass
in Rücksicht auf eine bewusstere Sitte und ein bewussteres Recht
die in dieser Richtung unentbehrliche Gemeinsamkeit vorhanden sein
könnte.
Der durch die Sprache vermittelte Verkehr schliesst Alles ein,
was von den gröbsten Interessen bis zu den feinsten Rücksichten
hinauf für gute oder schlechte Sitte in Frage kommt. Auch die
zarteren Benehmungsarten spiegeln sich in den gewohnheitsmässigen
Sprachwendungen. Die Rohheit der Natur wird durch das Gewählte
der rücksichtsvollen und im echten Sinne des Worts bescheidenen
Ausdrucksart verfeinert. Die leichtesten Verletzungen, die sich un-
willkürlich und ohne böse Absicht einfinden mögen, werden ver-
mieden, und wenn auch oft von einer verschnörkelten Sitte schliess-
lich nur die todten Formen übrig bleiben, so ist dies kein stich-
haltiger Einwand gegen den Vortheil, den die in den Grenzen wahrer
Natur edel ausgebildeten Gesetze des geselligen Verkelirs an sich
selbst haben müssen. Hohlheit und Verzerrung sind allerdings hier
gegenwärtig das Ueberwiegende; aber hieraus folgt nur, dass man
sich im ferneren Menschheitsleben zu bemühen habe, die edle Ein-
fachheit des Natürhchen mit der bewussteren Rücksicht auf die zu
meidenden Verletzungen zu vereinbaren. Auch die Geselligkeits-
gewohnheiten und die ihnen dienstbaren Sprachwendungen, Be-
grüssuugsformeln oder sonstigen Aeusserungsarten sollen in jeder
Beziehung wahr sein. Wenn sie in der Wirklichkeit unserer hier
— 261 -.
ebenso wie anderwärts gemischten und aufzulösenden Zustände ein
Reich der Heuchelei und Verlogenheit vorstellen, so ist eine solche
Beschaffenheit glücklicherweise kein dauerndes Natur- und Cultur-
gesetz.
Wer an der späteren allgemeinen Verbreitung einer wahr und
gut gearteten, die gesellige Rohheit überwindenden Sitte zweifeln
möchte, der möge bedenken, dass wir in einem verwandten, aber
leichter verständhchen Fall trotz aller Rückständigkeiten der bis-
herigen Geschichte die spätere Nothwendigkeit der Veredlung bereits
klar genug absehen können. Trunk und Völlerei oder Annäherungen
daran, also überhaupt Ausschweifungen, die sich an die gemeinsten
Triebe des Eigenlebens anknüpfen, werden grade in den höheren
Gesellschaftsschichten und zwar zum grossen Theil aus Langerweile
im weitesten Umfange beliebt und von Geschlecht auf Geschlecht
als herkömmliche Sitte vererbt. Ebenso ist die abstumpfende Nar-
kose in oft schon von vornherein ekelhaften Formen ein Stückchen
Sitte oder vielmehr Unsitte, in welcher sich die Völker nach Maass-
gabe ihrer verschiedenen Mittel ergehen, und mit welcher sie den
Typus besserer Menschlichkeit verunstalten. Ob es die Unsauber-
keiten der Einlassung mit dem Tabak oder die Verzückungen des
Opiumrausches sind, oder ob die Getränke und Nahrungsmittel wider-
wärtig erregende oder überhaupt für die feinere Empfindung ver-
werfliche Eigenschaften haben, — dies Alles entscheidet ebensowenig,
wie die grössere oder geringere Barbarei in der Wahl der umnebeln-
den oder sonst schädlichen Stoffe, gegen den allgemeinen Grundsatz,
dass jede Art und jedes Maass von Abirrung in dieser Richtung mit
einer vervollkommneten Sittengestaltung unverträglich werden müsse.
Nicht blos das eigne Befinden, sondern auch der Eindruck im ver-
edelten geselligen Verkehr hängt von der Ausmerzung solcher Miss-
gebilde eines falschen Lebensgenusses ab. Die Wüstheit oder gar
Abgestumpftheit der Gehirnverrichtungen in der allgemeinen Behand-
lung und in den besondern Geschäften des Lebens ist zu einem
grossen Theil auf jene gröberen, rein sinnlichen Elemente der Un-
sitte zurückzuführen. Auch die öffentlichen Angelegenheiten haben
hierunter in mehr als einer Hinsicht zu leiden; jedoch sind sie es
auch, zu deren Stand eine Gesellschaft passt, die ihren verfügbaren
Ueberschuss an Kräften und Mitteln vielfach nicht anders unterzu-
bringen weiss^ als indem sie beide im Rafßnement naturwidriger
— 262 —
Gemissmittel und in Ausschweifangen vergeudet und verdirbt. Der
Mangel an Gelegenheiten zu einer besseren Thätigkeit und zu einem
wahrhaft gesteigerten Lebensgenuss erklärt hier sehr viel. Man darf
nicht erwarten, dass die auf eine Privatexistenz unpolitischer und
unsocialer Art reducirten Menschen sonderlich bessere Wege finden,
ihre Lebenslust geltend zu machen. Mit der ümschaffung des ge-
sammten Gemeinlebens werden daher auch für jene gröbsten, aber
darum nicht unwichtigsten Grundlagen der Sitte bessere Stützen zu
gewinnen sein.
FGnfter Abschnitt.
Gremeinwesen und G-escMclite.
Erstes Oapitel.
Freie Gesellschaft.
Jjine genauere und den Namen der Wissenschaft verdienende Lehre
von den Grundgesetzen des menschlichen Gemeinlebens ist erst in ver-
einzelten Anfängen vorhanden. Sie darf sich nicht mit Thatsachen
begnügen, sondern muss ableitend und gestaltend verfahren. Die
einzige bedeutende Probe dieser Richtung ist die Rousseausche Arbeit
über den Gesellschaftsvertrag nebst den ihr zu Grunde liegenden
oder verwandten Speculationen desselben grossen Schriftstellers. Zu-
treffend konnte er behaupten, dass für das natürliche politische
Recht und für die entsprechende Politik noch erst der Grund zu
legen sei; denn Hobbes hatte zwar in originaler, aber rückläufig
verfehlter Richtung im Sinne des Despotismus geschrieben. Die.
Aufstellungen Macchiavellis hatten nicht einer natürlichen Con-
struction des Gemeinwesens, sondern nur den Maximen gegolten,
welche in verderbten Zuständen den Kampf der Regierenden mit
den Regierten im Sinne der ersteren regeln sollten. Diese Maximen
setzten den zwiespältigen Unterdrückungsstaat mit seinem ewigen
innern Kriegszustand voraus, und der pessimistische Formulirer der
von allen Rechtsrücksichten entbundenen Regeln der List und Ge-
walt konnte nicht daran denken, die Bestandtheile und Vorbedin-
gungen eines naturgemäss gesunden Gemeinwesens darzulegen, üebri-
gens hat aber diejenige Halbwissenschaft, die sich Politik nennt und
von den im Dienste der Regierungen stehenden Historikern oder
Juristen behandelt worden ist, nichts aufeuweisen, was im günstig-
sten Falle über die grob wahrnehmbaren Thatsachen und deren ein-
— 264 —
seitige Beleuchtung hiuausreichte. So ist denn bis auf den heutigen
Tag Rousseau der einzige bedeutende Vorgänger auf der neuen Bahn
geblieben. Jedoch hat er den Grund nicht tief genug gelegt, indem
er von der Volkssouverainetät ausging und den Willen des Einzelnen
allzu leichten Kaufs einem Mehrheitswillen unterworfen sein liess.
Das politische Recht muss sich ebenso, wie alle Gerechtigkeit,
auf ein einfaches Schema der Verhältnisse zwischen einzelnen Men-
schen zurückführen lassen. Der einzige Unterschied wird bei diesen
Ableitungen darin bestehen, dass die Beziehungen von zwei Menschen
nur für die Entwicklung der obersten Principien ausreichen, während
die Verwirklichung derselben die Hinzufügung einer Mehrheit gleich-
sam als einer dritten, in den besondem Streit nicht verwickelten
oder wenigstens dabei nicht gleich stark betheiligten Macht voraus-
setzt. Der beliebige Wille wird hier an sich selbst gar nichts gelten,
sondern auch dann , wenn er Allen in übereinstimmender Weise an-
gehört, noch an der natürlichen Gerechtigkeit zu messen sein. Zwei
Menschen können eine Gesellschaft nur durch Verständigung über
ein Zusammenwirken bilden. Sie mögen sich in Rücksicht auf die
Wirthschaft oder andere Zwecke verbünden und unterstützen; aber
sie sind nicht im Stande, sich gegenseitig die Enthaltung von Ver-
letzungen eigentlich zu garantiren. Im Falle eines Streits mag ein
moralisches Band des Willens ausgleichend mitwirken; aber eine
äussere Garantie, dass nicht Kampf und Gewalt, ganz wie in der
ursprünglichen Isolirung, die einzigen Austragsformen und hiemit
ebenso die Stützen des Rechts wie des Unrechts werden, ist offenbar
nicht vorhanden. Denkt man sich Beide mit gleicher Stärke und
Klugheit sowie auch sonst mit gleichen Mitteln des Angriffs und
der Vertheidigung ausgerüstet, so wird die Zuflucht zu Gewalt und
List allerdings durchschnittlich dem Einen nicht mehr Erfolg als
dem Andern in Aussicht stellen, und es wird daher Jeder eher ge-
neigt sein, von unnützen Versuchen abzustehen und die anderseitige
Einsicht zur Verständigung anzurufen. Indessen ist weder diese
Gleichheit so genau bemessen, noch sind die Zufälle so unerheblich
oder die Leidenschaften von vornherein so gezügelt, dass sich auf
die gegenseitige Enthaltung vom Kampf sonderlich rechnen Hesse.
Jm Allgemeinen wird die Vereinigung von zwei Personen, welche
durch Interesse oder auch durch sympathische Regmigen gestiftet sein
mag, nur soviel Frieden einschliessen, als die Zwischenfiille der sich
kreuzenden Interessen gestatten. Allerdings gehört zur Feindschaft
— 265 —
und Veruneiuigaug so gut eine besondere Ursache, wie zur Ver-
gesellschaftung und Freundschaft. Auch ist die menschliche Natur
in ihrem reineren und besseren Typus nicht auf gegenseitige Berau-
bung angelegt. Dennoch genügt aber schon dieselbe Rohheit , die
dem unentwickelten Verstände in seiner Einsichtsgestaltung anhaftet,
auch im Gebiet des Willens und der noch nicht an das Maass ge-
wöhnten Triebe und Leidenschaften, um gelegentlich die schärfsten
Conflicte zu erzeugen. Nun hat in unserm Schema Keiner von Beiden
das Recht, dem Andern seinen Willen aufzudrängen; wie die Ver-
bindung freiwillig ist, so sind es auch alle einzelnen Acte in der-
selben; ja in der Summe dieser Acte besteht eigentlich das ganze
Verhältniss. Die einseitige Verletzung eines Abkommens ist natür-
lich ein unrecht; aber die Berufung auf die natürliche Gerechtigkeit
kann sich nur an den Verletzer selbst richten, der alsdann in eigner
Sache entscheidet. Von üeber- oder Unterordnung, also überhaupt
von Herrschaft kann in dem Verhältniss Beider naturgemäss nicht
die Rede sein. Bringt irgend ein Zweck ein planmässiges Zusammen-
wirken mit sich, so wird die zeitweilige Uebertragung der Leitung
an den einen Theil nicht im Entferntesten eine Herrschaft ein-
schliessen. Die Unterordnung der eignen Thätigkeit nach Maassgabe
des vereinbarten Plans ist eine rein technische und überdies frei-
willige, die jeden Augenblick zurückgenommen werden kann, wenn
sie die Gleichheit der Interessen erheblich kreuzen sollte. Ausserdem
muss sie zwischen beiden Theilen wechseln, damit auch der Schein
eines eigentlichen Vorrechts vermieden werde. In einem derartigen
Verhältniss liegt mithin das höchste Fundamentalprincip alles voll-
kommenen menschlichen Gemeinlebens, nämlich die Ausschliessung
von Hen'schaft und Knechtschaft und mithin aller eigenthchen Hen-
schaft angedeutet. Die freie Vergesellschaftung kann nie zum Herren-
thmn des Einen über den Andern führen.
2. Es würde ein erster, äusserst folgenreicher Fehler sein, wenn
man, im Hinblick auf den Mangel an äussern und körperlich zwin-
genden Garantien der Gerechtigkeit, nun einen mächtigen Dritten
fordern wollte, der, stärker als jeder von den beiden Andern, zum
Frieden und Recht nöthigte. Dies würde nur das Recht von Sklaven
ergeben und auf der willkürlichen Gnade beruhen. Zwischen den
Beiden auf der einen und dem Dritten auf der andern Seite würde
ein Verhältniss von Knechtschaft und Herrschaft und als Zubehör
eine fortdauernde Feindschaft vorwalten. Um zur Vergewaltigung
- 266 -
zu gelangen, braucht man den Dritten nicht. Bringt nämlich der
Kampf zwischen den Beiden einen entscheidenden Sieg des Einen
mit sich, der jedoch nicht in die Tödtung sondern nur in die Ent-
waffnung und sonstige Wehrlosmachung des Andern ausläuft, so
haben wir die Sklaverei, gleichviel ob das Recht oder das Unrecht
triumphirte. Sobald der Kampf entscheiden soll, ist nicht mehr das
Recht, sondern nm- noch die Mechanik der Macht in Frage. Der
verhältnissmässig beste Ausgang müsste daher stets die Unentschieden-
heit sein, und in der That ist auch die gegenseitige Gleichheit der
Kräfte ursprünglich und in allen folgenden Entwicklungen der Ge-
schichte die beste Bürgschaft dafür, dass nicht die Macht an die
Stelle des Rechts trete, und dass die moralische Wirkung der Ge-
rechtigkeitsgedanken am weitesten und nachhaltigsten platzgreife.
Es lässt sich mithin keine letzte und ursprüngliche Garantie des
Rechts anders als in der eignen und möglichst gleichen Macht der-
jenigen finden, welche einander verletzen können. Die dritte Macht,
mit der man so viel gerechnet hat, ist in Bezug auf Gerechtigkeit
und Frieden eine illusorische Garantie. Sie kann ein Recht schaffen,
aber nm* das Sklavenrecht; auch kann sie Frieden gewähren, aber
nur den Frieden eines Kirchhofs der Freiheit. Weit einfacher ge-
langt man zu diesem grossen Ergebniss auf dem schon angeführten
kürzeren Wege der unmittelbaren Unterwerfung des Einen durch
den Andern. In diesem Falle kann sogar gelegentlich einmal der
Rechthabende der Sieger sein, und dann würde sich seine Gewalt-
übung an dem Verletzer innerhalb gewisser Grenzen sogar als eine
Vorkehrung zur Abwendung künftigen neuen Unrechts charakteri-
siren können. Die Einschränkung der fremden Freiheit würde aber
auf die Dauer nicht weiter als der Zweck selbst reichen dürfen, und
es würde sogar die Pflicht begründet werden, dem an mehr Unrecht
Gehinderten Gelegenheit zu lassen, fiir sein ferneres Verhalten andere
Bürgschaften darzubieten. Niemals kann aber die positive Unter-
werfung, Ausraubung und Versklavung irgendwie als der Inhalt
eines Rechts angesehen werden.
Die wirklichen Gestaltungen der Geschichte sind bis auf den
heutigen Tag meistens die Einseitigkeiten der Unterdrückung ge-
wesen und entsprechen daher demjenigen Schema, in welchem der
Eine vom Andern wehrlos gemacht und in irgend einer Gestalt an
dessen Willen gebunden oder im eigentlichen Sinne des Worts ge-
kettet wird. Die Ketten der eigentlichen und uneigentlichen Sklaverei
— 267 —
haben denselben Ursprung; denn jeder Grad der politischen Unfrei-
heit kann als eine partielle Sklaverei, und die im engern Sinne so
bezeichnete Sklaverei als die vollständige politische und privatrecht-
liche Freiheitslosigkeit angesehen werden. Freilich hat sich auch
etwas von der gleichen Vergesellschaftung eingemischt; aber dies ist
niemals dauernd in einer alle Schichten umfassenden Weise geschehen.
Stets sind es nur besondere Gruppen und Classen gewesen, die sich
im günstigsten Falle unter sich auf ziemlich gleichen Fuss einrich-
teten, dagegen nach unten hin eine niedertretende Gewalt übten.
Die Rechte, die sie unter sich anerkannten, hatten zwar an dem
Princip der Gerechtigkeit Theil, galten aber nur mit der Beimischung
derjenigen Ungerechtigkeit, welche in der Hinwegsetzung über die
natürlichen Ansprüche der durch die Unterdrückung Verletzten lag.
So ist der Unterdrückungs- oder_Gewa,ltstaat in seinen verschiedenen
Formen, von der auf die Sklaverei gepfropften Demokratie bis zur
Oligarchie und Alleinherrschaft hin, aus dem Gesichtspunkt unseres
emfachen Schema zugleich logisch und historisch begreiflich. Er ist
ein Ergebniss von Gewalt und List, und der in ihm verwirklichte
Ueberschuss von sieggekrönter Uebermacht und glücklichem Trug
nennt sich in seinen besondern Formen Staats- und Völkerrecht.
Ganz besonders ist das innere Staatsrecht zum grössten Theil ein
Inbegriff von Verhältnissen, welche nicht nur durch die rohe Ge-
walt, sondern auch gegen die natürliche Gerechtigkeit geschaffen
worden sind. Dieser Sachverhalt reicht soweit, dass man, um über
die Grundbeziehungen der politischen Gerechtigkeit ohne Missver-
ständniss reden zu können, zeitweilig sogar das Wort Staat über-
haupt, als mit der historischen Unterdrückungsform eng verwachsen,
aufgeben muss, und zur Bezeichnung der gleichen und gerechten
Verbindung den Ausdruck freie Gesellschaft anzuwenden wohlthut.
Wären die Ideen, welche sich günstig an das Wort Staat knüpfen,
nicht oft ein so nebelhaft verworrenes Gemisch, und diente der all-
gemeine Ausdruck Staat nicht auch dem Schein des grössten Frei-
sinns sogar in den Zukunftstheorien zum Deckmantel, so würden
wir ohne Weiteres dem Unterdrückungs- oder Gewaltstaat den Ge-
rechtigkeitsstaat entgegengesetzt haben. Es bedurfte aber um so
mehr einer noch schärferen sprachlichen Trennung, da der Gerechtig-
keitsstaat leicht an den herkömmlich sogenannten Rechtsstaat erin-
nern könnte, der ein Widerspiel des Polizeistaats sein soll, aber
auch nur eine gemässigte Form des Gewaltstaats sein kann, wo er
— 268 —
nicht etwa gar thatsächlich eine zur Verzierung dienende Lüge
bleibt.
3. Auch eine Vielheit von Menschen kann nicht die Rolle der
vorher als illusorisch nachgewiesenen dritten Macht spielen. Aller-
dings hätte diese Vielheit in der Vereinigung unvergleichlich mehr
Kraft als die Beiden, die wir als im Conflict begriffen vorausgesetzt
haben. Das Aufzwingen dieser Uebermacht wäre aber an sich selbst
ebensogut eine Vergewaltigung, wie wenn sie von einem Einzelnen
und seinen untergebenen Werkzeugen ausginge. Ob sich eine Ge-
sammtheit auf gleichem Fuss verbündet, um die schwächeren Ein-
zelnen zu irgend Etwas zu nöthigen, was ihr grade so und nicht
anders gefällt; oder ob ein Despot diese Rolle spielt, — das macht
in der Hauptsache nur einen geringen Unterschied. Völlig anders
gestaltet sich aber das Verhältniss einer Vielheit zu ihren Gliedern,
wenn man in allen Richtungen Uebereinkünfte eines Jeden mit jedem
Andern voraussetzt, und wenn diese Verträge die gegenseitige Hülfe-
leistuug gegen ungerechte Verletzungen zum Gegenstande haben.
Alsdann wird nur die Macht zur Aufrechterhaltung des Rechts ver-
stärkt, und aus keiner blossen Uebergewalt der Menge über den
Einzelnen oder der Mehrheit über die Minderheit ein Recht abge-
leitet. Die Gestaltung der Kräfteverhältnisse ist hiebei die denkbar
natürlichste; aber trotzdem soll eben diese Gestaltung nur das mindesfc-
schädliche Mittel werden, eine Rechtsgarantie zu organisiren, die
über die eignen Kräfte der Parteien hinausreicht. Es ist daher aus-
schliesslich die Einhaltung der Gerechtigkeit, was auch dieser Col-
lectiveinmischung ihren mehr als blos gewalttbätigen Charakter ver-
leiht. Der geringste Fehlgriff in der Auffassung der Rolle des Ge-
sammtwillens würde die Souverainetät des Individuums vernichten,
und diese Souverainetät ist es allein, was zur Ableitung wirklicher
Rechte führt. Eine rationelle Atomistik hat nicht blos in der Natur-
wissenschaft, sondern auch in der Politik die Wahrheit auf ihrer
Seite.
Wenn man will, kann mau für das ursprüngliche Recht auch
von einer Uebereinkunft absehen. Der Beistand, welcher im Sinne
der Gerechtigkeit geleistet wird, giebt sich eben durch seine Be-
deutung nicht als nackte Machtübung, sondern als ein sympathisches
oder im AUgemeinen interessirtes Eintreten gegen die Verletzungen.
Uebrigens liegt aber in dem ausdrüclclichen Vertrage über solchen
Beistand nichts weiter, als eine schöpferische Erweiterung der uatür-
— 269 —
liehen Verhältnisse, und der unbegründete Bruch eines solchen Ver-
trages würde selbst als eine ungerechte Verletzung gelten müssen.
Es ist mithin die Vereinigung eine blosse Organisation derjenigen
Rechtsgarantien , • die nie und nirgend anderwärts als in den eignen
Kräften der Individuen gefunden werden können. Der Beistand, den
sich diese Kräfte gegenseitig leisten, hat zum Bande eben jene Ge-
rechtigkeit selbst, die gesichert werden soll. Er hat daher selbst
keine andere Bürgschaft, als die Kräfte derjenigen, welche das Ge-
rechte in ihrem eignen Interesse und aus Mitgefühl für den Andern
wollen. Ein Vereinigungsvertrag ist insofern nichts Willkürliches
und beliebig Conventionelles , als sich in ihm das Bedürfniss der
gegenseitigen Rechtshülfe und die natürlichen Bestrebungen zu dem
entsprechenden Beistand eben nur vollkommener befriedigen und mit
technischer Planmässigkeit verwirklichen. Eine derartige üeberein-
kunffc muss sich da naturgesetzlich vollziehen, wo die moralischen
Vorbedingungen erfüllt sind, was freilich in der bisherigen Geschichte
nur zu einem äusserst geringen Theil der Fall gewesen ist.
An Stelle der freien und gleichen Vereinigung finden wir in
der Geschichte die einseitige Unterdrückung und den Zwang zum
Verzicht auf Vereinigungen vorherrschend. Sobald ein Einzelner
stärker ist als ein Jeder, der ihm aus einer Anzahl zum Kampfe
gegenübertreten kann, wird er die ganze Anzahl niederhalten, wenn
er nur dafür zu sorgen vermag, dass er sich nie mit einer planmässig
handelnden Verbindung Mehrerer, sondern stets nur mit einem Ein-
zigen zu messen habe. Verhindert er die Vereinigung, die schon
an sich selbst nicht leicht ist, so wn-d er im Besitz der Uebergewalt
bleiben. Nun denke man sich an Stelle jenes starken Einzelnen
irgend eine despotische Macht mit ihrer Zurüstung oder auch irgend
eine raubende und herrschende Gruppe behebiger Art, die unter der
Anführung eines Häuptlings fähig ist, kleinere und vielleicht fried-
liche Menschengruppen unter das Joch zu zwingen, so hat man das
geschichtliche Bild von dem Grundschematismus aller Ünterdrückungs-
politik. Jene raub- und herrschsüchtige Macht kann die sich ihr
widersetzenden Elemente nur in der Vereinzelung besiegen und
wiederum nur in der Vereinzelung niederhalten. Der erste Grund-
satz ihres Gewaltstaates wird daher dahin lauten, dass die politischen
Vereinigungen zu hindern seien. Auch ist, wie man sieht, dieses
Princip, die natürhche Vereinigungsfreiheit zu unterdrücken und
hiemit eine colossale Gerechtigkeitsverletzung zu begehen, nur das
— 270 —
einfaclie Zubehör zum unterjochenden Gewaltacte selbst. Die soge-
nannte Staatsbildung und zugehörige Staatserhaltung war meistens
in diesem Hergang enthalten. Das Wesen oder vielmehr Unwesen
des Staats, wie ihn auch die neuere Geschichte kaum anders kennt,-
spiegelt sich in jener Sperre aller erheblichen politischen Vereini-
gungen. Der historische Unterdrückungsstaat muss den keimenden
Gerechtigkeitsstaat, der sich durch innere politische Vereinigungen
bilden will, nach Kräften ersticken; denn nur solange dies gelingt,
währt sein eignes Reich des von einer sich selbst privilegirenden
Gruppe geübten Zwanges.
4. Es ist vergebens, ein Recht zum Zwange anders für eine
Vielheit und deren Organe ableiten zu wollen, als es sich auch
schon in dem Schema von zwei Einzelnen ergeben kann. Die ver-
letzende Gewalt fuhrt wiederum zur Gewalt, und wieweit Gerechtig-
keit dabei im Spiele sei, ist eine Frage, die moralisch d. h. aus der
Einsicht entschieden werden muss. Die Gewalt ist als solche auch
dann ein Uebel, wenn sie der Gerechtigkeit dient. Der Einzelne,
gegen den sie sich richtet, und die anderseitige, angeblich strafende
Macht bleiben unter allen Umständen zwei Parteien, mag auch noch
so viel staatliches Zwischenwerk diesen natürlichen Sachverhalt ver-
schleiern. Die Unparteilichkeit kann sich im günstigsten Falle nur
auf die Hervorbringung einer allgemeineren, von der Verwicklung
in die besondere Sache freien Einsicht beziehen. Auch ist der Col-
lectiv verstand in manchen Richtungen normaler, als die befangene
Einsicht eines Einzelnen, nämlich insoweit, als sich in der Vielheit
der Ansichten die Unterschiede gegenseitig aufheben und nur einen
übereinstimmenden Rest bestehen lassen. Derartige Ergebnisse sind
zwar meist dürftig und platt; aber sie entschädigen wenigstens durch
eine gewisse Nüchternheit und Zuverlässigkeit dafür, dass sie un
Groben und Gewöhnlichen verbleiben. Die Bildung einer Rechts-
ansicht ist mithin eine Function, in welcher die Vielheit vor den
streitenden Einzelnen zwar nicht immer die genauere Würdigimg
der Verhältnisse, aber doch ein durchschnittlich anwendbares Maass
von parteiloserem Urtheil insoweit voraushat, als es sich nicht etwa
um die Rechte dieser Vielheit selbst handelt. Tu der moralischen
Berufung auf die Gerechtigkeit hat die Bildung einer Einsicht und
eines Willens, die von Vielen ausgeht, in denjenigen Angelegenheiten
des Lebens, die Allen bekannt und verständlich sind, offenl)ar etwas
vor dem gewöhnlichen Einzelartheil voraus. Man kann hienach be-
— 271 —
Laupten, dass nicht die Macht au sich selbst, wohl aber die Chancen
der bessern Einsicht und des geklärten Wollens fiir die günstige
Einmischunffsfunction der Vielheit in die Aucjeleorenheiten der Ein-
zelneu sprechen. Die Gewalt ist auch im ursprünglichen Zustande
nicht zu vermeiden, sobald sie einmal von der einen Seite geübt
worden ist. Man verschlimmert daher die Lage noch nicht, wenn
man sich darein ergiebt, dass die Gewalt in organisirter Form fort-
bestehe. Dieses Üebel ist auf keinem Wege auszumerzen. That-
sächlich kann zwar die rückwirkende Gewalt mit der ursprünglich
verletzenden ebenfalls verschwinden; aber auch in diesem Ideal-
zustande, in welchem die Menschen von vornherein gerecht handel-
ten, würde ein gewisses Maass von Möglichkeit der Abweichung
noch immer vorgesehen werden müssen; denn es ist, wenn auch
nicht widersinnig und unmöglich, so doch sehr schwer zu denken,
dass alle Innern und äussern Ursachen und mithin die ganze Fähig-
keit zu Yergehungen einst von der Menschennatur abgethan werden
sollten.
Wenn der Einzelne dem Staate gegenüber in absoluter Weise
gezwungen wird, so hat dieser Zwang wesentlich keinen andern
Charakter, als denjenigen, der auch im ünorganisirten Zustande von
Seiten des Einzelnen gegen den Einzelnen obwaltet. Beiderlei Fälle
des Zwanges können sich nur insoweit rechtfertigen, als sie wirklich
der natürlichen Gerechtigkeit dienen. Es giebt mithin keine Auto-
rität der Macht als solcher, ja überhaupt keine stichhaltige Autorität
im gewöhnlichen Sinne des W^orts, sondern das Ansehen, welches
irgend' eine Instanz haben soll, ist, abgesehen von der blossen Furcht
vor der üebergewalt, die auch Angesichts jedes drohenden Raub-
thiers für den Wehrlosen platzgreifen muss, einzig und allein auf
das Maass von Theilnahme für eine einsichtsvollere Gerechtigkeit zu
gründen. Dieses Ansehen ist aber seiner Natur nach ein moralisches ;
denn es wurzelt in der Üeberzeugiing, dass Einsicht und Wille der
fraglichen Instanz dem natürlichen Recht entsprechen, und schwindet
auch mit dieser Voraussetzung. Die richterliche Function kann sich
daher in der freien Gesellschaft nur aus der umfassenden Vielheit
der Einzelwillen heraus constituiren. Sie entstellt und besteht in
dieser Gesellschaft durch ein freies Bündniss zum gegenseitigen
Schutz der Unverletztheit der Personen und ihrer frei eingegangenen
mit der allseitigen Freiheit und gleichen Gegenseitigkeit verträglichen
Verbindlichkeiten oder dauernden Lebensverhältnisse. Wo sie gelegent-
— 272 —
lieh körperlich eine zwingende Gewalt bethätigen muss, thnt sie dies
vermöge jener Nothwendigkeit, die nicht blos im unorganisirten Zu-
stande sondern auch in den vollkommensten Organisationsformen
platzgreift. Sie wird sich aber hiebei vor einer scheinheiligen Be-
rufung auf etwas Anderes, als auf eben jene rohe naturwüchsige
Nöthigung, zu hüten haben. In der That wäre es auch wunderlich,
dass sich der Mensch über den Menschen als Richter aufwürfe, an-
statt einzugestehen, dass er nur eine Gewalt übt, welche auch im
Naturzustande, dort aber ohne geregelte Organisation existirt. Ein
Richter, der sich selbst als solcher aufwirft, ist so gut wie keiner;
er maasst sich eine Function an, die zwar für Sklaven oder Halb-
sklaven als einseitige Gewaltübung, für freie Menschen aber nur als
Ergebniss ihrer auf eben diesen Zweck gerichteten Vereinigung einen
Sinn haben kann. In der Geschichte ist nun freilich die Usurpation
die Regel, und die historisch constituirten Richtergewalten sind aucli
meist nur Werkzeuge der jedesmal herrschenden und knechtenden
Macht gewesen, die nebenbei für die Unterworfenen den Frieden der
Unfreiheit und eine Art von Halbrecht für sie und unter ihren eignen
Gliedern aufrechterhielt. Der Unterdrückungsstaat hat eben auch
keine richterlichen Organe und Functionen hervorbringen können,
die nicht seinen Willkür- und Gewalts tempel trügen und mehr eine
Organisation des Unrechts als des Rechts wären. Die Justiz als Aus-
fluss einer despotischen Macht kann in ihrem Wesen nur das Gegen-
stück der Gerechtigkeit und nur zufälligerweise für einiges Recht
von untergeordneter Bedeutung empfänglich sein.
5. Die Theilung politischer Functionen ist nur in sehr be-
schränktem Maass mit der Sicherung der Freiheit verträghch. Ge-
setzgebung und Richterthum müssen bei der Gesammtheit bleiben
und können nur in technischer Beziehung und in ganz speciellen
Richtungen auf besonders sachverständige Hülfsorgane und auch so
nur theilweise übertragen werden. Am deuthchsten zeigt sich die
Unmöglichkeit, allgemeine und wesentliche Functionen, die zur eignen
Sicherung noth wendig sind, rückhaltlos Andern in die Hände zu
geben, in dem unvergleichHch wichtigsten Stück des politischen Da-
seins, nämlich in der Waffenführung. Der Wehrlose ist dem Be-
waffneten gegenüber thatsächlich so gut wie ohne Recht. Es kann
daher keine in sich verbundene Gruppe es ohne Thorheit geschehen
lassen, dass die Ausstattung mit Waffen die ausschliessliclie Eigen-
schaft einer besondeni Classe werde. Der freieste Bund müsste durch
— 273 —
die Schöpfung einer Kriegerkaste schliesslich in Knechtschaft ge-
rathen. Auf die Waffen kann der Einzelne nicht verzichten, wenn
er nicht damit zugleich seine Freiheit preisgeben will. Auch in der
planmässigen mihtairischen Action darf er die technische Leitung
und die Führerschaften nicht an einen besondem Stand gerathen
lassen. Das Zusammenstehen im Heere oder in einer zum innern
Sicherheitsdienst gehörigen Executivabtheilung muss sich als die
Wirkung eines Wehrbundes kundgeben und darf die , Individual-
souverainetät nicht verleugnen. Die Führer sind nicht nur zu wählen,
sondern auch da, wo eine besondere technische Kenntniss und Er-
fahrenheit nöthig ist, aus der Mitte des Volks heraus ohne Unter-
schied vorzubilden und zwar in solcher Menge, dass bei der Wahl
jedesmal nur ein Bruchtheil zu zeitweiliger und wechselnder Aus-
füllung der Posten gelangt. Ueberhaupt muss das Niveau der all-
gemeinen militairischen Bildung so hoch gehalten werden, dass der
Abstand von dem Wissen und Können der speciellen Techniker nie
so gross wird, um eine Controle der augenfälligsten Maassnahmen
auszuschliessen. Selbstverständlich darf nicht von bhndem Gehorsam,
sondern nur von Pünktlichkeit und Strenge in der Ausfuhrung aller
derjenigen Anordnungen die Rede sein, ohne deren Beobachtung ein
planmässiges Zusammenwirken hinfällig werden müsste. Der Waffen-
bund ist hienach nichts als ein Theil des allgemeinen politischen
Bündnisses und muss daher als eine Erweiterung der ursprünglichen
Wehrhaftigkeit des Einzelnen angesehen werden. Wie der Einzelne
im unverbundenen Zustande genÖthigt war, zum Kampf bereit zu
sein, so ist es nun die aus den Einzelneu zusammengesetzte Ge-
sammtheit. Sie kann hiebei nach Innen viele Kräfte sparen, da die
moralischen Bindemittel doch immer Einiges bedeuten; und sie kann
nach Aussen eine grössere Macht entwickeln, an welcher wiederum
nur dann Einschränkungen zulässig sind, wenn sich der Bund über
die ersten natürlichen Grenzen ausdehnt und zur einheitlichen Ver-
gesellschaftung ähnlicher Art mit andern Gemeinwesen gelangt. Nie-
mals aber kann von irgend Jemand auf dasjenige Maass von Wehr-
haftigkeit verzichtet werden, welches der entwickelten Technik und
den materiellen Möglichkeiten gegenüber als die allgemeine Vor-
bedingung der Sicherheit und der Kraftgleichheit gelten muss. Die
Erfindungen von besseren Kampfmitteln werden einerseits die Ten-
denz haben, die körperliche Ungleichheit der Kräfte unerheblicher
zu machen, andererseits aber durch sorgfältige Vorkehrungen ergänzt
Du bring, Cuisus der Philosophie. 18
— 274 —
werden müssen, wenn sich nicht die Mittel der überlegenen Gewalt
thatsächlich bei bestimmten Gruppen coucentriren und der allgemeinen
Freiheit gefährlich werden sollen. Die Minderung der auf die mili-
tairische Gewaltübung zu verwendenden Kräfte kann mit der Aus-
dehnung der politischen Gemeinschaft nach Aussen und mit der
innern Einwurzelung des gerechten Willens und der friedlichen, auf
die Arbeit an der Natur abgelenkten Gewohnheiten schritthalten.
Sogar der yuterdrückungsstaat erreicht wenigstens zu einem Theil
etwas scheinbar Aehnliches; denn er dehnt auch seinen Friedeji der
Unfreiheit mit den neuen Unterjochungen und Einverleibungen weiter
aus und lässt in* seinem Rahmen die zahme Lebensart wehrloser
Sklaven oder Halbsklaven sehr gern gedeihen, soweit er dieses Ve-
getiren nicht selbst durch seinen eignen Raub zu stören hat.
Das Beispiel des Waffengebrauchs hat uns über die grundsätz-
liche Unveräusserlichkeit der fundamentalen politischen Functionen
belehrt. Auf die Selbsthülfe darf man also niemals ganz verzichten,
sondern nur einwilligen, dieselbe als Bestandtheil einer organisirten
Gesammthülfe und daher nicht mehr nach ausschliesslich eignem
Urtheil auszuüben. Es kann daher auch die Verantwortlichkeit des
Einzelnen in den entscheidenden Hauptaugelegenheiten niemals weg-
fallen. Er wird zu seinem Theil über Krieg und Frieden ein Urtheil
und eine Stimme haben. Er wird nicht wider seinen Willen, wie
er ihn im Bunde kundgegeben hat, zu einer Action gezwungen wer-
den. Wohl aber wird er sich entweder der allgemeinen Nothwendig-
keit zu unterwerfen haben oder, wenn er dies nicht thut, den Ver-
bündungsvertrag verletzen. Eine solche Verletzung isolirt ihn ähn-
lich, wie wenn er sich im unorganisirten Zustande befände, und das
Recht oder Unrecht, welches ihm alsdann, je nach den Umständen,
von Seiten der freien Gesellschaft widerfährt, kann nie etwas Schlim-
meres sein, als was auclj der Naturzustand mit sich bringen würde.
Jedenfalls kann nirgend in höherem Grade als in der auf freier Ver-
bündung beruhenden Gesellschaft dafür gesorgt werden, dass der
Einzelne selbst da, wo er sich dem Willen der Mehrheit anschliessen
muss, zu nichts genöthigt wird, was nicht eine andere, «also etwa
die isolirte Lage in noch schlimmerer Weise mit sich brächte. Im
so zu sagen wilden Zustande der Freiheit nöthigt die Situation eben
auch zum Kampfe gegen den Feind; in der organisirten Gesellschaft
kann der, welcher gegen den äussern wirklichen oder angeblichen
Feind nicht ziehen will, nur in die Lage gerathen, mit einem innern
•— 275 —
Widersacher zu thun zu bekommen. Beides mag im einzelnen Falle
sich schlimm und ungerecht gestalten; aber von diesen Chancen, zur
Ausübung von Gewalt genöthigt zu werden, könnte schliesslich nur
die universelle und völlig ideale Gesellschaft befreien, in welcher sich
der Krieg und die innere Gewalt durch den allerseits guten und
friedlichen Willen ersetzt fänden.
6. Es klingt sehr annehmbar, dass ein besonderes Wissen oder
eine besondere Kunst von denen ausgeübt werde, welche sich in ihr
ausgebildet haben. Nach 4iesem Grundsatz würde sich ein geschultes,
um nicht zu sagen ein gelehrtes Richterthum nicht vermeiden lassen,
vorausgesetzt nämlich, dass ein Yerständniss für Recht und Unrecht
und dessen Bethätigung den Charakter einer Wissenschaft und Kunst
unter allen Umständen an sich tragen müsste. Nun ist aber das
allgemeine Urtheil über Recht und Unrecht in allen wesentlichen,
sei es öffentlichen oder privaten Angelegenheiten des Lebens, durchaus
nicht geeignet, veräussert und vormundschaftlich ausgeübt zu werden.
Wer hier auf das eigne Urtheil und die eigne Rechtswahrnehmung
verzichtet, ist beinahe noch in schlimmerer Lage, als derjenige,
welcher die Kampfmittel in andere Hände giebt. Jedenfalls aber
vollendet der Verzicht auf die geistige Selbständigkeit die Preis-
gebung der physischen Macht. Die gerichtliche Action ist ursprüng-
lich nichts als eine Umwandlung des Privatkampfes in einen Rechts-
streit gewesen, und zwar zeigen sich »die Spuren davon grade in der
Geschichte des Civilprocesses. Der moderne Ausdruck Klage ist ein
Erbstück aus der Zeit des Römischen Kaiserdespotismus, und ur-
sprünglich sowie in den freieren Zuständen bezeichnete man das
ganze Verfahren als eine Action, also als eine Handlung, in welcher
der jetzt so genannte Kläger natürlich auch dem Worte nach nicht
die Rolle eines um Recht Bittenden und sich bei einer gnädigen
Herrschergewalt über seinen Nebensklaven Beklagenden spielen konnte.
Er agirte vielmehr im wahren Sinne des Worts, und in einem ähn-
lichen Geiste gestaltete sich auch die Verfolgung der Verbrechen.
Wir dagegen sind so tief in die politische Vormundschaft gerathen,
dass schon die gewöhnlichsten Formen des Processes diese künst-
liche Unmündigkeit der Knechtschaft zur Schau tragen. In der That
ist es arg, dass uns die Alterthümer der bessern Zeit der Römischen
Republik, die doch auch keine Ideale waren und das Recht nur in
sehr besöhränkter Weise für die Freien und noch nicht einmal für
alle Classen derselben gleichmässig verwirklichten, in ernster Selb-
18*
— 276 —
ständigkeit noch Lectionen ertheilen können. Indessen erklärt der
Wust des Mittelalters und die neuere Polizeidespotie des monarchisch-
büreankratischen Staats im Bunde mit der von den Priestern ver-
erbten Unwissenheit und positiven Volksumnebelung sehr viel von
der Verkommenheit in der selbständigen Rechtsvertretung. Freilich
ist schon im alten Rom ursprünglich aus den Formen der Rechts-
betreibung ein aristokratisches, priesterartig dem allgemeinen Ge-
brauch vorenthaltenes Ceremoniell gemacht worden. Aber grade aus
diesem Umstände können wir lernen, was eine besondere Rechts-
wissenschaft im grössten Theil ihres Inhalts zu bedeuten habe. Sie
ist mindestens zu neun Zehnteln eine blosse Folge der Absonderung
und Kluft, die zwischen der Gesaromtheit und einem Juristenstande
durch das Princip der politischen Vormundschaft gerissen worden
ist. Eine vormundschaftliche Justiz kann, auch ganz abgesehen von
dem Charakter des Gewaltstaats, keine echte Gerechtigkeit sein.
Politik und Recht sind Dinge, in denen jedes Glied der freien
Gesellschaft für alle gemeinen Angelegenheiten Bescheid wissen muss.
Sogar der Gebrauch von Sachverständigen darf keine absolut auto-
ritäre Bedeutung erhalten. Ob Jemand für die gewöhnlichen Ge-
schäfte des Lebens handlungsfähig sei, kann von Jedem, der ihn in
diesen Geschäften beobachtet hat, hinreichend entschieden werden,
und gegen ein solches Zeugniss der Verkehrs- und Geschäftsgenossen
darf kein irrenärzthches , sich auf verborgene oder gleichgültige
Eigenschaften berufendes und vielleicht Behufs der Bewerkstelligung
einer Einsperrung erkauftes Gutachten irgend ein Gewicht in An-
spruch nehmen. Es giebt eben einen Kreis von Angelegenheiten,
in denen innerhalb eines bestimmten Rahmens eine allgemeine Sach-
verständigkeit bestehen muss und daher Experten nichts voraushaben
dürfen. Nur wo die natürliche Grenze der allgemeinen Sachverständig-
keit in offenbar technischen Specialitäten, wie z. B. in der subtileren
Beurtheilung der Ausfuhrung eines Baues, beginnt und daher selbst-
verständlich nicht politische sondern nur technische Functionen be-
trifft, da mögen Wissenschaft und Kunst ihr Urtheil abgeben, jedoch
so, dass es sich stets als controlirbares Material darstellt und die
Thatsachen von den blossen Schlüssen sorgfältig gesondert enthält.
Besondere Verkehrsgebiete werden in ihrer feineren Gestaltung vor-
zugsweise von den Betheiligten gekannt, und man kann Angesichts
der manuichfaltigen Gestaltung des Lebens nicht umhin, dieser tech-
nischen' Specialisirung der Rechtsverhältnisse in Gesetzgebung und
— 277 —
Gerichtswesen durcli besondere Saehverständigkeit zu entsprechen.
Hier scheint also die allgemeine politische Function der Rechtswahr-
nehmung auf eine bedenkliche Schranke zu treffen; denn die Ent-
fernung von dem allgemeinen Verständniss bringt nicht nur die
Principlosigkeiten und Verwicklungen, sondern auch die sich alsdann
leicht vor der Gesammtheit verbergenden Ausnahmen und Ungleich-
heiten mit sich. Das Verlagsrecht oder, besser gesagt, das Verleger-
recht ist hiefiir ein Beispiel; denn in ihm haben sich die grössten
Ungleichheiten und das schroffste Unrecht gegen die Schriftsteller
verkörpert. Aehnlich verhält es sich aber mit aller Fach- und Classen-
gesetzgebung, und wenn man zu den einseitigen Rechtsregeln auch
noch Fachelemente mit richterlichen Functionen hinzufügt, so ist an
uninteressirte Gerechtigkeit kaum mehr zu denken. Glücklicherweise
ist jedoch in der freien Gesellschaft auch jene Klippe der unbeherrsch-
baren Verwicklung und Specialisirung zu umschiffen. Man hat nur
nöthig, die technische Anwendung der allgemeinen Rechtsprincipien
durch scharfe Absonderung der rein fachmässigen Thatsachen zu
controliren. Geschieht dies, so werden sich die im engern Kreise
Betheiligten weit weniger dem allgemeinen öffentlichen Urtheil ent-
ziehen können. Die Gesammtheit wird daher hier das Sachver-
ständigenprincip , aber eben nur dieses und nichts weiter gewähren
lassen und sich die freie Entscheidung auf Grund der fachmässigen
Beleuchtungen bei der Feststellung der Rechtsregeln, bei der Bildung
der richterlichen Hülfsorgane und mithin bei der unmittelbaren Praxis
vorbehalten.
7. Der Augenblick zeigt uns die klaffenden Widersprüche recht
deutlich, indem die Ueberlieferung der Geschichte die wunderliche
Mischung eines gelehrten, im Solde der herrschenden Gewalt stehen-
den, ja zum Theil rein büreaukratischen Justizpersonals und der für
das Strafverfahren theilweise beliebten Heranziehung von Geschwor-
nen aus den höheren und mittleren Classen der Gesellschaft präsen-
tirt. Diese bizarre Auffrischung des sich schon in England selbst
nichts weniger als modern ausnehmenden Geschworneninstituts spielt
inmitten der scholastisch verzwickten und nicht blos durch die ge-
lehrte, sondern auch durch die politische Unnatur verschrobenen
Zustände eine klägliche Rolle. Ganz abgesehen von den Vorurtheilen
und der Parteilichkeit der Besitzenden, die das Geschwornenwesen
in erheblichen Richtungen zu einer reinen Classenjustiz werden lassen,
steht dem Richterthum von Leuten, die sich nur in ihre gewerblichen
— 278 —
Geschäfte eingelebt haben, von vornherein die gelehrte Verwicklung
und üeberladung der einfachsten Rechtsbegriffe entgegen. Um eine
wahrhafte Volksjustiz zu schaffen, muss man auch aus der Theorie,
aus den Gesetzen und mithin vor allen Dingen aus den Zuständen
die verschrobenen Widerspiele aller Natürlichkeit und Volksmässig-
keit entfernen. Nur für einfach geordnete und der allgemeinen
Kenntniss zugänghche Rechtszustände ist auch eine einfache und
unmittelbare Ausübung des Richterthums durch Jedermann aus dem
Volke denkbar. Das Aeusserste, was aber die neuste Zeit im Gegen-
satz zu der gelehrten Ueberlieferung für eine verbesserte Existenz-
form der. Rechtsregeln geleistet hat, beschränkt sich auf die Unter-
nehmung von umfassenden Gesetzbüchern. So unvollkommen diese
Arbeiten auch ausgefallen sind und ferner ausfallen werden, so liegen
sie doch wenigstens auf demjenigen Wege, auf welchem sich das
Uebel der allgemeinen Rechtsunkenntniss ein wenig zu mindern ver-
mag. Uebrigens haben sich diese Codificationen am ausgiebigsten
im Privatrecht ergangen, nächstdem in weit weniger befriedigender
Art für das Dasein allgemeiner Zuchtruthen in Gestalt von auch
formell höchst unzulänglichen Strafgesetzbüchern gesorgt, und alles
Uebrige als Nebensache behandelt oder nicht behandelt. Ausserdem
fehlt sehr viel daran, dass die codificirten oder auch nur die allgemein
erlassenen und leicht zugänglichen Gesetze die Summe der maass-
gebenden Rechtsregeln erschöpften. Die bunte Mischung von Orts-,
Provinzial- und Landesrechten, die sich in sehr willkürhcher Weise
bald als Gewohnheitsrecht, bald als geschriebenes Gesetz, oft unter
Einkleidung der wichtigsten Angelegenheiten in reine Statutarform,
in den verschiedensten Richtungen kreuzen, — diese Musterkarte
von Unordnung und Widerspruch, auf welcher die Einzelheiten das
Allgemeine und dann gelegentlich wiederum die Allgemeinheiten das
Besondere hinfallig machen, ist wahrlich nicht geeignet, ein klares
Rechtsbewusstsein bei irgend Jemand, so rechtsgelahrt er auch sein
möge, geschweige bei jedem Bürger des Gemeinwesens möglich zu
machen. Die Doctrin giebt sich freilich das Ansehen, als wenn eine
solche Verworrenheit ihr gemäss und der regelrechte Zustand wäre.
Für eine verdorbene Theorie ist das Verschrobene allerdings die
Existenzbedingung; aber der natürlichen Wissenschaft, die auch mit
genauen Thatsachen und überdies mit einer strengen Logik operirt, wer-
den die chaotischen Erzeugnisse zufälliger Mischung und blossen Conse-
quenzmangels nicht als historische Schönheiten und Harmonien gelten.
— 279 -
Das bestimmtere Recht besteht wesentlich zwischen einem Kreis
von Personen und reicht soweit als die entsprechende Gemeinschaft.
Für die allgemeinen, pohtischen oder nichtpolitischen Verhältnisse
des Lebens muss ein Jeder sohon durch Erziehung und mit der
Jugendschulung vorläufig orientirt sein, so dass die praktische Er-
fahrung nur noch im Einzelnen grössere Sicherheit und volleres
Verständniss zu gewähren hat. Für die specialistisch technischen
Voraussetzungen einzelner Lebenskreise bringt aber die Einführung
.in den Beruf den Betheiligten das Besondere, was sie hier an Rechts-
kenntniss brauchen, und man wird in dieser Richtung nicht erwarten
dürfen, dass sich auch der Unbetheiligte und mithin Uninteressirte
mit diesen Sondergestaltungen abgebe. Man darf aber hieraus nicht
die Nothwendigkeit von speciell auf diese Verhältnisse einstudirten
Richtern ableiten wollen; denn mit demselben Recht könnte man
verlangen, dass der, welcher eine richterliche Function üben soll, in
jedem Fache zugleich ein Specialsachverständiger sei. Die Geltend-
machung der besondern Einsichten gehört mehr in die selbstver-
ständhch völlig freie und allgemeine Advocatur, als in die Richter-
fiinction. Die Parteien mögen in civilen und criminellen Angelegen-
heiten für die Specialaufklärung sorgen, und auch die richtende
Instanz kann allenfalls im Interesse ihrer eignen Aufklärung die
specialistische Beleuchtung des grade fraglichen Gebiets und Falles
durch blosse Hülfsorgane veranlassen. Auf diese Weise schwindet
jeder Vorwand, die richterliche Souverainetät dem Volksindividuum
abhanden kommen zu lassen. Auch die allgemeinen Grundsätze der
Theorie werden sich ebenmässiger und klarer gestalten, wenn sie
nur eine indirecte Bedeutung als Hülfsmittel bei der Führung der
Sachen, aber nicht als Verkörperungen im gelehrten Richterthum
eine formelle und privilegirte Autorität in Anspruch zu nehmen
haben.
8. Hätte die natürliche politische Vergesellschaftung sich irgendwo
ohne erhebliche Störung von Seiten des Raubsystems entwickeln kön-
nen, so würden die Colosse von Grossstaaten mit ihren schwachen
Stützen nicht existiren. An ihrer Stelle würde i^an umfassende
Vereinigungen mit gediegen festen Grundlagen und mit einer nur
durch den Erdball selbst begrenzten Ausdehnungsfähigkeit vor sich
sehen. Die natürlichen Bedürftiisse des Verkehrs würden jedesmal
Art und Grenze der Organisirung von weitreichenden politischen
Verbindungen bestimmt haben. Ein verhältnissmässig kleiner Kreis
— 280 —
von Personen imisa im natürlichen System die erste und wichtigste
Einheit des politischen Verbandes bilden. Nur in einem derartig
bemessenen Rahmen kann Jeder seine Genossen hinreichend kennen,
um mit ihnen im Verein die politischen Hauptiunctionen wirksam
auszuüben. Nur innerhalb dieser Begrenzung kann der Mensch vom
Menschen fordern, dass die vorkommenden Vergehungen von Jedem
als ein Uebel betrachtet werden, für dessen Verhütung und Ahn-
dung er so verantwortlich ist, als wenn es sich um die Disciplin
eines kleinen Hauswesens und um die Ordnung in der Familie han-
delte. Keine aufgezwungene Polizei kann je das leisten, was die
übersichtliche Solidarität und die genossenschaftliche Selbstwahr-
nehmung der politischen Hauptaufgaben auch in der Richtung auf
Vorbeugung zu garantiren vermag. Wo man sich um jede mögliche
oder thatsächliche Ausschreitung als um eine Angelegenheit kümmert,
von der man mittelbar selbst betroffen wird, da kann sich ein an-
derer Geist bethätigen, als jene entfernte und völlig kalte Theil-
nahme, mit welcher im heutigen Staatswesen die Verbrechensstatistik
betrachtet wird. Freilich ist die Zurückführung der gesammten Po-
litik auf naturgemäss kleine Grundvereinigungen, die sich alsdann
weiter mit Ihresgleichen zu verbünden haben, im Bereich der heu-
tigen Zustände nicht zu vollziehen, ja nicht einmal anzubahnen, weil
der Gewaltstaat bereits Alles absorbirt hat. Aber wir setzen hier
auch eine principielle Umschaffung der Verhältnisse voraus und sehen
die Bildung der kleinen selbständigen Gruppen als den Anfangspunkt
einer neuen Aera der Gesellschafts Verfassung an. Namentlich ist
ohne die Ausdehnung des Gerechtigkeitsprincips auf das Wirth-
schaftsleben keine politisch befriedigende Gestaltimg durchzuführen.
Die materielle Existenz ist selbst ein ursprüngliches Recht, nämlich
insofern sich die Störung ihrer Möglichkeit durch einen Andern als
ungerechte Verletzung kennzeichnet. Wer mir den Zugang zu den
Naturstoffen und Naturkräften vorenthält, hindert mich am Lebftn.
Er beraubt mich meiner natürlichen Freiheit in einer entscheidenden
Richtung und macht mich indirect dienstbar und tributär. Er mo-
nopolisirt ohn^ jeden natürlichen Rechtstitel alle von vornherein
gemeinschaftlichen Mittel, aus deren Fond allein eine selbständige
Sorge für die Existenz mögUch war. Hieraus folgt, dass die Nutzungs-
rechte an der Natur politisch und zwar nach dem Princip der gleich-
heitlichen Gerechtigkeit zu ordnen sind. Für den Gebrauch des Grund
und Bodens sind positive und organische Einrichtungen uoth wendig,
— 281 —
da es in der socialitären Wirthschaft nicht genug ist, blos die un-
gerechten Hinderungen abzustellen. Das wirthschaftliche Zusammen-
wirken erfordert eine neue Uebereinkunft , die aber durch das Be-
dürfniss unausweichlich gemacht wird, und die in nichts Anderm
bestehen kann, als dass ein Jeder sich verbindlich macht, seine Kraft
zur Versorgung Aller nach dem technisch nothwendigen Plane ein-
zusetzen. Die Feststellung des Princips, nach welchem sich der An-
theil an den Früchten der Gesammtarbeit bestimmt, wird ebenfalls
eine Angelegenheit der politischen Gerechtigkeit. Die eingesetzten
Kräfte eines Jeden können sich hiebei als gleichwerthig geltend
machen; denn im gegenseitigen Austausch der Erzeugnisse kommt
volkswirthsftihaftlich nur die Beschaffungsschwierigkeit, also der Auf-
wand an Arbeitszeit als werthbestimmend in Frage. Politisch kann
aber Niemand einwilligen, dass die gleichheitliche Einsetzung seiner
allgemeinen Menschenkraft für die Production etwas Anderes als den
Anspruch auf einen ebenfalls gleichheitlichen Genuss zur Folge habe.
Oekonomisch macht sich dies sogar von selbst, wenn nur bei der
Berechnung der Werthe und demgemäss bei der Feststellung der
Preise von der Anzahl der bei der Production betheiligten Menschen-
kräfte ausgegangeu wird. Die Gleichsetzung dieser Menschenkräfte,
mögen die Einzelnen nun Mehr oder Weniger oder zufällig auch
Nichts geleistet haben, ist aber ein politischer Act, welcher der will-
kürlichen Hinabdrückung der Geltung oder, anders ausgedrückt, des
Werths des Arbeiters contrastirend entgegensteht.
Noch weit mehr, als die ausschliessliche Herrschaft über die
Natur, ist die Verfügung über die Aufhäufungen der dem Menschen
entfremdeten und in Erzeugnissen verkörperten Arbeit als eine ur-
sprüngliche und fortbestehende Verletzung der Gerechtigkeit aufzu-
fassen. Einen grossen Theil dieser Aufhäufung bilden die unent-
behrlichen Arbeitsmittel und mithin die der Production dienstbaren
Capitalien. Durch sie findet sich das echte Princip des Eigenthums
noch ärger beeinträchtigt, als durch die Abpferchung der Naturmittel.
Die Arbeit oder der volle Werth derselben gehört dem zu Eigen,
von dem sie ausgeht. Gegen dieses Eigenthum verstösst aber das
blos so genannte Eigenthum, wie es vornehmlich als Gewalteigen-
thum mit dem ünterdrückungsstaat gross geworden ist. Hier hat
also ebenfalls die pohtische Gemeinschaft xommunitäre Ansprüche zu
erheben; denn ein Zustand voller wirthschaftlicher Gerechtigkeit
hätte den ausschliesslichen Capitalbesitz und die Capitaloligarchie
— 282 —
von vornherein verhindert. Die Entfremdung des Eigensten, worüber
der Mensch von Natur verfügte, heisst sonderbarerweise mit ihrem
historischen Namen selbst Eigenthum, und diese Bizarrerie des
Sprachgebrauchs begründet sich nur dadurch einigermaassen , dass
auch das Gewalteigenthum innerhalb des Kreises der gegenseitig für
dasselbe politisch Versicherten ein relatives Recht ist.
9. Am meisten pflegt man die Möglichkeit in Frage zu stellen,
das Wirthschaftsrecht politisch im Sinne der freien Socialität zu
ordnen. Die Schwierigkeit ist hier aber nicht grösser, als. in der
Bestimmung sonstiger Functionen und Functionäre der Gesellschaft.
Wie man die jedesmaligen Richter dort durch Wahl abordnen mag,
wo nicht unmittelbar alle Glieder der GrundvereiniguÄg eintreten
müssen, und wie man durch wählende Bezeichnung aus dem Kreise
technisch Vorgeschulter die militairischen Führer bestimmt, so wird
man auch die Functionäre der Wirthschaftsverfassung, gleich denen
jeder andern Verwaltung, regelrecht zu beschaffen verstehen. Nur
wenn es an den materiellen Grundsätzen selbst fehlte und so die
wirthschaftliche Gerechtigkeit ohne Compass wäre, würde man sich
vor einer wirklichen Schwierigkeit befinden. Glücklicherweise ist
sich aber sogar die wirthschaftliche Wissenschaft, deren Fehlen an
sich selbst die unmittelbar klaren Rechte wahrlich nicht mi {vernichten
würde, noch obenein deutlich bewusst geworden, wie das einfachste
Spiel des Werthgesetzes unter übrigens gleichheitlichen Verhältnissen
grade ohne willkürlichen Zwang dahin fuhrt, das Recht der Arbeit
auf gleichen Genuss zu verwirklichen. Ja selbst wenn man Unter-
schiede der Arbeitsamkeit als maassgebend zuliesse, würden in dem
natürlichen System der Gesellschaft doch nur verhältnissmässig kleine
Verbrauchsabweichungen platzgreifen. Die Aufhäufungen würden
immer nur der Consumtion dienen, nie aber die Knechtung und
Aneignung der fremden Arbeitskraft ermöglichen. Auch das Ge-
währenlassen der erblichen Uebertragung solcher Vortheile bliebe
naturgemäss; denn die Wirthschaftsverfassung, welche die Miethe
der Arbeitskraft als ein Verhältniss der Halbsklaverei ausschliesst und
auch sonst thatsächlich jeder Arbeitskraft ihren selbständigen, keinem
andern Menschen dienstbaren Platz anweist, verhinderte von vorn-
herein jede privatökonomische Machtbildung.
Die technischen Leiter der Production würden nicht mit den
Organen der wirthschaftlichen Rechtsordnung zusammenfallen. Um
jene zu bestimmen, würde mau schon der allgemeinen Schule die
— 283 —
Auswahl oder nöthigenfalls Ausloosiing derjenigen aufzugeben haben,
welche zum besondem Fachunterricht höherer Art in der einen oder
andern Richtung übergehen sollen. Der Reiz des Aufsteigens zu
Thätigkeiten, die mehr Fähigkeiten und Vorbildung ins Spiel setzen,
würde ausschliesslich auf der Neigung zu der betreffenden Beschäfti-
gung und auf der Freude an der Ausübung grade dieser und keiner
andern Sache beruhen. Er würde nicht mehr jener Stachel sein, der
die Eroberung einer Stellung zu Erwerb und Herrschaft sowie da-
neben noch die Befriedigung von ein wenig Eitelkeit oder gemeinem
Ehrgeiz als entscheidendes Ziel vor Augen hat und fast niemals von
einem erhebhchen Maass ursprünglicher Liebe zur Sache begleitet
ist. Jener edlere, aus wirklicher Neigung entsprungene Antrieb würde
auch den Wetteifer nicht vergiften und das feindliche Element der
Mitbewerbung durch eine wilhge Unterwerfung unter diejenige Noth-
wendigkeit ersetzen, durch welche der Sache am besten gedient wird.
Die Personen würden lernen, sich zu bescheiden, wo die Gesetze der
Sache und hiemit des allseitigen Wohls gesprochen haben. Das Ur-
theil über die Fähigkeiten würde nicht nur methodisch sorgfältig,
sondern auch schon von den ersten Stufen der Schulung her mit
aller Rücksicht auf die freien Formen eines Gemeinwesens festzu-
stellen sein. Unter den gleich Fähigen würde, falls die Anzahl zu
gross wäre, wie schon angedeutet, der unparteiliche Zufall d. h. das
Loos zu entscheiden haben. Durch die Vorbildung verkörpert sich
in ihrem Träger auf rein persönliche Weise eine Menge von Arbeits-
kraft, die erforderlich war, um durch Unterricht und Einübung den
tüchtigen Kopf und die geschickte Hand herzustellen. Aus dieser
Verkörperung darf nun der auf diese Weise schon persönlich Be-
günstigte nicht etwa noch einen Anspruch auf besondere Belohnung
und gesteigerten Genuss ableiten. Er darf seine verbesserten leib-
lichen und geistigen Organe in dieser Beziehung nicht anders be-
trachten, als irgend ein anderes, äusserliches Arbeitsmittel, welches
ihm von der Gesellschaft zugerichtet und zur Benutzung übergeben
ist. Die Herstellung von beiderlei Werkzeugen Imt die Ausgabe einer
Menge von Arbeitskraft gekostet, welche von der Person, die nun
über diese Werkzeuge verfügt, nicht hätte geleistet werden können.
Die entsprechende Ausstattung mit besonderer Geschicklichkeit oder
•mit Maschinen ist daher ihrem ökonomischen Werthe nach ein Auf-
wand der Gesellschaft und so zu sagen eui Eigenthum, welches von
ihr producirt worden ist. Derjenige nun, welcher in die bevorzugte
— 284 —
Lage kam, Gegenstand dieser Ausstattung zu werden, mag sich hiezu
Glück wünschen, hat gber nicht das mindeste Recht, noch obenein
auf besondern Entgelt für das Anspruch zu machen, was an ihm
wesentlich von dem Zusammenwirken Aller herstammt.
Der Andrang zu den höheren Specialitäten muss übrigens in
der socialitären Gesellschaft noch dadurch gemässigt werden, dass
die Bildung der allgemeinen Schule Alles bietet, was an sich selbst
und principiell für den Menschen einen Reiz haben kann. Die
Grundlage^ und Hauptergebnisse aller die Welt- und Lebensansicht
berührenden Wissenschaften gelangen hier zu ihrem Recht für die
allgemeine Bildung und für die Gestaltung oder Gewöhnung des
Denkens, Fühlens und Wollens. Genaue und sichere Kenntnisse über
das, was auch der Nichtspecialist für die eigne und fremde Gesund-
heit vorbeugend oder nachhelfend thun kann, dürfen schon darum
nicht fehlen, weil man hiedurch nicht nur an ärztlichen Functionären
der Gesellschaft viel ersparen, sondern auch die Thätigkeit dieses
Berufs durch ein derartiges Zusammenwirken erfolgreicher machen
kann. Ebenso werden die Hantirungen und Kunstfertigkeiten von
allgemeinem Interesse, also namentlich die gewöhnlichsten und leicht
zugänglichsten Verrichtungen in Ackerbau, Industrie und Verkehr,
soweit sie irgend zu einer Steigerung der allgemeinen leibHchen und
geschäftlichen Tüchtigkeit oder zu einem übersichtlichen Verständniss
der Gesammtverhältnisse beitragen mögen, bereits von der allgemeinen
und gleichen Schule berücksichtigt. Die Voraussetzung einer solchen
fundamentalen Schule, in welcher sich gleichmässig für Alle eine
walirhaft allgemeine wissenschaftliche und sifcten veredelnde Menschen-
bildung concentrirt, gestattet es, die höhereu specialistischen Stufen
mit andern Augen zu betrachten, als im heutigen Staat. In dem
letzteren finden sich die Specialitäten mit der politischen Autorität
und der ökonomischen Macht gemischt und übrigens auf einen Stamm
von Volksunwissenheit und äusserst unzulänglicher Mittelbildung ge-
pfropft. In der freien Gesellschaft ist aber eine so klaffende Un-
gleichheit der geistigen Ausstattung nicht vorhanden. In ihr wird
man den fähigen oder gar schöpferischen Specialisten zwar achten
und überdies, was heute se>ten der Fall ist, sogar in einem gewissen
Sinne lieben; aber man wird in ihm keine autoritäre Macht sehen,
welche das allgemein Menschliche der universellen Bildung wesentr
lieh überragte. In der Hauptangelegenheit, nämlich im allgemeinen
Lebensbewusstsein wird er sich von der Gemeinschaft Aller nicht
— 285 —
erheblich entfernt haben können, und seine allgemeine Bildung wird
dieselbe sein, wie die jedes Andern, Die Gegenseitigkeit zwischen
denen, welche zuerst neue Bestand theile des Wissens und der Bil-
dung erringen, und denen, welche sie alsdann aufnehmen und auch
sofort vermittelst jener wahrhaften Volksschule fortpflanzen, muss
beiden Theilen zur Befriedigung gereichen ; denn es hört hiemit jene
Entfremdung auf, welche die kühnen Geister nicht blos von der
Menge, sondern auch von der höhern aber rückständigen Bildung
der Besten ihrer Zeit so oft isolirt und ihnen eine für den Augen-
blick unfruchtbare, erst einem spätem Geschlecht förderliche Ein-
samkeit und Zurückhaltung aufgenöthigt hat. Auf der andern Seite
werden auch manche Ausschweifungen und sogenannten Geniespiele
an dem lebendigen Wechselverkehr ein Maass finden, welches die
bizarre Yerlorenheit des Geistes wieder an das Geleise des normalen
Gedankenganges erinnert.
10. In der freien Gesellschaft kann es keinen Cultus geben;
denn von jedem ihrer Glieder ist die kindische Ureinbildung über-
wunden, dass es hinter oder über der Natur Wesen gebe, auf die
sich durch Opfer und Gebete wirken lasse. Der Naturgesetzlichkeit
gegenüber sind die vermeintlichen Zauberkünste der Religionen ein
offenbares Nichts, und die innere psychische Wirkung ist ein Trug,
der trotz des mancherlei Scheins von vorläufiger Befriedigung doch
auf die Dauer nicht wohlthätig sein kann. Die falschen Träume
halten eben die Probe der Wirklichkeit nicht aus, und die fortge-
setzte Pflege derselben ist eine Art Wahnberauschung, auf welche
eine mit üebelbefinden verbundene Ernüchterung des Einzelnen und
der Völker folgen muss. Hiemit wird alsdann die Aera der Religion ,
die nichts als ein Erzeugniss der unzulänglichen Orientirung des
Menschengeistes war, endgültig geschlossen. Die naturwissenschaft-
liche Denkweise verallgemeinert sich zu einer Erkenntniss der durch -
gängigen Regelmässigkeit aller Vorgänge, und hiemit ist dem Ge-
danken, auf die Dinge und das eigne Schicksal durch Kundgebungen
zu wirken, die sich an imaginäre und mystische Mächte richten, die
Wurzel abgeschnitten. Es bleibt nur die allgemeine Speculation,
d. h. die Bildung von verstandesmässigen Ideen und gemüthshaften
Eindrücken übrig, in denen sich der Charakter alles Seins mehr oder
minder zutreffend bekunden mag. Diese Speculation oder, mit an-
dern Worten, dieses betrachtende Nachdenken ist aber kein Caltus ;
denn es richtet sich nicht wie dieser auf Vortheile, die durch eine
— 286 —
mit Opfern erkaufte oder aber auch blos erbettelte Göttergunst ge-
sichert werden sollen. Jene Speculation kann ebensogut wie das
mathematische Nachdenken oder wie die Poesie bestehen, auch wenn
ihr keine besondern öffentlichen Einrichtungen gewidmet sind. Jedoch
wird das, was an ihr wirkliches Wissen oder unumgängliches Em-
pfinden ist, bereits in der allgemeinen Schule gleich andern wissen-
schaftlichen und künstlerischen Bestandtheilen der universellen Bil-
dung hinreichend Wurzel fassen, und es bleibt ja überdies den Ein-
zelnen und den Gruppen unbenommen, von ihrer reichlich bemessenen
freien Zeit auch für die besondere Pflege beschaulicher Betrachtung
je nach der Neigung Gebrauch zu machen. Um die moralischen Ele-
mente, die sich in sehr zweideutiger Weise mit den rehgiösen Vor-
stellungen und Verfahrungsarten mischten, braucht man nicht be-
sorgt zu sein; denn die freie Gesellschaft hat festere und edlere
Grundlagen der Sittlichkeit aufzuweisen, als jemals mit irgend einer
Superstition vereinbar gewesen sind oder werden können. Der freie
Kopf und alle bessern Naturtriebe des Herzens sind hier die Gesetz-
geber, und eine auf Wohlwollen und Verstand gegründete Vereini-
gung ist in jedem ihrer Glieder und als organisirtes Ganze der Bürge
für die thatsächliche Güte und Vervollkommnung der Sitten.
Mit dem Cultus und der zugehörigen Religion kommen auch
die entsprechenden Nebeneinflüsse auf die Regeln und Einrichtungen
des bisherigen Rechts in Wegfall. So ist nicht blos kein Eid son-
dern auch kein Analogon desselben mehr denkbar. Es würde nämlich
.ein Abweg sein, die ursprünglich von den religiösen Vorstellungen
erzeugte Einrichtung des Eides nun etwa fernerhin, in vermeintlich
recht verstandesmässiger Weise, als eine Versicherung fortbestehen
zu lassen, auf deren absichtliche Falschheit eine bedeutende Ver-
brechensstrafe gesetzt wäre. Dies hiesse, eine willkürliche geistige
Folter grade da festhalten, wo ohne die ursprüngHch freiwillige Sitte
des Schwörens das ganze Beweismittel nie in Frage gekommen wäre.
Das Rechnen mit der klaren Wirklichkeit kann überhaupt den sub-
jectiven Beweismitteln nicht soviel Bedeutung einräumen, als die
wenig exacte Auffassung der zwar neuerdings formell ungebundenen,
aber dafür auch principlos zwischen Gewohnlieit und Willkür schwan-
kenden Gerichtsroutine. Wer da meint, man könne ohne den Eid
oder ein rein weltliches Surro'gat nicht auskommen, möge nur be-
denken, dass man gegenwärtig oft in der schlimmeren Lage ist,
Angesichts des Meineides von Schurken und der säubern Cousequenzen
— 287 —
der vollen Geltung desselben existiren und diesen Eidesausbeutem
die Stirn bieten zu müssen.
Die milden Stiftungen, die zu einem grossen Theil den Ver-
tretern des Cultus anheimgefallen sind, finden sich in der freien Ge-
sellschaft durch etwas unvergleichlich Besseres ersetzt. Hier ist die
Humanität der fraglichen Gattung auf das veredelte natürliche Mit-
leid gegründet und derartig in umfassenden Organisationen verkörpert,
dass sie nicht mehr den beliebigen Einzelregungen anheimfällt. Der
Beistand, welchen der Mensch dem Menschen in Krankheit, Unglück
und sonstiger Hülflosigkeit gewähren soll, reicht freilich über die
blosse Gerechtigkeit ursprünglicher Art hinaus, muss aber dennoch
als eine höhere moralische Pflicht aufgefasst werden, weil die Ver-
sagung desselben zwar nicht als eine eigentliche Gerechtigkeitsver-
letzung, wohl aber überhaupt als ein Mangel und zwar als ein ähn-
licher Mangel empfunden wird, wie wenn auf eine Wohlthat die
Regung und Bethätigung von Dankbarkeit ausbleibt. Auch schliesst
die allgemeine Vergesellschaftung sogar den Vertrag auf gegenseitige
Hülfe unter . allen Voraussetzungen und mithin auch für die Zustände
der Schwäche und Hülflosigkeit ein. Um jedoch den Geist der auf-
opfernden Mitempfindung und der persönlichen Hingebung bei der
Krankenpflege und in andern Richtungen umfassend zu verkörpern
und stets regezuhalteu, bedarf man mehr als des blossen Gedankens
einer gesellschaftlich nothwendigen Pflicht. Man bedarf ausser der
Erkenntniss dieser Pflicht auch noch einer besondem Steigerung und
Ausbildung des Mitgefühls und einer Art edler Leidenschaft für die
Uebernahme derjenigen Bürden und Geduldsproben, welche die Aus-
übung des fraghchen Beistandes, gestalte sie sich als dauernder
Beruf oder als zeitweilige Verrichtung, stets in irgend einem Maasse
mit sich bringen wird. Nur die zur zweiten Natur gewordene, frei
aus der Gefühls- und Denkweise entspringende Theilnahme kann
hier das Höchste leisten und über die äusserliche Bethätigung wohl-
wollender Pflege hinaus, die auch schon ein wahrlich nicht gemeines
Ergebniss ist, zur Befriedigung der Gemüthsbedürfhisse der frag-
lichen. Zustände gelangen. Das tief wurzelnde Bewusstsein von dem
gemeinsamen Menschenschicksal und die Erweckung des feineren
Mitgefühls für die einzelnen Gestalten individuellen Unglücks und
Schmerzes werden allein vermögen, jene opferwillige Gesinnung zu
erzeugen, ohne welche auch die besten und wirksamsten äussern
Einrichtungen eine Halbheit bleiben müssten. Die Versenkung in
— 288 —
den Gedanken des allgemeinen Bandes, welches in Lust nnd Schmerz
alle Theilhaber an der Menschennatur umschlingt, sowie in die Idee,
dass die Welle, welche der Einzelne im Strome des Lebens ist, einem
Element und Wesen angehört, das wir Alle sind und mannichfaltig
ausprägen, — diese lebendige Erfassung der menschlichen Sohdarität
im Leben und Sterben darf nicht fehlen, wenn der Mensch dem
Menschen im Unglück und in der Pein letzter abschliessender Lebens-
acte das sein soll, was er durch echte Theilnahme wirklich zu sein
vermag. Man vergleiche nun mit dieser natürlich menschlichen, aber
darum nur um so höheren Aufgabe die Bestrebungen, welche die
bisherige Geschichte im Reich der auf Bettel und frömmelnden Trug
gegründeten Einrichtungen aufzuweisen hat. Was sich hier selbst
innerhalb des Rahmens der allgemeinen Täuschung an wahrer Mensch-
lichkeit ausnahmsweise bethätigen mochte, musste durch die Mischung
mit den überwiegenden schlechteren Bestandtheilen geschwächt und
verunstaltet werden. Die unnatürliche Richtung und der pietistische
Zwang, in welchen an sich gute Regungen verschoben' und ver-
schroben wurden, mussten selbst die beste Anlage und die auf-
richtigste Hingebung mit schädlichen und unleidlichen Bestandtheilen
versetzen. Ueber diese Fälschungen der edelsten Seiten der Menschen-
natur kann nur die freie Gesellschaft endgültig triumphiren , weil
sie allein es ist, in welcher der Mensch sein theilnehmendes Wesen
nicht nur ohne mystischen Dunst erkennt, sondern auch unbefangen
und ohne den kindischen Anspruch auf transcendent magische Zauber-
künste, also rein und ausschhesslich im Sinne der Wirklichkeit aus-
prägt.
11. In dem überlieferten Staat sind die verschiedenen politischen
Körperschaften vorherrschend nach dem Muster der allgemeinen Ge-
waltverfassung und im Sinne des Bevormuuduugsprincips eingerichtet-
Man darf nm* an die Gemeindeverfassungen und an die privilegien-
hafte Entstehangs- und Verwaltungsar fc der mannichfaltigen Corpo-
rationen denken, um sofort inne zu werden, dass der Rahmen des
Unterdrückungsstaats keine Bilder fassen kann, die nicht den gleichen
Gegensatz von Herrschaft und Knechtschaft weiter ausgeführt ent-
halten. Die Gleichartigkeit, mit welcher sich die Gesammtverfassung
in entsprechend unfreien Gemeinde- und Corporationseinrichtungen
geltend macht, gilt nicht blos im Allgemeinen, sondeni auch für die
Unterschiede des Mehr und Minder der Knechtschaft, die uns freilich
hier, wo wir nur im Grossen Abrechnung halten, nicht besonders
— 289 —
interessiren können. Jedoch ist die allgemeine Idee von Werth, dass
sich die kleinern politischen Einheiten überall den staatlichen Ge-
sammtformen anbequemen, und dass in der Gemeindeverfassung
Unterdrückung und Vormundschaft auch dann noch unbeschränkt
fortzubestehen pflegen, wenn übrigens schon in der Gesammtver-
fassung einige Milderungen durchgesetzt worden sind. Diese Er-
scheinung ist sehr natürlich; denn die klein ern Einheiten gelten im
Gewaltstaate nur als Ausläufer desselben, und man muss daher erst
bei ihm selbst in seinen grossen Dimensionen beginnen , ehe man
seine entfernteren Consequenzen zu erreichen vermag.
Ursprünglich ist auch die Familie eine politische Einheit, und
die Herrschaft des Pamilienhauptes eine Gewalt, welche die wichtig-
sten Eigenschaften der Staatshoheit, wie z. B. eine Art Strafgerichts-
barkeit, einschliesst. Wo der Familiendespot das Recht über Leben
und Tod seiner Angehörigen hatte, da war die Familie zugleich der
Unterdrückungsstaat im Kleinen. Nun ist freilich im Lauf der Ge-
schichte die private Familiengewalt immer mehr beschränkt worden,
und ihre eigentlich politischen Functionen sind -gänzlich an den
Gewaltstaat übergegangen. Ein bemessenes Züchtigungsrecht gegen
die Kinder kann kaum als Rest der ursprünglichen Strafe ompetenz
angesehen werden; denn es hat nur einen pädagogischen Sinn und
\vürde äusserst fraglich werden, wenn es über die Zeit der eigent-
lichen Erziehung hinaus zur Anwendung kommen sollte. Ueberhaupt
sind die Bestandtheile der väterlichen Gewalt, soweit dieselben über
die Erziehung hinausreichen sollen, jetzt nur vereinzelte Ueberbleibsel
und bleiche Schatten der ursprünglichen Machtvollkommenheit. Die
Einwilligung zur Ehe der Kinder ist zu einer Form herabgesunken,
und die Vorenthaltung derselben kann äusserstenfalls nur eine auf-
schiebende Wirkung haben.
Trotz dieser Einschrumpfung der Familiengewalt bleibt aber
dennoch der Satz bestehen, dass der Unterdrückungsstaat , die Ge-
sellschaft mit dem Gewalteigenthum und die Familie mit der Zwangs-
ehe als gleichartig zueinander gehören. Wie sollte auch das , was
von allen politischen Einheiten und körperschaftlichen Gestaltungen
gilt, bei einer Einrichtung nicht zutreffen, in deren Rahmen sich
weltgeschichtlich die schroffste Ungleichheit, nämlich die lebensläng-
liche Rechtsunmündigkeit des Weibes geborgen hat ! Auch nach
der heute üblichen Auffassung ist die Ehe eine Unterordnung des
Weibes unter den Willen des Mannes, und wir haben es daher in
Dübring, Cursus der Philosophie. 1^'
— 290 —
der Zwangselle so gut wie im Unterdrückungsstaate mit einem Ver-
hältniss von Herrschaft und Knechtschaft zu thun. Eine mildere
Aussenseite, die sich etwa in der wirklichen Sittengestaltung zeigen
mag, darf über die juristischen Consequenzen nicht täuschen, die
aus den anerkannten Rechten jederzeit gezogen werden können und
auch oft genug direct und noch öfter indirect benutzt werden. Die
Frau muss, bei Vermeidung polizeilichen Zwanges, dem Manne folgen,
wohin ihm zu gehen beliebt, oder, was unter Umständen schlinuner
sein kann, sich das von ihm gewählte Domicil anweisen lassen,
während er bezüghch seines thatsächlichen Aufenthalts völhg un-
gebunden bleibt. In dem entscheidenden Hauptpunkt, auf welchen
das ganze Eheverhältniss angelegt ist, hat die Frau sogar das ge-
meine Schutzrecht eingebüsst, welches selbst jeder feilen Dirne gegen-
über juristisch gültig ist. In der Ehe kennt nämlich das Strafrecht
thatsächhch keine Nothzucht, und es wäre auch wunderlich, ein
eigentlich juristisches Recht auf den Geschlechtsverkehr anzuerkennen
und dabei die Eigenschaft aller mehr als blos moralischen Rechte,
nämlich die executive Erzwingbarkeit auszuschliessen. Gesellt sich
doch zu dem fraglichen Mangel an Schutz noch indirect die positiv
gerichtliche Anhaltung zum Geschlechtsverkehr oder, um buchstäb-
lich mit den Gesetzbüchern zu reden, zur ehelichen Pflicht, indem
die wirksame Vorenthaltung der letzteren als ein Treunungsgrund
die Ehe selbst in Frage stellt ! Auch kann man nicht einmal sagen,
dass dieses System inconsequent sei ; es ist eben nur die Folge einer
Rechtseinrichtung, vermöge deren das lebenslängliche Geschlechts-
monopol sanctionirt wird. Lässt man einmal die Eingehung eines
Rechtsverhältnisses zu, in welchem, wie selbst die nichtjuristische
Sprache verräth, der „Besitz" des Weibes oder, mit andern Worten,
die volle und ausschliessliche Herrschaft über die geschlechtlichen
Eigenschaften und Functionen den Gegenstand des Rechts bildet,
so wird man auch jene Consequenzen ziehen und sowohl die unmittel-
bare als auch die mittelbare Erzwingung gutheissen und gerichtlich
unterstützen müssen. Die bei manchen juristischen Schriftstellern
beliebte Berufung auf die mehr sittliche als eigentlich juristische
Natur der fraglichen Verhältnisse ist Angesichts des geltenden
Systems der historisch überlieferten Ehegestaltung nichts weiter als
eine Umgehung der Schwierigkeiten des Eherechts und eine Aus-
flucht, durch welche die Widersprüche des veredelten natürlichen
Gefühls «nd der Grundlagen des wirklichen Rechtsinstituts umnebelt
— 291 —
werden sollen. Der sittliche Anschein, mit dem man auf diese Weise
der schärferen Untersuchung auszuweichen gesucht hat, ist ein Ver-
tuschungs- und Beschönigungsmittel gewesen, mit dem man sich
und Andern gleichsam sittenheuchlerisch die entscheidenden Frage-
punkte verhehlte und so der Nothwendigkeit einer klaren Antwort
möglichst weit aus dem Wege ging.
12. In Wahrheit soll die Ehe allerdings ein Gebilde der Sitte,
aber eben darum auch in der Hauptsache kein Institut des Zwangs-
rechts sein. Geschichtlich ist sie bisher in allen ihren auf ein Weib
oder mehrere gerichteten Gestalten eine geordnete, aber im Sinne
der Unterdrückung geordnete Form der dauernden Geschlechtsgemein-
schaft gewesen. Jedoch sind Ausdrücke wie Gemeinschaft und Zu-
sammenleben der Geschlechter für den Gesammtverlauf der Geschichte
des Instituts insofern noch zu edel, als durch sie die Einseitigkeit
des Eherechts, die eine Aneignung des Weibes, aber keine eigent-
liche Vergesellschaftung mit ihm darstellte, leicht im Sinne besserer
Zukunftsgedanken umgedeutet und so in ihrer wahren historischen
Beschaffenheit verhüllt wird. Der Ehebruch ist zwar in den neuem
Gesetzgebungen so aufgefasst, dass er auch auf den anderweitigen
Geschlechtsverkehr der Männer bezogen wird; indessen ist diese
Gleichheit nur scheinbar und künstlich gezwungen. Die alten Ord-
nungen waren natürlicher und offener. Auch passten sie weit besser
zur Zwangsehe, als die moderne Seheinheiligkeit, die ein gleiches
Maass anzuwenden vorgiebt, wo Natur und Verhältnisse es Angesichts
des Zwangsinstituts nun einmal nicht gestatten. Der Geschlechts-
verkehr der Männer ausserhalb der eignen Ehe ist gar nicht wirk-
sam zu hindern oder zu überwachen und hat auch nicht wie der-
jenige des Weibes die materiell sehr wichtige Folge, die eigne Familie
mit Kindern fremder Abstammung zu untermischen und so alle An-
nahmen über die Vaterschaft unsicher zu machen. In ihrem alten
Geist und Bestände wird in der That die ganze Familienverfassung
durch den weiblichen Ehebruch eingerissen, während das entsprechende
Verhalten des Mannes ganz spurlos bleiben und im äussersten Fall
nur eine Privatbelastung nach Aussen mit Verbindlichkeiten für un-
eheliche Kinder mit sich bringen kann. Die Prostitution gilt in der
auf Verkauf des Menschen au den Menschen gegründeten Unter-
drückungsgesellschaft als ^selbstverständliche Ergänzung der Zwangs-
ehe zu Gunsten der Männer, und es ist eine der begreiflichsten, aber
auch bedeutungsvollsten Thatsachen , dass es etwas Aehnliches für
19*
— 292 —
die Frauen nicht geben kann. Die Kluft bleibt hier also Angesichts
der Zwangsehe zwischen den Folgen des Verhaltens beider Ge-
schlechter schon von ^Natur eine so grosse, dass eine wahrhafte Aus-
gleichung der Pflichten nur mit der Abschaffung eben jener Zwangs-
ehe denkbar ist. Nach der historischen und dem Wesen des Gewalt-
instituts allein entsprechenden Auffassung giebt es einen eigentlichen
Ehebruch nur auf Seiten des Weibes, und der Fremde ist auf eigne
Hand nur Störer des Besitzrechtes, übrigens aber Theilnehmer an
dem Hauptvergehen. Auf den Mann aber, der in der eignen Ehe
die geschlechtliche Ausschliesslichkeit nicht einhält, findet der natür-
lich geschichthche Begriff keine Anwendung. Der Mann verletzt
das, was man auch an ihm eheliche Treue nennt, und macht je
nach den vorherrschenden Begriffen die natürliche oder künstliche
Eifersucht des Weibes mehr oder minder rege. Man muss indessen
sorgfältig zwischen der naturwüchsigen Eifersucht, die auf wirklicher
Affection beruht, und jener mehr künstlichen unterscheiden, die nur
die Verletzung eines wirklichen oder vermeinten Rechts, gleich der
jedes andern Anspruchs oder Besitzes, überwachen will. Die Liebe
vor der Ehe zeigt uns jene noch reih natürlichen Bestandtheile der
Eifersucht, die ja unsern frühern Lehren gemäss in der Oekonomie
der menschlichen Beziehungen als unentbehrliche Gestaltungskraft
wirken und grade für eine wahrhaft sittliche Ordnung der Vereini-
gung der Geschlechter mit ihrer begrenzenden und beschränkenden
Function gar sehr ins Gewicht fallen müssen. Dagegen ist die ehe-
liche Eifersucht innerhalb der Zwangsehe stets von dem Gedanken
eines eigentlichen Rechtsanspruchs ausschliesslicher Art getragen.
Sie schmeckt bei dem Manne ein wenig nach dem Eifer, mit welchem
auch anderer Sachbesitz gegen Beeinträchtigung gehütet wird; bei
dem Weibe aber ist sie ein Festhalten au der Ausschliesslichkeit der
Gunst und in gröberer Weise auch wohl eine Sorge um die Ge-
schlechtsbefriedigung, für die nicht, wie bei dem Manne, eine Er-
gänzung leicht und gefahrlos zu finden ist. Die Störung nun, welche
der Mann durch Erregung dieser letztern Art von Eifersucht in die
Familie bringt, ist nicht nur etwas Zufälliges, dem thataächlich meist
ausgewichen wird, sondern auch etwas, was in so verschiedenen
Graden vorhanden sein kann, dass es sich nur in den äussersten
Fallen einigermaassen, und auch dann nur annähernd, mit dem Un-
heil vergleichen lässt, welches durch die Fehltritte des Weibes ziem-
lich sicher zu gewärtigen sein wird. Will mau die Rechtseinseitigkeit
— 293 -
der Zwangsehe vertheidigen, so sollte mau auch soviel Offenheit und
Muth haben, einzugestehen, dass hier der Ehebruch wesentlich nur
als eine Verletzung des am Weibe erworbenen Rechts vorhanden
sein könne.
13. In der ünterdrückungsgesellschaft ist die Ehe eine wirth-
schaftliche Versorgung für das Weib, und die Familie die entschei-
dende Hauptveranstaltung zur Ernährung und Erziehung der Kinder.
Setzt man ein Gemeinwesen voraus, in welchem das Weib so gut
wie der Mann wirthschaftlich selbständig ist und gleich ihm in der
Gesellschaft eine selbstgenugsame und mit dem gehörigen Unterhalt
verbundene Function übt, ja auch in den Fällen von Krankheit,
Hülflosigkeit, Altersschwäche oder sonstiger Unzulänglichkeit in
gleicher Weise wie sonst unterhalten wird, — setzt man eine solche
Wirthschaftscommune voraus, in der dann auch zugleich für die
ünerwachsenen Tisch, Schule und Schutz nach bestimmten Regeln
zugänglich sind, so kommen die hauptsächlichsten Interessen, unter
deren Einwirkung sich heute auch der schwächere Theil in die
Zwangsehe ergeben und selbst an ihren unleidlichsten Gestaltungen
im einzelnen Fall festhalten muss, gar nicht mehr in das Spiel. Ja
selbst die Rücksicht auf die Kinder steht . alsdann der freien und
wahrhaft sittlichen Gestaltung der Ehe nicht entgegen. Die Mutter
ist in einem solchen Gemeinwesen für die Zeit der natürlichen Un-
mündigkeit auch die natürliche Erzieherin der Kinder. Diese Periode
mag, wie im alten Römischen Recht, bis zur Pubertät, also etwa
bis zum 14. Jahre reichen. In der freien Gesellschaft wird nicht
nur die mütterliche Sorge, sondern auch der mütterliche Schutz bis
dahin genügen , und namentlich werden die guten Schuleinrichtungen
und die mit ihnen verbundenen Erziehungsvorkehrungen dahin wir-
ken, dass der gelegentliche Mangel, der sich sonst in einzelnen
Fällen bezüglich des Ansehens . der Mutter den älteren Knaben gegen-
über herausstellen könnte, gehörig ergänzt und nöthigenfalls durch
directe öffentliche Erziehung unschädlich gemacht werde. Der väter-
liche Beistand wird naturgemäss in der ersten Zeit da nicht fehlen,
wo eine freie, der Sitte angehörige Ehe vorhanden ist, und dieses
Vorhandensein wird grade in der freien Gesellschaft, in welcher die
Prostitution, d. h. der Verkauf der Geschlechtseigenschaften , eine
Unmöglichkeit ist, die umfassende und nur von wenigen Ausnahmen
durchkreuzte Regel bilden. Dieser Beistand des Mannes ist unter
allen Verhältnissen auch für das Weib und zwar besonders in den
— 294 —
Zeiten der Geburten moraliscli von Wichtigkeit, aber in der freien
Gesellschaft, welche für die Zustände der Hülflosigkeit in jeder
Richtung Fürsorge triflFfc, auch bezüglich der Gemüthsrücksichten
allenfalls entbehrlich. Wo der Mensch an dem nächsten Kreise ge-
sellschaffchch einen im edelsten Sinne des Worts humanen Rückhalt
hat, da mag er den Mangel der engsten Beziehungen zwar nicht
völlig ersetzt finden, aber doch leichter verschmerzen. Allerdings
giebt es keinen vollständigen Ersatz für die individuelle Liebe und
Sorge; aber es handelt sich auch hier nur um die Frage, was an die
Stelle des früheren Zwanges trete, der wahrlich auch keine Bürg-
schaft; der freiwilligen und aufrichtigen Liebe einschloss. Fehlt der
Vater für die spätere Zeit der Erziehung und Leitung, welche mit
der beginnenden Geschlechtsfähigkeifc eintreten muss, so ist es in
der freien Gesellschaft sehr leicht, seinen Antheil an der natürlichen
elterlichen Vormundschaft durch öffenthche Organe wirksam zu er-
setzen, da die Enge und Durchsichtigkeit des politischen Zusammen-
hangs der kleinen Gesellschaftscommunen eine nachhaltige und ver-
lässliche Wahrnehmung der Angelegenheiten des Einzelnen ermöglicht.
Was aber das Recht des Vaters auf die natürliche Vormundschaft
anbetrifft, so hängt es . selbstverständlich von einer unbestrittenen
wirklichen Vaterschaft ab und kann der Regel nach nur in der
freien sittlichen Ehe als ohne Weiteres vorhanden anerkannt werden.
Man wird sich jedoch überhaupt derartige Verhältnisse nicht nach
den Interessen des heutigen Familienrechts zu denken haben. Die
Vermögensrücksichten fallen mit der Bedeutung des Erbrechts für
Wirthschaft und Existenz so gut wie fort; denn es kann sich
äusserstenfalls nur um die Uebertragung von massigen Anhäufungen
für die Consumtion, aber nicht von grossen Mitteln für die Pro-
duction handeln. Das Verhältniss zum Grund und Boden, zu den
Gebäuden und zu den Arbeitsmitteln ist ein publicistisches und regelt
sich daher nicht nach den Grundsätzen des heutigen Privateigenthums
und demgemäss auch nicht nach denen des Familien- und Erbrechts.
Die heutigen Familienrechte auf die Personen verlieren mit den
Zwangscönsequenzen ebenfalls ihre Bedeutung, und die Ausübung
von dem, was in der frei sittlichen Ehe und der entsprechenden
Familie an ihre Stelle tritt, wird zu einer gesellschaftlichen Function
fundamentaler Art. Die freie und gleiche Ehe ist die von der Sitte
aufrechterhaltene Grundvereinigung der Geschlechter in individueller
Liebe und Fürsorge für die Nachkommenschaft. Wo diese Sitte
— 295 —
selbst die etwa entstehenden Streitigkeiten' nicht in freier Einigung
ausgleicht, da sorgen die politischen Functionen der Gesellschaft
nicht etwa für eine Zwangsausgleichung, sondern unmittelbar für
die Erziehungsinteressen und zwar annähernd so, als wenn die Ehe
und die unentscheidbaren Familienrechte nicht vorhanden wären.
14. Nirgend hat das Problem der einheitlichen Leitung gemein-
samer Angelegenheiten mehr Schwierigkeiten als in der Ehe, und es
ist bisher in erträglicher Weise nur durch die Anerkennung der
Oberherrschaft des Mannes und mithin nur einseitig gelöst worden.
Die sittliche Ehe in der freien Gesellschaft kennt, wie die letztere
überhaupt und in allen Gebilden, durchaus keine Vorrechte des
Mannes. Die Vergesellschaftung auf gleichem Fuss ist auch in der
freien und natürlichen Ehe der zukünftigen bessern Socialität das
Grundprincip. Glücklicherweise müssen die Conflicte unter Voraus-
setzung der neuen socialitären Gebilde im Rahmen des rein Mora-
lischen verbleiben, und hier werden die gegenseitigen Sympathien
und Interessen das den Veruneinigungen vorbeugende oder über sie
hinweghelfende Band abgeben. Die Functionentheilung in der Er-
ziehung wird nicht schwer fallen und übrigens werden die gegen-
seitigen Anbequemungen auch weit weniger schwierig sein, wenn
von der einen Seite nicht mehr die besondere Anmaassung eines
vermeintlich naturberechtigten üebergewichts und eines privilegirten
Willens ausgespielt werden kann. Um gar kein Missverständniss
offenzulassen, sei hier noch besonders darauf hingewiesen, dass die
sittliche Ehe der freien Gesellschaft ein häusliches Beisammenleben
zwar der Regel nach mit sich bringen wird, aber keineswegs stets
zur unumgänglichen Nothwendigkeit macht. Unter Umständen wird
die äusserliche Trennung, deren sich in verkehrter Anwendung jetzt
der besondere Luxus der Reichen und Hochgestellten erfreut, in
heilsamer Gestaltung dazu dienen können, den Verkehr unabhängiger
zu machen und individuell zu veredeln. Die Individualisirung des
Lebens erheischt oft für jeden Theil ein Reich für sich und eine
auch thatsächliche Selbständigkeit in den sogenannten Kleinigkeiten
oder besondern Gewohnheiten des Daseins. Auch die blos indirecte
Nöthigung, selbst mit dem nächsten Herzensangehörigen bei jeder
noch so untergeordneten Lebens äusserung in Berührung zu kommen,
wird für beide Theile lästig und ergiebt wahrlich kein Ideal einer
freien und schönen Existenz. Man muss einsam sein und sich zeit-
weihg dem Verkehr entziehen können, wenn der missliebige Zwang
— 296 —
nicht die Reize der edleren Geselligkeit beeinträchtigen und die allzu
enge Gemeinschaft theilweise zu einer Last machen soll.
Unter den heutigen Gesellschaftsverhältnissen uud überhaupt
unter jeglichem ünterdrückungsrecht ist die freie, rein sittliche Ehe
schon der Versorgungsrücksichten wegen eine Unmöglichkeit. Die
Frauen selbst haben ein grosses Interesse, sich unter diesem System
sogar gegen allzu leichte Scheidungsmöglichkeiten zu erklären ; denn
unter der Herrschaft der Ausbeutung würden sie es grade sein, die
so zu sagen einem Verbrauch durch die Männer anheimfallen müssten.
Nachdem ihre Reize verblüht oder gar ihre Kräfte in der Familien-
sorge vemutzt wären, liefen sie Gefahr, den Abschied zu erhalten.
Das Einzige, was unter den rückständigen Culturverhältnissen der
Gegenwart geschehen kann , ist eine Wegräumung der letzten Reste
der sogenannten Geschlechtsvormundschaft, indem die Frau juristisch
vollkommen handlungsfähig gemacht und von der Nöthigung befreit
wird, in ihren Rechtshandlungen die Beistimmung und den soge-
nannten Beistand des Mannes für sich zu haben. Uebrigens hängt
die Möglichkeit der bessern und dem Sittenideal entsprechenden Ehe
von der politisch socialitären Umschaffung der Gesammtzustände ab.
Es würden sich die verkehrtesten und widersprechendsten Vorstel-
lungen ergeben, wenn Jemand die Thorheit beginge, die Züge des
von mir entworfenen Bildes in unsere heutige Wirklichkeit über-
tragen und mit derselben vereinbaren zu wollen.
Die Stellung der Frauen ist nicht blos bezüglich der Ehe son-
dern auch im Hinblick auf alle politischen und gesellschaftlichen
Functionen ein Merkzeichen der Cultur oder üncultur. Diejenigen
Gemeinwesen werden die freiesten und edelsten sein, in denen auch
die Unabhängigkeit und Gleichberechtigung des Weibes in .allen Be-
ziehungen einst zur Verwirklichung gelangt sein wird. Auf dem
Wege zu diesem Ziele liegt der gewöhnliche materielle Socialismus,
der sich jedoch vor der naheliegenden Rückständigkeit zu hüten hat,
in blossen Vorstellungen über Schutz und iudirecte Versorgung der
Frauen im Rahmen der Zwangsfamilie hängen zu bleiben. Sonstige
gesellschaftliche und politische Erweiterungen der Frauenrechte inner-
halb der Formen des Gewaltstaats, etwa durch Ertheilung des Wahl-
rechts und durch Eröffnung von mancherlei theils gewerblichen theils
öffentlichen Functionen oder von Aemtem mit gemischtem Charakter,
— . derartige Freiheitsst^iigerungen innerhalb der allgemeinen und
principiellen Unfreiheit haben einigen Reiz und vielleicht auch einigen
— 297 -
Vortheil, indem sie die Unvereinbarkeiten und den Widerstreit in
den Zuständen häufen und so dazu beitragen, die alte Unterdrückungs-
und Gewaltverfassung immer mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Die Natur konnte mit der grossem Belastung des Weibes durch
Schwangerschaft und Muttersorgen nicht unmittelbar die gleiche
Energie der in andern Richtungen erforderlichen Kräfte zur Ver-
fügung stellen, und so musste es der längsten geschichtlichen Ent-
wicklung und den höchsten Culturzuständen einer veredelten Zukunft
vorbehalten bleiben, das Weib auch nach der allgemein mensch-
lichen Seite und in der Theilnahme an den geistig schöpferischen
sowie den höhern gesellschafthchen Functionen zu vollenden. Nur
die Umschaffung der jetzt noch vom Gewaltstaat umklammerten
Elemente zum Gemeinwesen der frei organisirten Gesellschaft wird
auch dem Weibe die Stätte eines allseitig vollkommneren Daseins
bereiten.
Z-^reites Oapitel-
Geschichtsauffassung und CiviKsation.
Zutreffende Gedanken über das Ganze der bisherigen Geschichte
haben wesentlich eine Zukunftsbedeutung. Es ist der Trrthum einer
falschen und zwecklosen Gelehrsamkeit, die Wiederholungen gemeiner
Thatsachen zum Hauptgegenstand zu machen und in dem Wissen
von der Vergangenheit nur eine hergebrachte Notizenloinde ohne
wahrhaften Reiz und ohne echtes Interesse zu pflegen. Andererseits
ist aber auch die Geschichte nicht dazu da, zum Spielwerk für leicht-
fertige Schablonensucht und philosophastrisch eitle Constructionen-
phantastik zu werden oder gar den Auslassungen gemeiner Vorsehungs-
macherei anheimzufallen. Letzteres ist ihr von den religiösen und
theologischen Velleitäten her in einem ekelerregenden Grade wider-
fahren, und Ersteres hat sich in den meist traurigen, stets aber
dürftigen Versuchen zur sogenannten Philosophie der Geschichte nur
zu ungestört bekundet. Die Missachtung der Philosophie der Ge-
schichte ist daher gerecht, und unter dieser Rubrik selbst ist im
19. Jahrhundert nichts Erträgliches zu Tage gefördert worden. Die
besten, wenn auch noch sehr unzulänglichen Schematisirungen sind
— 298 —
von August Comte im Anschluss an Saint Simon, aber nicht etwa
unter dem mit Recht verdächtig gewordenen Titel einer Philosophie
der Geschichte, geliefert worden. Buckles einzig dastehendes Werk
einer Einleitung in die Geschichte der neuem Civilisation ist zugleich
eine Detailforschung des Fachhistorikers und Gelehrten im edelsten
Sinne des Worts. Ihr allgemeiner Gedankengehalt bewegt sich in
der Mitte zwischen der näherliegenden, fast unmittelbar an die be-
sondem Thatsachen angelehnten Reflexion und einer durchgreifenden,
von einer logisch gearteten Weltauffassung getragenen Ideenconse-
quenz. Auf diese Weise hat es die Klippe der gemeinen, nach
einem strengeren Maasse unzurechnungsfähigen Philosophie der Ge-
schichte vermieden und sich überhaupt Verdienste erworben, wie kein
anderes historisches Buch unserer Zeit. Aber weder Comte noch
Buckle haben auf ihren verschiedenen Wegen die höchste Aufgabe
einer rationellen Geschichtsauffassung in Angriff genommen. Der
letztere ist den Thorheiten der gewöhnlichen Geschichtsphilosophie
nur dadurch völlig entgangen, dass er sich beschränkte; und der
erstere hat die verhältnissmässig rationelle und zutreffende Haltung
seiner Conceptionen nur da gewahrt, wo er die nachweisbaren Ge-
staltungsgründe seiner drei Einsichts- und Verfassungszustände inner-
lich und äusserlich nachwies, sich aber derselben nicht als einer
Schablone bediente. Uebrigens ist August Comte bekanntlich von
Ausweichungen in das Gebiet voreiliger Geschichtsconstruction nichts
weniger als frei geblieben. Hiezu kommt noch, dass jene beiden
grössten Vertreter der Sache die entschieden socialitäre Auffassung
nicht erreichten, deren gegenwärtig eine tiefer eindringende Ge-
schichtstheorie nicht entbehren kann. •
Die Geschichte ist eine Fortsetzung der blossen Naturarbeit.
Das Menschenschicksal wird in ihr mannichfaltig ausgeprägt, und
der Gestaltungstrieb des Lebens ergeht sich je nach den Racen- und
Stammesvoraussetzungen sowie nach Maassgabe der umgebenden
Naturverhältnisse und der Verschiedenheit menschlicher Charaktere
in den buntesten Gebilden. Inmitten dieser Vielgestaltigkeit, die dem
Variationsbedürfniss der Empfindungs- und Bewusstseinszwecke dient,
waltet aber auch das allgemeine Gesetz mit seinen universellen For-
men. Das Grundgerüst der menschlichen Verhältnisse wird überall
in wesentlich gleicher Art aufgeschlagen, und der Lebenslauf der
Menschheit zeigt in allen seinen Phasen und Wendungen einen ein-
heitlichen Typus. Wo das Hervortreiben von Lebensformen nur den
— 299 —
alten Kreislauf wiederholt, ist wohl ein gleichsam rhythmisches
Wechselspiel in der Zeit, aber keine eigentliche und fortschreitende
Geschichte vorhanden. Das Interesse und der Reiz liegen nicht blos
in der Neuheit des individuellen, durch die Generationsfolge immer
frisch erweckten Lebens, sondern in den Unterschieden und Wand-
lungen, die sich für die Lebensformen eröffnen. Diejenige schöpfe-
rische Thätigkeit, durch welche nicht blos die alten Verhältnisse
wieder hervorgebracht, sondern neue Elemente und Bildungen in den
bisherigen Zusammenhang eingeführt werden, ist allein im Stande,
dem Dasein stets frischen Reiz zu verleihen und die Kräfte zur be-
wussten, geschichtsgestalteuden Arbeit zu erregen. Wie überall, so
bringt auch hier das Erzeugen und Schaffen die am höchsten ge-
steigerten Lebensgefiihle mit sich, so dass, wenn der Zweck der Ge-
schichte das Leben ist, das Wesen der Geschichte nur in der Her-
vorbringung von Unterschieden und Veränderungen liegen kann, in
denen sich das strebende Wesen, sei es nun der Mensch oder das
geistig begabte Erzeugniss eines andern Weltkorpers, durch immer
neue Erprobungen und Bereicherungen seiner Natur befriedigt.
2. Auch die Natur ist kein blosses Wiederholungssystem, son-
dern eine Abfolge von weitertragenden Scliritten, die zu neuen Ge-
bilden fähren. Durchmisst man den weiten Abstand, der die elemen-
taren und unorganischen Beharrlichkeiten von den regungsvolleren
Gestaltungen trennt, so steigert sich die Wandlungs- und Entwick-
lungsfähigkeit von Stufe zu Stufe. Die Zeiträume, in denen eine
schöpferische Veränderung sichtbar ist, werden immer kleiner, und
sind wir bei- dem Menschen selbst angelangt, so ist es in ihm die
geistige Gestaltungsfähigkeit, in welcher die Fortschritte und neuen
Wendungen in Vergleichung mit den sonstigen Veränderungen seiner
Natur am schnellsten vollzogen werden. In dieser geistigen Regsam-
keit hat daher auch die Geschichte ihre Wurzeln, und man wird so
gut wie nichts von dem bisherigen und ferner absehbaren Verlauf
der menschlichen Angelegenheiten verstehen, wenn man nicht von
der Wahrheit geleitet ist, dass der Erwerb und die Bethätigung von
Einsicht und Geschicklichkeit das Entscheidende ist. Die Aufklärung
des Menschen über die Natur und über sich selbst bestimmt mit
der zugehörigen Entwicklung der technischen Kräfte die verschie-
denen Grade des Culturfortschritts. Die Macht über die Naturkräfte
ist zum grössten Theil nur eine Folge der geistigen Errungenschaften,
und die politische Auseinandersetzung des Menschen mit dem Men-
— 300 —
sehen kann in allen ihren Formationen auch nur das Ergebniss des
grössern oder geringem Mangels an Gerechtigkeitsverständniss sein.
Erst durch die Entwicklung eines deutlicheren Rechtsbewusstseins
werden die Gebilde aufgelöst, die fast ausschliesslich dem wüsten
Macht- und Gewaltspiel ihr Dasein verdanken. Solange das feinere
Verständniss für das veredelte natürliche Recht noch durchschnittlich
fehlte, wurden auch die Verletzungen nicht mit derjenigen moralischen
Pein empfunden, die uns der bewusste Contrast unseres gesteigerten
Gefühls und schärferen Urtheils mit den rohen Verworfenheiten heu-
tiger Rechts- oder vielmehr Unrechtsbrutalität auferlegt. Durch-
schnittlich hat sich die Menschheit in der Hervorbringung ihrer
politischen Lebensformen mit ihrem Innern, d. h. mit ihren jeweiligen
Gedanken und Bestrebungen wenigstens theilweise ins Gleichgewicht
setzen müssen. Wäre der Geist der Einzelnen und namentlich der
Sinn für Gereciitigkeit weniger verworren und weniger stumpf ge-
wesen, so hätten die Einrichtungen den subjectiven Beschaffenheiten
nicht entsprechen und nicht lange standhaltet können. Es liegt in
dieser für die Gesammtmasse der Menschen gültigen Uebereinstim-
mung von innerer Beschaffenheit und äusserlichem, mehr oder minder
gemässigtem Sklaventhum sogar ein gewisser Trost und eine Art von
Versöhnung mit den für die edlere Betrachtung unbedingt miss-
liebigen Thatsachen. Nur der höher entwickelte Mensch empfindet
die Kluft zwischen dem gesteigerten Bedürfaiss und der jeweiligen
durchschnittlichen Beschaffenheit der Zustände. Dies gilt vom Indi-
viduum wie von den Völkern und ganzen Culturgruppen und wird
sich schliesslich an der ganzen Menschheit bewähren. Das äussere
Leiden für die im Bewusstsein Höherstehenden, mögen es nun ver-
einzelte hochstrebende und geistig überlegene Naturen oder ganze
Gruppen und gesellschaftliche Classen sein, wird einigermaassen durch
den Vorzug der bessern Innerlichkeit und durch die Aussicht auf
das Vollkommnere aufgewogen. Wie die schlimmste Seite der Pein
eine ideelle ist, so findet sich auch ihre lindernde Ausgleichung, ja
oft genug mehr als eine blosse Entschädigung in der ideellen Theil-
nahme an dem Leben späterer Generationen. Der Zusammenhang
mit einer besseren Welt hat im Gedanken und Gefühl, welche hier
allein in Frage sind, einen ähnlichen Wirklichkeitscharakter, wie
wenn es sich um jede beliebige naheliegende, die unmittelbaren
Nachkommen oder das Schicksal der eignen Angelegenheiten nach
dem Tode betreffende Voraussicht handelte. Der Mensch lebt wesent-
— 301 —
lieh in Ideen, und wenn eine Erweiterung derselben ihm nach der
einen Seite die Beschränkung fühlbarer macht, so eröffnet sie ihm
nach der andern Seite ein neues Reich volleren Lebens. Die geistige
IVIachtsteigerung, die sich mit der Aufklärung jeder Art, also mit
jeghcher Veredlung des Wissens und Wollens verbindet, schliesst
das Gefühl der überlegenen Genugthuung auch dann ein, wenn die
Verhältnisse des Augenblicks oder einer verfallenden Epoche nur die
Unterdrückung und den zunächst ungleichen Kampf eintragen.
Hierauf beruht die einzig möghche Versöhnung mit dem missliebigen
Theil der geschichtlichen Nothwendigkeiten. Der Hinblick auf die
innere Rache, welche die bewusste Niedertracht der Einzelnen und
der Zustände als ihr Schicksal bis zur vollen Reife austragen muss,
ergiebt die Versöhnung mit denjenigen Thatsachen, die nicht aus-
schhesshch in der durchschnittlichen Stumpfheit und ünzulängUchkeit
ihren Grund haben.
3. Der Satz, dass die geistige Erhebung es ist, wodurch die
fortschreitende Geschichte gemacht wird, und dass die unwillkür-
lichen Veränderungen sowie die technischen Kräfte nur mitwirkende
Factoren oder von dem geistigen Anstoss herstammende Mittel
zweiter Ordnung' sind, liefert uns sofort einen Aufschluss über eine
Gesammteintheilung der Geschichte. Der bisherige Geschichtsverlauf
bildet eine erste Aera, gegen deren uns noch nicht im Einzelnen
bekanntes Ende die grosse Französische Revolution als prophetische
Einleitung eines später umzuschaffenden Daseins und als Ankündigung
einer Abrechnung mit der alten Ueberlieferung ihre praktisch und
theoretisch durchschlagenden Lehren ertheilt. Das neunzehnte Jahr-
hundert bleibt noch wesentlich reactionär, ja es ist es in geistiger
Beziehung noch mehr als das achtzehnte; aber es trägt trotz aller
Rückwirkungen gegen die Aufraffung von 1793 dennoch in seinem
Schoosse die Keime einer gewaltigeren ümschaffung, als sie von den
Vorläufern und den Heroen der Französischen Revolution erdacht
wurde. Der communitäre Socialismus ist im letzten Viertel dieses
Jahrhunderts das weltgeschichtliche Programm. Die Abschaffung
des Cultus und der politischen Vormundschaft sind zugehörige und
gleich wesentliche Punkte des neuen Planes, und die geistige, poli-
tische und wirthschaftliche Emancipation bezeichnet die neue Epoche
des Menschenschicksals» Der Gewalt- und Unterdrückungsstaat ist
als mit dem edleren Menschenthum unverträglich erkannt, und die
neue Wendung besteht eben darin, dass sich an seiner Stelle die
— 302 —
freie Gesellschaft einfuhrt. Die wenigen Jahrtausende, iiir welche
eine historische Rückerinnerung durch ursprüngliche Aufzeichnungen
vermittelt wird, haben mit ihrer bisherigen Menschheitsverfassung
nicht viel zu bedeuten, wenn man an die Reihe der kommenden
Jahrtausende denkt und die unumgänglichen Fortschrittsnothwendig-
keiten erwägt, die sich jetzt schon absehen lassen. Wir haben ein
Recht, uns und die nächsten Generationen als die Träger der ent-
scheidenden Weudungskräfte zu denken, und so befänden wir uns
denn auf der Grenzscheide zwischen zwei völlig von einander ab-
weichenden Theilen des Menschen Schicksals. Die Eintheilungen,
welche die Historiker für die bisherige Vergangenheit belieben,
sinken zu Abgrenzungen zweiter Ordnung herab; denn eine gleich
wurzelhafte UmschafPung, wie diejenige, durch welche die neue
Weltära eingeführt werden wird, ist in der bisherigen Geschichte
nicht einmal annähernd vorgekommen. Der Uebergang von der
reinen Sklaverei zur Lohnarbeit ist eine Kleinigkeit in Vergleichung
mit der Abschaffung des Ablohnungssystems selbst und der damit
verbundenen Ausmerzung des UnWdrückungseigenthums. In geistiger
Beziehung hat aber der Schluss der Aera der Religionen doch etwas
mehr zu bedeuten, als die bisherigen Wandlungen und Kämpfe
innerhalb der religiösen Organisationen. Auch die Yerfassungs unter-
schiede innerhalb der einen, bisher allein verwirklicht gewesenen,
nach irgend einer Seite stets unterdrückerischen Grundgestalt des
Gewaltstaats verschwinden fast zu einem Nichts, wenn man ihnen
gegenüber das Zukunftsbild des Gerechtigkeitsstaats d. h. die Er-
setzung der angemaassten Herrschaft durch die auf freier Wahl be-
ruhende Leitung ins Auge fasst. Das Menschengeschlecht ist als
Ganzes noch sehr jung, und wenn einst die wissenschaftliche Rück-
erinnerung mit zehntausenden statt mit tausenden von Jahren zu
rechnen hat, wird die geistig unreife Kindheit unserer Institutionen
eine selbstverständliche Voraussetzung über unsere alsdann als Ur-
alterthum gewürdigte Zeit unbestrittene Geltung haben.
Für uns, die wir mitten in den Wandlungen stehen, erklärt
sich eine sonst befremdliche Thatsache aus unserm Grundgedanken
der geschichtlichen Haupteintheilung ganz leicht. Die neuem Jahr-
hunderte arbeiten an der Wegräumung der mittelalterlichen üeber-
lieferungen, und die neuste Zeit fühlt sich in den Vertretern ihrer
besten Elemente als die Trägerin einer grundsätzlichen Opposition
gegen die traditionellen Herrschaftsgebilde. In einem gewissen Sinne
— 303 —
ist die Revolution permanent, d.h.. die auf das Edlere gerichteten
Triebkräfte drücken gleich einer gespannten und eingezwängten
Feder gegen die Wandungen der pressenden Institutionen, während
sich die bisherigen Monopolisten der Politik zum letzten Gegendruck
aufraffen. Diese Einverleibung der Revolution in den modernen Ge-
waltstaat, mit dem sie ein Zwillingspaar bildet, ist eine des weiteren
Nachdenkens würdige Thatsache. Gewaltstaat und Revolution ge-
hören zusammen; denn der eine würde ohne die andere nur unter
Voraussetzung geistiger Stumpfheit denkbar sein. Die früheren
untergeordneten Epochen der Menschengeschichte hatten das poli-
tische Bewusstsein und speciell die Gerechtigkeitsideen noch nicht
hoch genug entwickelt, um jenen Antagonismus in seiner vollen
Stärke noth wendig zu machen. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts ist aber die fragliche Kluft vor Aller Augen aufgerissen
und seitdem theoretisch und praktisch immer mehr erweitert worden.
Die Triebkräfte zur Umschaffung, die sich im Widerstreit mit dem
Gewaltstaat befinden, sind integrirende Bestand theile der Zustände
geworden, und in diesem Sinne ist, so befremdlich es zunächst klin-
gen mag, die Revolution eine Institution und so zu sagen ein un-
beabsichtigtes Verfassungselement des Unterdrückungsstaats. Die
erstere kann nur verschwinden, wenn der letztere abgethan ist. In
der freien Gesellschaft hat die Revolution der heutigen Epoche keine
Stätte mehr, weil mit der Ursache auch die Wirkung fortfallen
muss. Der Ünterdrückungsstaat erzeugt auf seinem Boden die Re-
volution als eine Rückwirkung, und anstatt diese Gefolgschaft jemals
loswerden zu können, muss er sich von ihr immer mehr umgeben
finden. Die Unterdrückung wird mit dem helleren Bewusstsein für
diejenigen, welche sie ausüben, schliesslich ein grösserer Fluch, als
für diejenigen, welche sie erleiden.
4. Das Interessanteste in der abgelaufenen Geschichte sind die
politischen Wandlungsgesetze, welche für Staatenexistenz, Gesell-
schaftsverfassung und Völkertod maassgebend wurden. Der Lebens-
lauf eines politischen Gebildes ist unter allen Umständen bemessen.
Es giebt auch hier keine Unsterblichkeit, und allermindestens müssen
Umschaffangen eintreten, die, wenn sie im günstigsten Falle auch
die Stoffe conserviren, doch die Formen oder wesentliche Theile der-
selben zerstören, um sie durch neue Gruppirungen und Organisa-
tionen zu ersetzen. Was wir eben Stoffe nannten, sind die von der
Natur und Cultur geformten individuellen Menschenexistenzen mit
— 304 —
ihren Raceu- und Sfcammeseigenthümlichkeiten. Auch sie werden
von den allgemeinen Mächten der Vergänglichkeit und Umbildung
nicht unerheblich ergriffen; aber die gewöhnlichen Fälle von Staaten-
untergang berühren diese tieferen Grundlagen und diese Träger-
schaffcen der individuellen Existenz nicht so häufig und nicht so eng,
als man gewöhnlich voraussetzt. Allerdings sind Völkertypen und
Sprachen ausgestorben; aber zu diesem Verschwinden hat es mehr
bedurft, als des blossen Staatentodes. Auch die Völkermischungen
würden hiezu allein noch nicht ausgereicht haben, wenn nicht das
innere natürliche Gesetz auch diese tieferen Wurzeln des Daseins
beträfe und, auch abgesehen von den politischen und gesellschaft-
lichen Schicksalen, jede Ausprägungsform des Daseins zum Ziele
fährte und alsdann nöthigte, andern Gebilden Platz zu machen. Die
Hindenmg der schwächeren Theile an der Fortpflanzung und die
hiedurch beherrschten Blutmischungen haben bei der Völkermengung
zu ungleichem Recht allerdings eine sehr grosse Einwirkung üben
müssen. Indessen hüte man sich, ohne Weiteres anzunehmen, dass
die Macht der erobernden Elemente soweit gereicht habe, auch die
physiologischen Nothwendigkeiten ausschliesslich zu ihren Gunsten
auszubeuten. Viele Bestandtheile und Eigenthümlichkeiten sind für
eine Zeit lang niedergedrückt und in der breiten einflusslosen Masse
gleichsam verborgen geblieben. Sie sind von der Bühne verdrängt,
aber darum nicht aus dem Dasein verschwunden. Sie vegetireu still
in dem breiten Unterbau der oben herrschenden Gesellschaften und
Staaten und müssen sich wieder in vollerer Lebensregung bethätigen,
sobald die an der Oberfläche spielenden Gewalten ihr verhältniss-
mässig kurzlebiges Schicksal erfüllt haben.
Wenn das Vernichten zum Schaffen und .geradezu der Tod zum
Wesen des Lebens gehört, wie dies in der That der Fall ist, so
darf man freilich niemals auf absolut feste Gebilde rechnen, ja sie
nicht einmal wünschen. Auch die Gestalten innerhalb der freien
Gesellschaft der Zukunft werden und sollen dem Wechselspiel nicht
entgehen, in welchem der Keiz des Lebens liegt. Ja sogar die heut
erdachte freie Gesellschaft selbst ist zwar für uns die letzte abseh-
bare Form, deren Einzelheiten wir mit dem Gedanken einigermaassen
zu bestinmien vermögen; aber sie ist nicht das letzte Maass aller
Möglichkeiten (ies Gemeinlebens, imd es ist au sich selbst nicht un-
denkbar, dass einst die moralisch vervollkommnete Individualität
auch ohne besondere schützende Vergesellschaftung existiren und
— 305 —
sich auf diejenigen rein positiven Vorkehrungen beschränken könnte,
durch welche das planmässige Zusammenwirken productiver Art unter
allen Umständen aus rein technischen Gründen vermittelt werden
muss. Wir sind also weit davon entfernt, in der umgeschaffenen
Zukunft die neuen Gebilde für unsterblic'h zu erklären. Allerdings
sind auch schon in der bisherigen Geschichte die entlegensten All-
gemeinheiten des Daseins, wie sie von der Menschennatur überhaupt
mit sich gebracht wurden, dauernd gewesen. Stets hat es irgend
welche, wenn auch unterdrückerische Formen der politischen und
wirthschafthchen Kraftvereinigung und ebenso irgend welche., an
Recht und .Unrecht theilhabende Regelungen des Geschlechterverkehrs
gegeben. Jedoch ist diese Art von Dauerbarkeit eines ganz all-
gemeinen, inhaltarmen und die volleren Lebensgebilde noch gar nicht
berührenden Schematismus kein stichhaltiger Einwand gegen die
universelle Sterblichkeit der bestimmteren und lebensreicheren Hervor-
bringuugen. Auch in der Natur hegt allen Organisationen von der
niedrigsten bis zur höchsten ein einfacher Typus zu Grunde, der in
allen Combinationen und Wandlungen beibehalten wh'd; aber so
wichtig dieser Typus auch für die Logik der Dinge ist, so hat man
an ihm doch nicht das gesteigerte und manuichfaltig erfüllte Leben,
da er ja schon in der untergeordnetsten Regung der unvollkom-
mensten Pflanze in seinem allgemeinen Wesen voll und ganz anzu-
treffen ist. Das Gesetz der Zusammengehörigkeit von Leben und Tod
oder überhaupt von Schöpfung und Vernichtung reicht soweit, als
die Regungen des Lebens und Schaffens selbst. Es waltet ausnahmslos
und gestattet dennoch einerseits eine relative Beständigkeit und an-
dererseits eine Erhaltung der einmal gewonnenen Fortschritte in der
Ausprägung der zusammengesetzteren und mithin reicheren Lebens-
gestalten. Hierin liegt kein Widerspruch ; denn die Erhaltung
bewerkstelhgt sich eben selbst nach dem Schema des Wechselspiels
individuellen Lebens und Sterbens. Die Fortpflanzungen und Ueber-
tragungen setzen bei ihren Compositionen umbildende und verschieden
mischende Kräfte ins Spiel, so dass die Arbeit der Reproduction auch
zugleich die Production und mit dieser die Ausmerzung des Unbrauch-
baren einschliesst.
5. Gilt nun die eben gekennzeichnete Nothwendigkeit für das
universelle Menschheitsschicksal, so giebt es für die von uns ange-
nommene erste Aera der Menschen geschichte, also für die ganze bis-
herige Vergangenheit und einen Theil der Zukunft, noch ein bestimm-
Dühring, Cursus der Philosophie. 20
— 306 —
teres Gesetz, welches über die Staaten nicht blos den Tod, sondern
sogar den gewaltsamen Tod als eine innere IS^othwendigkeit verhängt
und sich bis jetzt auch stets sichtbar genug zur Ausführung gebracht
hat. Man hat sich seit den Zeiten des Griechischen Alterthums
bemüht, eine Art Entwicklungs- oder Kreislaufegesetz aufzustellen,
nach welchem die Regierungsformen der Staaten auf- und auseinander
folgen und abspielen, bis innere Verwesung oder äussere Gewalt mit
den Abgelebtheiten ein vollständiges Ende machen. In der neuem Zeit
hat Macchiavelli der Idee eines sich in solchem Kreislauf erschöpfenden
Lebens mit besondemi Nachdruck gehuldigt. Was mau aber davon
in der That durch die bisherige Erfahrung sicher feststellen und
zugleich auch innerlich als Nothwendigkeit begreifen kann, ist äusserst
wenig. Jede Aristokratie trägt die Corruption in sich und concen-
trirt sich schliesslich zur schamlosesten Oligarchie, deren nackte
Ausbeuterei wiederum einer noch stärkeren ausbeutenden Kraft,
nämlich einem die Gewaltthätigkeit centralisirenden und mit der
Volksmasse coquettirenden Despoten anheimfällt. Mit dieser letzten
Cäsaristischen Centralisation erfüllt sich das Schicksal der Reiche in
der allgemeinen Verwesung der vorher herrschenden Elemente und
Classen. Sollen neue frische Gebilde emporwachsen, so müssen sie
aus dem Untergrund ihre Nahrung ziehen; aber die Geschichte hat
bis jetzt von einem Vorgang dieser Art kein einziges grosses Bei-
spiel aufzuweisen. Griechenland ist Alexandristisch und das gewaltige
Römerreich Cäsaristisch zu Grunde gegangen. Aus der Geschichte
selbst können wir mithin für unsere Vorstellung, dass die heutigen
Centralisationen die moderne Menschheit nicht zum politischen
Leichnam machen werden, wenigstens unmittelbar nichts Tröstliches
entnehmen. Hier ist die Grenze, bei .welcher die Geschichte mit
ihren thatsächlichen Lehren unzulänglich wird und jenes Vorurtheil
aller Arten von Historismus zusanmienfällt, als wenn sich für Gegen-
wart und Zukunft aus der Geschichte Alles entscheiden lassen müsste.
Man versteht sehr wenig von dem Wesen der Geschichte, solange
man noch glaubt, in der Gruppe von Erfalirungen, die sie uns vor
Augen legt, unmittelbar die Hauptsache zu besitzen. • Eine echte
Geschichtswissenschaft, wie sie zum Theil auch schon Buckle an die
Stelle der blossen Geschichtskunde und der unverdauten Geschichts-
gelehrsamkeit zu setzen unternahm, richtet sich auf die* Bestandtheile
und Kräfte selbst, aus denen die besondern Thatsachen entspringen.
Sie macht daher auch fähig, durch Combination und Schlüsse über
— 307 — l
die schon zu Thatsacljen gewordenen Gestaltungen hinauszugreifen
und neue Gebilde im Gange der Dinge vorauszusehen. Die gedanken-
arme, an der unzergliederten Erfahrung haftende Beschränktheit des
gewöhnlichen Historismus begreift die Nothwendigkeit der feineren
Operationen nicht. Sie glaubt mit ihrer unmittelbaren Wahrnehmung
der oberflächlichen Physionomie auszukommen und tritt sogar jeder
freier beweglichen Auffassung grundsätzlich entgegen. Auch wenn
dieser falsche' Historismus nicht im Dienst und Lohn des Gewalt-
staats stände, und wenn auch die Mehrzahl der Historiker wesentlich
etwas Anderes wäre als eine Beamtenschaft, welche vorzugsweise der
dynastischen Historiographie und der Verherrlichung der Regierungen
ergeben sein soll und ist, — wenn also auch nicht schon die Stel-
lung auf die träge Oberflächlichkeit und Einseitigkeit der Auffassung
hinwiese, so würde dennoch der rein wissenschaftliche Mangel einer
rationellen bis zu den Elementarkräften vordringenden Geschichts-
zergliederung mit jeder ernstlichen Beschaffung maassgebender Lehren
unverlräglich sein. Wer aus der Geschichte mehr Wahrheit ziehen
will, als in den nackten Thatsachen und unmittelbaren Vergleichungs-
föllen enthalten sein kann, muss mit den Factoren der geschicht-
lichen Composition selbst rechnen lernen. Wie arm würde unser
Wissen von der Natur sein, wenn man sich mit den unmittelbaren
Erfahrungsthatsachen und einem äusserlich beobachteten Schema-
tismus begnügt hätte ! Der Geschichte widerfährt noch immer diese
traurige Beschränkung, und das Wenige, was freiere und überlegene
Geister in diesem Fach an zerlegender Untersuchung annäherungs-
weise geleistet haben, pflegt immer wieder in dem sich breit machen-
den Geschichtströdel des gemeinen Schlages den Augen des Publicums
entrückt zu werden. Die wahre Geschichtswissenschaft muss einiger-
maassen der Mechanik gleichen und auf die einfachen bewegenden
Kräfte selbst gerichtet sein. Alsdann wird ihr auch die blosse Thatsäch-
lichkeit als solche nur das Erste, aber nicht das Letzte sein, und sie
wird über die Zukunft rationell zu urtheilen verstehen. Die geistige
Macht, welche von einer solchen Geschichtswissenschaft als das
stärkste Motiv der Gestaltungen anerkannt wird, lässt es in der That
begreifen, wie der moderne Gewaltstaat und namentlich unsere neuste,
zugleich einen halben Cäsarismus und eine Caricatur desselben dar-
stellende Phase zwar nicht in sich selbst, wohl aber in den unter-
drückten Elementen die Keime lebensfrischer Gebilde umschliessen
könne. Im Alterthum waren es ernsthafte Republiken, welche der
20*
— 308 —
Verwesung anheimfielen; in der neusten Zeü; sind es Monarchien,
welche sich zersetzen oder sich, wie jenseit des Oceans, in wurm-,
stichige Bourgeoisrepubliken verwandelt haben. Dieser Unterschied
ist aber nicht durchgreifend genug, um uns gegen etwas Aehnliches
oder gar noch Schlimmeres zu schützen, als die antike Fäulniss des
Griechen- und Römerthums an universeller Unfreiheit und Corrup-
tion mit sich gebracht hatte. Könnten wir nicht auf die hohe ße-
wusstseinsentwicklung und auf die ideellen Mächte vertrauen und
von ihnen die Belebung des trägen Stoffs und die zur Regenera-
tion erforderlichen Massenbewegungen als einfache Wirkungen der
geistigen Naturgesetze erwarten, so würden unsere Vorwegnahmen
einer edlen Entwicklung mindestens für die stetige und absehbare
Reihe der. Ereignisse nicht passen. Diese Zukunftsbilder würden in
eine Ferne rücken, vor deren Erreichung auf einem langen Wege
das allseitige Absterben der heutigen Welt dazwischenträte und
gleichsam ausgeduldet werden müsste. In einer solchen Gestalt aber
brauchen wir uns das Menschheitsschicksal glücklicherweise nicht zu
denken, wenn auch immerhin die Versuchung dazu oft genug nahe-
gelegt werden mag. Mitten in den Rahmen des Unterdrückungs-
staats hinein können sich nach und nach Gebilde einschieben, die
nicht nur ihm selbst verhängnissvoll werden, sondern auch positiv
die freie Gesellschaft vorbereiten. Was aber die Wegräumung des
historischen Gewaltstaats anbetrifft, so muss er unter allen Umstän-
den seiner eignen Logik, nämlich derjenigen der Missachtung der
Gerechtigkeitsmotive anheimfallen. Diese Logik besteht des Nähereu
darin, dass schliesslich in ihm eben nur die Gewalt, aber nicht mehr
der Schein des Moralischen gesehen wird, und dass er demgemäss
durch die Unzulänglichkeit dieser Gewalt zusammenbricht, sobald
ihm die Kraftelemente, die er sonst noch mit ideellen Mitteln seiner
eignen einsichtserdrückenden Art bannen konnte, den Dienst ver-
sagen.
6. Die Möglichkeit, dass die Herrschaft von einem Einzigen au
Mehrere oder von einer geringeren Zahl an eine grössere zurückfalle,
ist unserer Anschauungsweise gegenüber voq untergeordneter Bedeu-
tung. Uns' sind die historischen Demokratien ebenfalls Gewaltherr-
schaften, da sie stets eine unterdrückte Schicht unter sich hatten.
Auch die Misch Verfassungen der neusten Zeit, die man nach Eng-
lischem Muster vorzugsweise Constitutionen nennt, gelten uns nur
als Bastardformen und Uebergangscoufusionen. Ihr Werth besteht
k
— 309 — ^
eben in der Steigerung der Haltlosigkeit der von den alten Haupt-
formen her überlieferten Zustände. Sie sind überdies sehr kurzlebig;
denn hinfällige Compromisse sowie Scheineinrichtungen und corrup-
tive .Umwege der innern und äussern Politik sind ihr Wesen. Sie
fallen daher bald ausgeprägteren Gestalten anheini, die trotz aller
Hohlheit doch den Vorzug haben, durchgreifender verfaliren zn können.
Von dieser Art ist das Zerrbild des Cäsarismus, welches die neuste
Franzosische Geschichte inaugurirt und auf andere Staaten fortge-
pflanzt hat. Das Wesen alles Cäsarismus besteht darin, die Form
zu sein, in welcher alte verdorbene Verfassungen vollends unter-
gehen, um durch die nniverselle Verfassungslosigkeit, nämlich dm:ch
das willkürliche Walten eines Einzelnen ersetzt zu werden. Etwas
Scbeinräcksicht auf die materiellen Privatinteressen und etwas Gefall-
süchtelei den Volksmassen gegenüber ist hiebei stets im Spiele. Die
verwahrlosten Existenzen aus den höhern Gesellschaftsschichten bilden
die natürlichen Verbündeten aller Arten und Spielarten von Cäsa-
rismus. Die vollständige Entblössung der nackten Gewalt von allem
ihr früher vnrksam anhaftenden Sittlichkeitsschein vollzieht sich sogar
mit jener ärmlichsten Spielart des Cäsarismus, die man den ministe-
riellen Zwittercäsarismus nennen könnte, weil sie es noch nicht ein-
mal zur Vertauschung der alten Dynastie mit einer nenen, aus der
Militairdictatur hervorgegangenen Machthaberschaft gebracht zu haben
braucht, um mit den Resten des guten Glaubens an die älteren In-
stitutionen aufzuräumen und die Regierungsmittel auf brutale Exe-
cutionen und Willkürmaassregeln herunterzubringen.
Es liegt etwas innerlich Befreiendes und wenigstens in dieser
Beziehung Befriedigendes darin, dass sich das Uebel der Cäsaristischen
Gestaltung der Zustände am allerwenigsten dem Geist in einer mora-
lisch bindenden Weise aufzuerlegen vermag. 'Es ist die Berufung
auf die militairischen Executionsmittel, wodurch sich diese Herrschafts-
art fast ansschliesslich und ziemlich unverhüllt behaupten muss.
Hiedurch schwindet jede Achtung, die mit Sitte und Gerechtigkeit
etwas zu schafiFen hätte, nnd es bleiben nur die Furcht vor der phy-
sischen üebermacht und die von den gemeinsten Interessen aus-
gehende Benutzungstendenz übrig. Die Unterwerfung unter die
willkürliche Gewalt beruht alsdann einerseits auf dem körperlichen
Zwang, der als solcter überall demaskirt ist und nicht mehr unter
irgend einem Heiligenschein von Pflicht verschleiert werden kann,
und andererseits auf dem Reiz der gröbsten Ausbeutungsinteressen,
» — 310 -
deren Speculation auf die Gunst der Willkürgewalt gerichtet ist. Unter
solchen Umständen ist es nicht schwer, dem Trug der Sittlichkeits-
heuchelei zu entgehen, und sogar die noch rückständigen Volks-
massen lernen bald die Hohlheit und Unzuverlässigkeit des so-
genannten Rechts durchschauen. Das Vertrauen, welches der alte
Mechanismus der Rechtspflege noch immer in wesentlichen Richtungen
für sich hatte, sinkt zu einer Wahrscheinlichkeitsrechnung mit blossen
Interessen herab, and es wird von vornherein angenommen, dass für
eine auch nur relative Gerechtigkeit im Sinne der ehrlichen An-
wendung der Gesetze einzig der geringe Spielraum des politisch oder
sonst für die machthaberische Willkür Gleichgültigen übrig bleibe.
Jedoch auch über die unzuverlässige Ausfüllung dieses engen Spiel-
raums giebt man sich bald keinen Täuschungen mehr hin; denn
man lernt nur zu rasch, dass die allgemeine Demoralisation und
Creaturenhaftigkeit in der Gesellschaft auch noch andere Ablenkungen
mit sich bringt, als diejenigen, welche blos die Interessen der Macht-
haber berühren. Das ganze System gesellschaftlicher Beziehungen
entwickelt alsdann seine corrumpirenden Einwirkungen, und das
einzig Tröstliche in diesem allgemeinen Schiffbruch der öffentlichen
und privaten Moral bleibt die Thatsache, dass auch die falschen
geistigen Bindemittel mitaufgelöst und das Individuum wenigstens
innerhch zur Freiheit des Durchschauens alles moralischen Truges
emancipirt und so fähig gemacht wird, in einer neuen und bessern
Richtung höhere sittliche Antriebe aufzunehmen.
7. Es drängt sich nicht blos für die gekennzeichneten Zustände,
sondern für den gesammten Verlauf der bisherigen Geschichte und
absehbaren Zukunft die Frage auf, was die hervorragenden Indivi-
dualitäten in Vergleichung mit der breiten elementaren Massenwirkung
allgemeiner Gesetze zli bedeuten haben. Auf der einen Seite steht
die nebelhafte Geschichtsromantik eines Carlyle mit ihrem über-
spannten Heroencultus , und auf der andern Seite findet sich in
Buckles Auffassung der modernen Civilisation die Auslöschung der
Erheblichkeit der Staatsmännerrollen vertreten. Die rückläufige
Ansicht des ersteren feiert einen Crom well, einen Napoleon I und
verherrlicht schliesslich einen Friedrich II von Preussen mit der bi-
zarresten Personenanbetung. • Diesem Sonderling von Schriftsteller mit
seinem zwar leidenschaftlich angehauchten, aber trotzdem nichts
weniger als natürlichen Stil erscheinen die Massen als Piedestal, um
darauf die Götter der G